Eine Lok und viele Bremser
Deutschlands Beitrag zur Schaffung einer europäischen Energieinfrastruktur: BDEW-Chefin Hildegard Müller im Gespräch
Berlins energiepolitischer „Sonderweg“ wird in Europa kritisch beäugt. Ist das Projekt eines integrierten Energienetzes ernsthaft in Gefahr? Nein, meint Hildegard Müller vom Bundesverband Energiewirtschaft. Als Vorreiter in Sachen Marktliberalisierung und Klimaschutz kann Deutschland eine entscheidende Rolle dabei spielen, die europäische Energiewende voranzutreiben.
IP: Frau Müller, mit dem Konzept „Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020“ hat die EU-Kommission Ende des vergangenen Jahres den Fahrplan für ein integriertes europäisches Energienetz vorgelegt. Wer wird davon profitieren, wem könnte er schaden? Wer sind die Treiber, wer die Bremser?
Müller: Zunächst einmal kann eine tiefer gehende europäische Integration nur von Nutzen sein. Wir haben in Europa enorme Potenziale, die wir im Zusammenspiel der Länder viel besser nutzen können. Darum wird dieser Integrationsprozess von uns sehr unterstützt. Gerade in Sachen Marktkoppelung sind wir weit vorangekommen. Im vergangenen November ist ein Marktkopplungsprozess unter Beteiligung verschiedener europäischer Länder gestartet worden, den wir mit der „Market Parties Platform“ gefördert haben. Leider kommt der europäische Binnenmarkt nicht so voran, wie wir das wollen. In den meisten Ländern gibt es noch massive staatliche Eingriffe, viele Staatsunternehmen, viele regulierte Endkundenpreise und zuviel staatlichen Einfluss auf Infrastrukturvorhaben.
IP: Wo hakt es besonders?
Müller: Ich glaube, es fehlt am Verständnis dafür, dass Energiepolitik ein Instrument des Binnenmarkts sein sollte, kein Instrument zur Unterstützung einer nationalen Industriepolitik. Nehmen wir die Klimapolitik: Wir bemühen uns ja in Deutschland – mit Recht – sehr, die Klimaschutzziele zu erfüllen. Ich finde es bedauerlich, dass unsere Industrie dadurch schon im europäischen Umfeld gegenüber anderen Ländern, die sich da nicht ganz so große Mühe geben, benachteiligt ist. Die Folge ist, dass viele Unternehmen mir mittlerweile sagen: Für uns sind die Energiepreise das, was die Arbeitskosten in den Achtzigern waren: der entscheidende Faktor bei Standortentscheidungen.
IP: Was erwarten Sie denn von den anderen Europäern?
Müller: Der deutsche Markt ist einer der wettbewerbsorientiertesten, die es gibt. Jeder Kunde hat im Gas- und im Strombereich die Wahl zwischen vielen verschiedenen Anbietern. Es gibt auch keine Zulassungsbeschränkungen für ausländische Unternehmen. Das ist Europapolitik par excellence. In anderen Ländern ist das nicht so. Und wenn es hart auf hart kommt, wenn Fusionen oder Kooperationen zwischen Unternehmen anstehen, dann kommt man oft zum Schluss, dass man die Energieversorgung doch lieber nicht für ausländische Unternehmen öffnen möchte. Ich würde mir wünschen, dass der Wettbewerbskommissar, der bei Deutschland zu Recht immer ganz genau hinschaut, das auch in anderen Ländern tut. Da wird man Anpassungspfade einräumen müssen, aber mancher Anpassungspfad ist mir schlicht und ergreifend zu lang.
IP: Sehen Sie große Bereitschaft, aufeinander zuzugehen? Derzeit scheint doch eher Verstimmung über den eiligen deutschen Atomausstieg zu herrschen …
Müller: Natürlich ist das im europäischen Vergleich ein Sonderweg, oder doch: fast ein Sonderweg, wenn man sich die Entscheidungen in Italien und der Schweiz anschaut. Nur: Der Strom kennt keine Grenzen. Wir müssen also diesen „deutschen Weg“ mit dem Binnenmarkt, mit dem freien Wettbewerb überhaupt kompatibel machen. Wenn wir im Jahr 2050 unseren Energiebedarf zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien decken wollen, muss das nach den Gesetzen des Marktes funktionieren und kann nicht auf Dauer auf Subventionsbasis oder mit einem Instrument wie dem Erneuerbare-Energien-Gesetz laufen. Wir müssen die europäische Versorgungssicherheit im Blick haben, aber auch eine gerechte Lastenverteilung bei den Maßnahmen zur Erreichung von Klimaschutzzielen. Da sind noch viele Fragen offen, auf nationaler wie auf europäischer Ebene.
IP: Eine der entscheidenden Fragen wird die nach Speicherung und Transport sein. Tun wir da genug?
Müller: Ich halte das neue Energieforschungsprogramm der Bundesregierung für einen wichtigen Schritt. Doch wenn man sich die Ausbauszenarien der erneuerbaren Energien anschaut, stellt man fest, dass wir noch viel mehr in Forschung und Entwicklung investieren müssen, um bei der Erforschung von neuen Speicherungsmethoden und beim Ausbau der Netze entscheidend voranzukommen. Ideen gibt es genug: Strom in Erdgas umwandeln und es dann in die Netze einspeichern, Biomasse fördern, weil die rund um die Uhr zur Verfügung steht, und vieles mehr. Das Thema Speicherforschung wird uns weiter begleiten und immer wichtiger werden, je mehr flukturierende erneuerbare Energien wir nutzen wollen.
IP: Da wäre wohl der Staat gefragt. Wer ist denn ansonsten beim Thema Investitionen gefordert?
Müller: Investitionen werden dann getätigt, wenn sie sich aufgrund ihrer Rendite lohnen. Ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass der Staat – außer in Sektoren wie Forschung oder Entwicklung – die Aufgaben von Unternehmen übernimmt. Der Staat muss die Rahmenbedingungen so setzen, dass es sich lohnt zu investieren, etwa durch die Anreizregelung bei den Verteilnetzen. Das ist auch auf europäischer Ebene ein wichtiges Thema. Auch dort brauchen wir ja erhebliche Investitionen, um den nötigen Netzausbau hinzubekommen. Wir sollten Unternehmen in die Lage versetzen, diese Aufgabe zu übernehmen, indem wir ihnen Renditen ermöglichen, die am Kapitalmarkt attraktiv sind. Wenn Sie auf Dauer mit dem, was Sie bauen möchten oder sollen, kein Geld verdienen, werden Sie niemanden finden, der das finanziert.
IP: Sehen Sie uns da in Deutschland schon auf dem richtigen Weg?
Müller: Ich glaube, wir liegen relativ weit vorne. Wir greifen zurzeit natürlich durch die Setzung von politischen Rahmenbedingungen sehr stark administrativ ein – etwa durch die strikten Zielvorgaben für den Ausstieg aus der Kernenergie oder die CO2-Reduktion. Was wir noch brauchen, sind eindeutige Signale für die Regulierung gerade im Netzausbau. Wir schauen ja immer so gerne auf die großen Stromautobahnen, die Nord-Süd-Trassen. Das ist richtig und wichtig. Wenn man sich aber die Verteilnetze anschaut, die dezentralen Netze, dann kommt man ebenfalls auf einen erheblichen Ausbaubedarf von bis zu 27 Milliarden Euro, abhängig von der Frage, wie schnell es jetzt zum Beispiel mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien weitergeht. Das funktioniert nur mit Hilfe von privatem Kapital. Uns fehlen im Energiewirtschaftsgesetz oder im Netzausbaubeschleunigungsgesetz noch etliche entscheidende Punkte.
IP: Das Ganze steht und fällt mit der Akzeptanz in der Bevölkerung. Die mag Wind- und Solarenergie, aber keine Anlagen oder Fernleitungen im eigenen Hinterhof. Wie ist dem beizukommen?
Müller: Ich glaube, in Deutschland hat man da schon eine besondere Sensibilität entwickelt. Das hat zweifelsohne damit zu tun, dass wir schon sehr weit sind mit dem Ausbau der Erneuerbaren. Im Umfeld von Kraftwerkstandorten gab es solche Diskussinen schon immer, aber jetzt, wo die Energie bei uns immer sichtbarer wird, nimmt der Grad der persönlichen Betroffenheit zu. Und dann haben wir in Deutschland ein Wohlstandsniveau erreicht, das uns manche Infrastrukturmaßnahmen kritischer überprüfen lässt, nach dem Motto „Brauchen wir das überhaupt noch für mehr Wachstum?“ Das halte ich für eine Diskussion der achtziger Jahre. Wenn ich mir die demografische Entwicklung in unserem Land und den langen Zeitraum bis 2050 anschaue, den wir gestalten müssen, dann brauchen wir Wirtschaftswachstum, um diesen Umbau zu bewältigen. Wir werden uns nicht nur finanziell anstrengen müssen, wir werden auch neue Konflikte zwischen Klimaschutz und Naturschutz bekommen. Auch darüber müssen wir intensive Diskussionen führen.
IP: Wie intensiv wird diese Debatte in anderen europäischen Ländern geführt?
Müller: Als ein Land, das schon weit ist mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, sehen wir da wohl manche Probleme voraus, die andere europäische Länder auch bekommen werden. Noch betrachtet man da manches entspannter. Für die Osteuropäer etwa ist wirtschaftlicher Fortschritt existenziell notwendig, damit sich ihr Wirtschaftsniveau dem anderer Länder annähert. Es gibt dort einen geringeren Widerstand gegen Bauvorhaben, weil man den Nutzen für das Bruttosozialprodukt sieht. Diese Länder sind noch stärker als wir bereit, sich kollektiv anzustrengen.
IP: Sie haben vom Sonderweg gesprochen, den Deutschland mit der Energiewende beschreitet. Scheitert sie, könnte sie dann auch für Europa scheitern?
Müller: Erst einmal halte ich es nach wie vor für richtig, Vorreiter auf diesem Sektor zu sein. Deutschland hat gute Erfahrungen damit gemacht, hat viele Potenziale für neue Wirtschaftszweige entdeckt, etwa für Anlagenbau oder Photovoltaik. Aber dann darf man nicht nachlassen. Drei Viertel der Solarpanelproduktion kommen inzwischen nicht mehr aus Deutschland! Innovation und Forschung bleiben wichtig. Und von unseren europäischen Partnerverbänden oder Unternehmen hören wir schon die bange Frage: Wird das gelingen, was ihr da in Deutschland macht? Ich nenne das immer eine Operation am offenen Herzen eines Industrielands. Und deshalb darf der Abstand zu den anderen Ländern nie zu groß werden. Gerade beim Klimaschutz muss man sich dafür einsetzen, ihn auch konsequent europäisch nachzuvollziehen. Nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus wettbewerblichen Gründen, weil wir sonst die deutsche Wirtschaft ins Abseits stellen.
IP: Auf vielen Ebenen ist in Europa eine Verunsicherung zu spüren, was Deutschlands derzeitigen Kurs betrifft. Ist das auch in der Energiepolitik zu spüren?
Müller: Wenn Europa von Deutschland eine besondere Rolle aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke erwartet, dann wird man auch akzeptieren müssen, wenn bestimmte Dinge hier politisch auf eine bestimmte Art und Weise entschieden werden. Gleichzeitig kann man erwarten, dass sich auch andere Länder glaubhaft bemühen. Und deshalb fand ich es richtig, in der Euro-Krise zur Einhaltung der Stabilität zu mahnen. Und ich finde es auch richtig, dass wir andere Länder dazu auffordern, in der Energiepolitik in Richtung erneuerbare Energien weiterzukommen. Das darf aber nie schulmeisterlich wirken. Wir teilen alle in Europa das Ziel, die CO2-Emissionen zu verringern, und die meisten Länder wissen, dass sie sich stärker anstrengen müssen. Aber in manchen Ländern sind die Menschen vielleicht noch nicht so weit oder die finanziellen Voraussetzungen stimmen noch nicht. Es war schon immer ein Markenzeichen deutscher Politik, bei diesen Anpassungsprozessen zu helfen. Was man national tut, muss man europäisch erklären – wenn möglich, bevor so mancher Beschluss gefällt wird.
IP: Gibt es derzeit in Europa ein Knirschen im Gebälk?
Müller: Ich würde sagen, wir befinden uns in einem außerordentlich interessanten europäischen Spannungsfeld. Für mich ist wichtig, dass die Reaktion darauf nicht in einem Rückfall in den Nationalstaat besteht. Gegenwärtig sehen wir, wie schmal der Grat ist. Deshalb bin ich nach wie vor eine Verfechterin einer weitergehenden europäischen Integration. Und die Energiepolitik ist einer der Leitmärkte für alles, was da ansteht.
IP: Muten wir den europäischen Partnern nicht eine zu große Aufgabe zu?
Müller: Man kann ja auch aus den deutschen Erfahrungen lernen. Beim Erneuerbare-Energien-Gesetz etwa haben wir ja eine ganz schöne Strecke und jede Menge Anpassungspfade hinter uns. Und warum sollten wir nicht ein europäisches Erneuerbare-Energien-Gesetz ins Auge fassen? Das brächte enorme Synergien mit sich, wenn wir Sonnenenergie in Spanien fördern oder Windenergie in Nordeuropa und an den Küsten. Dadurch ließen sich erhebliche Milliardenbeträge sparen. Hier gibt es eine Menge an europäischen Möglichkeiten, die sich nicht als Belastung erweisen werden, sondern als belebende Elemente für die wirtschaftliche Entwicklung. Wenn die anderen Länder ihre Märkte öffnen und in grüne Technologien investieren, wird sich das für sie durch Entlastungen in anderen Bereichen auszahlen. Ich glaube nicht, dass der deutsche Weg des Kernenergieausstiegs in vielen europäischen Ländern jetzt und gleich umgesetzt werden kann. Wir können das europäisch anmahnen, weil die Folgen eines Reaktorunglücks nicht an deutschen Grenzen halt machen. Aber das heißt dann auch immer, den Ländern Anpassungspfade aufzuzeigen, sie zu unterstützen und zu akzeptieren, dass die gesellschaftliche Bewertung in Deutschland eine andere sein könnte als in anderen europäischen Ländern.
IP: Wird man Deutschland nicht dann erst als leitbildgebend akzeptieren, wenn es die Energiewende schafft?
Müller: Europa kann sich nicht zehn Jahre zurücklehnen und schauen, ob das in Deutschland gelingt. Das wären verlorene Jahre. Die Kraft des Binnenmarkts hat bisher zu erheblichen Fortschritten geführt, durch die Koppelstellen, durch die Nutzung intelligenter Netze und vieles mehr. Es ist eher Zeit, dass andere Länder die Ziele, die man sich auf europäischer Ebene steckt, auch zuhause in Angriff nehmen.
Das Interview führten Joachim Staron und Sylke Tempel.
HILDEGARD MÜLLER ist seit Oktober 2008 Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Von 2005 bis 2008 war sie Staatsministerin im Bundeskanzleramt und von 1998 bis 2002 Bundesvorsitzende der Jungen Union.
Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 30-34