Titelthema

29. Apr. 2024

Eine ruhende NATO 

Die mögliche Wiederwahl Donald Trumps hängt wie ein Damoklesschwert über dem Bündnis. An einer massiven Stärkung des europäischen Pfeilers führt kein Weg vorbei.

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Bild: Militärübung nahe der Danziger Bucht, April 2023.
Die stärkere Europäisierung der NATO ist auch für Demokraten Voraussetzung für ein fortgesetztes US-Engagement in Europa: Militärübung nahe der Danziger Bucht, April 2023.
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Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die NATO so relevant wie nie seit Ende des Kalten Krieges. Gleichzeitig hat die russische Invasion die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA und die militärische Verwundbarkeit der EU offengelegt. Auch wenn die Europäer jetzt mehr für die Verteidigung ausgeben, bleibt immer noch ein großer Nachhol­bedarf, nachdem über Dekaden hinweg zu wenig investiert wurde. Ohne die USA könnten sich die Europäer derzeit nicht verteidigen. 

Die Amerikaner stellen den Löwen­anteil der sogenannten „strategic enablers“, das heißt beispielsweise Aufklärung, Luftbetankung und Satellitenkommunikation. Sie können auf schnell einsatzbereite, kampffähige Streitkräfte mit umfangreichen Munitionsvorräten zurückgreifen, über die die meisten europäischen Staaten nicht verfügen. Angesichts von Putins atomaren Drohgebärden ist die amerikanische Nukleargarantie Europas Lebensversicherung und ein elementarer Bestandteil der Abschreckung. Der US-Verteidigungsexperte Max Bergmann bringt es auf den Punkt, wenn er in einem Papier für das Center for Strategic and International Studies schreibt, die NATO sei so organisiert, dass die europäischen Streitkräfte im Wesentlichen an einen von den USA geführten Operationsplan angedockt seien. 

Doch es geht nicht nur um militärische Überlegenheit. Die USA sind auch die unangefochtene politische Führungsmacht. Keine europäische Hauptstadt vermag es so wie Washington, die Europäer zusammenzubringen. Mehr als dankbar hat man in Europa hingenommen, dass die Vereinigten Staaten bei der Reaktion auf Russlands Krieg wie während des Kalten Krieges die Führung übernahmen und enorme Ressourcen zur Verfügung stellten. 

Dabei haben viele in Europa ausgeblendet, dass der Krieg zwei grundsätzliche Trends in den USA nicht verändert hat – die Re-Fokussierung der amerikanischen Außenpolitik auf Asien und die tiefe innere Spaltung in der Frage, ob die Verteidigung Europas weiterhin ein vitales nationales Interesse der USA ist. Doch die bereits seit Jahresbeginn ausbleibenden US-Hilfen zur ­Unterstützung der Ukraine und die Aussicht, dass die USA gänzlich ausfallen könnten, haben die Europäer aufgeschreckt. Je näher die Präsidentschaftswahl im November rückt, desto bedrohlicher hängt die Aussicht auf einen erneuten Sieg Donald Trumps wie ein Damoklesschwert über dem trans­atlantischen Bündnis. 


Keine leere Drohung

Trumps Äußerung, er würde Russland ermutigen, mit jedem NATO-Land, das nicht genug zahlt, „zu tun, was immer es will“, ist keine leere Drohung. Sie ist ein Versprechen an Trumps „Make America Great Again“-Fraktion und an das stetig wachsende Lager derjenigen Republikaner, die eine eher isolationistische Außenpolitik befürworten. Zwar könnte Trump die NATO nur nach Zustimmung beider Kongresskammern oder mit einer Zwei­drittelmehrheit im Senat verlassen. Doch auch ohne einen formalen Austritt sind die NATO-Pläne, die in Trump-nahen konservativen Denkfabriken entworfen werden, für die Europäer folgenreich.

Bekannt geworden ist insbesondere ein Papier von Sumantra Maitra, Direktor für Forschung und Öffentlichkeitsarbeit am American Ideas Institute, in dem er den USA rät, sich von Europa abzuwenden und das Konzept einer „dormant NATO“ propagiert – einer ruhiggestellten NATO, in der die USA allenfalls als „stiller“ Teilhaber agieren. Wie viele im MAGA-Lager findet auch Maitra, die Unterstützung der Ukraine sei kein vitales nationales Interesse und die hohen Kosten seien nicht gerechtfertigt, da Russland „keine hegemoniale Bedrohung in Europa“ mehr sei. Er fordert stattdessen, es sei für die USA „höchste Zeit, den [europäischen] Kontinent als nationale Sicherheitspriorität aufzugeben“.

US-Truppen sollten nicht mehr Rückgrat der Vorwärtsverteidigung sein, sondern letztes Mittel

Die institutionelle Entwicklung der NATO seit Ende des Kalten Krieges sieht Maitra kritisch. Er beklagt ihre Osterwei­terung und ihre „supranationale Bürokratisierung“ im Namen von Demokratieförderung. Vor allem argumentiert er, dass die Europäer sich nie zu einem stärkeren sicherheitspolitischen Engagement in Europa aufraffen würden, solange die USA weiterhin den Hauptanteil der Lasten trügen. Deshalb will Maitra den Europäern quasi die Pistole auf die Brust setzen. Es geht ihm letztendlich um den Aufbau einer nicht US-zentrierten europäischen ­Sicherheitsarchitektur, bei der US-Truppen nicht mehr das Rückgrat der Vorwärtsverteidigung an der NATO-Ostflanke bilden, sondern nur noch als letztes Mittel zur Verfügung stehen. 

Sein Ziel ist zwar nicht der vollständige amerikanische Abzug aus Europa. Der nukleare Schutzschirm und eine sehr begrenzte US-Marine- und Luftverteidigungspräsenz sollen bestehen bleiben. Allerdings soll die NATO keine weitere territoriale Ausdehnung anstreben, sich auf ihre absoluten Kernaufgaben beschränken und nur solche Organisationsstrukturen aufrechterhalten, die im Falle eines größeren Krieges benötigt und aktiviert würden. Die Europäer sollen die konventionelle Abschreckung russischer Aggres­sion ohne die Vereinigten Staaten stemmen. Statt die Lasten gleichmäßiger zwischen den USA und Europa zu verteilen, will Maitra amerikanische Lasten vollständig an die Europäer abgeben: „burden-shifting“ statt „burden-sharing“. 

Ähnliche Gedanken finden sich im „Project 2025“ der Heritage Foundation und in anderen Publikationen, die die Außenpolitik einer von Trump geführten ­Regierung vorzeichnen wollen. Das Konzept des „burden-shifting“ wird dabei nicht nur von denjenigen befürwortet, die ein größeres militärisches Engagement Amerikas grundsätzlich skeptisch sehen, sondern auch von den sogenannten „Prioritizers“, die alle Energie in die Bewältigung der von China ausgehenden Herausforderung stecken wollen. Bereits 2020 schrieb der Vordenker dieses Lagers, Elbridge Colby, in der IP: „Die US-Streitkräfte würden gerade im Konfliktfall immer noch eine zentrale Rolle spielen, aber nur in dem Maße, wie dies nicht die amerikanische Verteidigung in Asien schwächen würde. Der Löwenanteil der Kräfte, die gebraucht würden, um einen russischen Angriff auf die NATO abzuwehren oder abzuschrecken, würde von Europa gestellt werden.“

Druck kommt auch von den amerikanischen Wählerinnen und Wählern. Viele könnten schlicht nicht verstehen, warum ihre Steuergelder und Soldaten benötigt werden, um einen wohlhabenden Kontinent zu verteidigen, dessen Gesamtbevölkerung die der USA weit übersteigt.

Die Europäer sollten sich deshalb keine Illusionen machen. Auch wenn Joe Biden die Wahl gewinnen sollte, wird dies den Europäern allenfalls mehr Zeit für die notwendigen Anpassungsprozesse geben, sie aber nicht von der grundsätzlichen Notwendigkeit einer stärkeren Europäisierung der NATO befreien. Denn diese treibt nicht nur Republikaner um, sondern wird auch unter Demokraten gefordert, die der NATO grundsätzlich positiv gegenüberstehen – und zwar als Voraussetzung für ein fortgesetztes amerikanisches ­Engagement. 

Die Europäer müssen sich dieser Tatsache stellen – und in den Aufbau eines starken europäischen NATO-Pfeilers investieren, wenn sie wollen, dass die Allianz einen amerikanischen (Teil-)Rückzug überlebt. Dabei geht es in erster Linie um den Aufbau militärischer Fähigkeiten. Tatsächlich ist Europa weiter hinter die USA zurückgefallen, deren militärische Fähigkeiten bei allem europäischen Gerede über „strategische Autonomie“ viel stärker als die Europas gewachsen sind. Wie ­Jeremy Shapiro und ich 2023 in einer Analyse für den European Council on Foreign Relations geschrieben haben, stiegen die Militärausgaben der USA zwischen 2008 und 2021 von 656 auf 801 Milliarden Dollar. Im gleichen Zeitraum erhöhten sich die Ausgaben der 27 EU-Staaten und Großbritanniens lediglich von 303 auf 325 Milliarden Dollar. Schlimmer noch: Die Ausgaben der USA für neue Verteidigungstechnologien sind immer noch mehr als sieben Mal so hoch wie die aller EU-Mitgliedstaaten zusammen. 

Zudem bedeutet die Fragmentierung der europäischen Verteidigungslandschaft, dass die Zahlen den europäischen Beitrag wahrscheinlich überbewerten. Die Europäer arbeiten bei der Verwendung ihres relativ kleinen Budgets kaum zusammen: Es bleibt also ineffizient. EU-Initiativen, die als Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine entstanden sind – wie EDIRPA zur Stärkung der Europäischen Verteidigungsindustrie durch Gemeinsame Beschaffung oder ASAP zur Förderung der Munitionsproduktion – leiden unter fehlender Unterstützung seitens der ­Mitgliedstaaten. 


Europäische Lösungen

Da europäische Fähigkeiten oft nicht rechtzeitig verfügbar sind, aber Lücken schnell geschlossen werden müssen, greifen viele europäische Staaten auf Lösungen außerhalb Europas zurück, was die Abhängigkeit von Drittstaaten erhöht und die eigene verteidigungsindustrielle Basis in Europa schwächt. Zahlen vom September 2023 zeigen, dass 78 Prozent der finanziellen Mittel der EU-Länder für den Zeitraum 2022 bis 2023 für Beschaffungen außerhalb der EU ausgegeben werden.

Zu einem handlungsfähigeren und autonomeren Europa gehört aber zwingend eine starke, innovative und wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie, deren ­Expertise in den strategischen Technologien der Zukunft der anderer Großmächte ebenbürtig ist. Das bedeutet keine Schwächung, sondern langfristig eine Stärkung des transatlantischen Verhältnisses. 

Der wichtigste Beitrag, den die EU zu einer stärker europäisierten NATO leisten kann, besteht darin, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, mehr und intelligenter in ihre Verteidigungsfähigkeiten und in innovative Technologien zu investieren. Mehr Geld ist zwar nicht die alleinige Lösung, denn ohne die Neugestaltung bestehender Strukturen und Prozesse wird europäische Rüstungskooperation weder innovativer noch effektiver. Doch ohne eine nachhaltige Finanzierung fehlen die Anreize für die gemeinsame Entwicklung und Beschaffung. 

Die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, haben in diesem Sinne Anfang März 2024 die erste, sehr ambitionierte Strategie für die Verteidigungsindustrie auf EU-Ebene vorgelegt (EDIS), kombiniert mit einem ersten Legislativvorschlag zur Umsetzung dieser Strategie (EDIP). Doch auch wenn das Ziel innerhalb der EU breit geteilt wird, stehen viele Mitgliedstaaten einer so beträchtlichen Ausweitung von Kompetenzen der Kommission skeptisch gegenüber. Diese muss überwunden werden. Hauptziel sollte sein, im Rahmen der EU gemeinsame militärische Fähigkeiten zu entwickeln und zu beschaffen, die auch das Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv der NATO stärken können.

Außerdem wird es darum gehen, die Unterstützung der Ukraine langfristig ohne die USA zu organisieren und die Vorneverteidigung an der Ostflanke stärker durch europäische Truppen zu gewährleisten. Die permanente Stationierung ­einer deutschen Kampfbrigade in Litauen ist daher das richtige Signal.                   

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 32-35

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Dr. Jana Puglierin ist Senior Policy Fellow und Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR).

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