Eine sozialdemokratische Jahrhundertgestalt
Buchkritik
Wahrscheinlich gibt es nur wenige Bilder, die sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen so eindringlich erhalten haben wie jene Aufnahme, die am 7. Dezember 1970 in Warschau entstand. Sie zeigt Willy Brandt kniend vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Gettoaufstands von 1944. In seinem Bemühen, Ausgleich und Versöhnung auch mit dem Osten zu suchen, sehen denn auch viele Beobachter die eigentliche historische Leistung des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, dessen Todestag sich am 8. Oktober 2002 zum zehnten Mal jährte.
Rechtzeitig zu diesem Datum ist die bislang umfangreichste und wohl auch beste Biografie Brandts erschienen, glänzend geschrieben und sorgfältig recherchiert. Ihr Verfasser ist der Publizist Peter Merseburger, der dafür nicht nur die reiche wissenschaftliche Literatur ausgewertet und mit Freunden, Weggefährten und Zeitgenossen gesprochen, sondern auch den umfangreichen Nachlass im Willy-Brandt-Archiv eingesehen hat. Entstanden ist eine fast 1000 Seiten umfassende Lebensbeschreibung, die von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln vermag.
Beschrieben wird, wie aus dem unehelich geborenen Lübecker Proletarierkind Herbert Frahm der weltweit geachtete Staatsmann Willy Brandt wurde, eine Gestalt, die wie wenig andere Brüche und Neuanfänge der deutschen Geschichte verkörperte. Geprägt vom sozialdemokratischen Milieu seiner Heimatstadt, tritt der noch nicht Volljährige in die SPD ein, um dann Mitglied der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ zu werden. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigriert er im April 1933 nach Dänemark, später nach Norwegen; 1938 wird ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Auch den Erfahrungen des skandinavischen Exils schreibt sein Biograf einen prägenden Einfluss auf den jungen Brandt zu; im freien Klima der norwegischen und schwedischen Sozialdemokratie wurde aus dem dogmatischen Linkssozialisten ein pragmatischer, linker Sozialdemokrat.
Die Karriere des 1945 nach Deutschland Zurückgekehrten war beschwerlich; auch in seiner eigenen Partei wurde der heimgekehrte Emigrant keineswegs mit offenen Armen empfangen. Gefördert vom legendären Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter beginnt Brandts Aufstieg in der Berliner Politik, die ihn nach langen innerparteilichen Kämpfen an die Spitze der Berliner SPD, auf den Sessel des Präsidenten des Abgeordnetenhauses und schließlich ins Amt des Regierenden Bürgermeisters der Stadt führt. In den Jahren der Berlin-Krise und des Mauerbaus wird Brandt zur Symbolfigur für den Freiheits- und Überlebenswillen der Stadt, wandelt sich allmählich aber auch zum Vordenker einer Entspannungspolitik, die er nach 1966 als Außenminister in der von Kurt Georg Kiesinger geführten Großen Koalition umzusetzen beginnt. Am 21. Oktober 1969 schließlich, nachdem die Bundestagswahlen vom September 1969 SPD und FDP eine knappe Mehrheit beschert haben, wird Brandt vom Deutschen Bundestag zum vierten Kanzler der Bundesrepublik gewählt.
Seine Kanzlerschaft ist vor allem gekennzeichnet durch den Brückenschlag nach Osten; seine Vertragspolitik gegenüber der Sowjetunion und Polen machen die Bundesrepublik handlungsfähiger, mit ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen gewinnt sie an Gewicht, in der Deutschland-Politik und im schwierigen Verhältnis zur DDR sind Fortschritte zu verzeichnen. So wie vor ihm Konrad Adenauer den freien Teil Deutschlands mit dem Westen versöhnt hatte, öffnete Brandt den Weg nach Osten; hatte Adenauer die Bundesrepublik fest im Europa der Integration und der Atlantischen Allianz verankert, so streckte Brandt die Hand zur Versöhnung mit den Völkern Osteuropas aus. Im Oktober 1971 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, erringt der Kanzler bei den Bundestagswahlen 1972 einen grandiosen Sieg.
Seine zweite Amtszeit indes ist kurz, ihr Ende im Frühjahr 1974 von Legenden umrankt. Die Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume in seiner unmittelbaren Umgebung wird zum äußeren Anlass von Brandts Rücktritt im Mai 1974, dem ein spürbarer Zerfall von Ansehen und Autorität vorausgegangen war: Gegner, Neider und Konkurrenten, auch in der eigenen Partei – hier vor allem in Gestalt des mächtigen Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner – hatten ihm das Leben schwer gemacht.
Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens, von seinem Biografen als die „vierte Karriere“ beschrieben, zeigen Willy Brandt in einer Rolle, die ihm geradezu auf den Leib geschrieben schien – die des „elder statesman“, der als Präsident der Sozialistischen Internationale und Chef der Nord-Süd-Kommission beratend um die Welt reisen und wieder vermehrt seinen politischen Visionen nachgehen konnte. Nach 23 Jahren an der Spitze der SPD erklärte Brandt im Juni 1987 seinen Rücktritt vom Parteivorsitz.
Das Ende der deutschen Teilung zwei Jahre darauf erlebt er, in dessen Denken die Nation immer eine wichtige Rolle gespielt und der das Ziel der Einheit nie abgeschrieben hatte, auch als Bestätigung seiner Politik und kommentiert es mit den seither viel zitierten Worten, dass nunmehr zusammenwachse, was zusammengehöre. Als Brandt im Oktober 1992 starb, stand seine persönliche und politische Autorität beinahe über den Parteien; auch einstige Gegner zollten seiner politischen Leistung Anerkennung und Respekt. Deutschland ehrte den Verstorbenen mit einem Staatsakt im Berliner Reichstag und mit einem Staatsbegräbnis.
Internationale Politik 11, November 2002, S. 67 - 68.