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31. Dez. 2010

Eine griechische Tragödie

Europa stößt im Umgang mit irregulären Migranten an seine Grenzen

Für die meisten irregulären Migranten ist Griechenland das Tor zu Europa: Aber es ist ein Tor zur Hölle. Längst schon spricht das UN-Flüchtlingshilfswerk von einer humanitären Krise, doch die Instrumente der EU-Flüchtlingspolitik sind mehr als dürftig. Könnte ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union Abhilfe schaffen?

In Griechenland spielt sich derzeit eine humanitäre Tragödie solch großen Ausmaßes ab, dass die Frage nach der Zukunft einer verantwortlichen Strategie der Europäischen Union im Umgang mit irregulären (illegalen) Migranten notwendig wird. Im Herbst 2010 erreichte die Zahl der irregulär über die nordöstliche Grenze Griechenlands Eingereisten ihren einstweiligen Höhepunkt: Täglich überquerten bis zu 350 Menschen den Fluss Evros an der Grenze zur Türkei. Bis zum Spätsommer 2010 zählte man seit Jahresbeginn allein im Evros-Gebiet rund 34 000 Irreguläre, insgesamt meldeten die griechischen Behörden für das erste Halbjahr 2010 45 000 illegale Grenzübertritte.

Griechenland liegt auf den Hauptschlepperrouten, über die Flüchtlinge nach Europa gelangen: 90 Prozent der irregulären Einwanderer, deren Grenzübertritt bemerkt wird, betreten hier erstmals europäischen Boden – sei es über den Landweg im Nordosten oder über den Seeweg.1 Viele Flüchtlinge bezahlen den Versuch der Einwanderung nach Europa mit dem Leben – sie ertrinken oder werden von Landminen zerfetzt. Wer es schafft, den erwarten unbeschreibliche Verhältnisse in Lagerhaft, der muss mit Obdachlosigkeit und Ausschreitungen der Bevölkerung rechnen und lebt in einem scheinbar rechtsfreien Niemandsland. Die Lager sind hoffnungslos überfüllt.2 Viele Menschen werden hier bis zu einem Jahr festgehalten. Es fehlt an sanitären Einrichtungen, ärztlicher und psychologischer Betreuung, Dolmetschern, Rechtsberatern.

Der Schritt aus dem Lager führt vom Regen in die Traufe. Ganze Stadtviertel Athens sind von obdachlosen Flüchtlingen, auch jungen Familien mit Babys und Kleinkindern, besiedelt. Häufig kommt es zu schweren Ausschreitungen Athener Anwohner, die „ihre“ Viertel besetzt sehen.

Wer einmal als irregulärer Einwanderer den Fuß auf griechischen Boden gesetzt hat, befindet sich in einer Falle. Aufgrund der so genannten Dublin-II-Verordnung ist ihm der Weg in andere EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich versperrt. Er muss in Griechenland Asyl beantragen. Das griechische Asylverfahrenssystem aber ist völlig unzureichend. Die Behörden kämpfen mit einem Rückstau von rund 50 000 Asylanträgen. Die Anerkennungsquote als Asylberechtigter oder aus humanitären Gründen lag 2009 in erster Instanz bei 0,4 Prozent.3 Das ist weit unter dem EU-Durchschnitt.

Ein Konzept, eine Perspektive gibt es für diese Menschen nicht, auch nicht für die „unbegleiteten Minderjährigen“. Monatelang müssen sie auf den Fortgang ihres Verfahrens warten – Monate, in denen sie kaum Zuspruch und Kontakt zur Außenwelt erfahren, in denen es an Dolmetschern, Sozialarbeitern, Kleidung und geistiger Betätigung fehlt. Viele von ihnen verlieren die Hoffnung und verschwinden auf eigene Faust. Wohin sie weiterziehen, ob sie überhaupt ankommen und wenn ja, in welchem Zustand, weiß niemand.

Es ist eine Tragödie sondergleichen, die sich auf europäischem Boden abspielt. Sie ist auch als solche vom UNHCR beim Namen genannt worden, das im Sommer 2010 von einer „humanitären Krise“ in Griechenland sprach.4 Dennoch passiert kaum etwas. Der von der Finanzkrise schwer gebeutelte griechische Staat ist weder organisatorisch noch finanziell in der Lage, ein Problem dieses Ausmaßes zu bewältigen.

Ein europäisches Problem

Das Kernproblem aber ist ein europäisches, kein griechisches. Denn die hohe Konzentration der Flüchtlinge in Griechenland ist nicht nur der geografischen Lage, sondern insbesondere auch den Instrumenten geschuldet, welcher sich die EU und ihre Mitgliedstaaten im Umgang mit irregulären Migranten bedienen. Hierzu gehören zum einen legislative Maßnahmen der EU wie die Dublin-II-Verordnung, zum anderen so genannte Readmission Agreements (Rückführungsabkommen) der EU und/oder ihrer Mitgliedstaaten.

Die Dublin-II-Verordnung aus dem Jahr 20035 regelt, welcher EU-Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Dies ist grundsätzlich der Staat, in dem ein Asylsuchender erstmals den Boden der EU betreten hat. Hierfür kommt in erster Linie ein EU-Grenzstaat wie Griechenland, aber auch Spanien, Italien, Malta etc. in Betracht. Dublin II aber wird den Gegebenheiten unter mehreren Gesichtspunkten nicht mehr gerecht.

Zunächst erweisen sich die verschiedenen finanziellen Solidaritätsmechanismen zur Lastenteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedern – darunter der European Refugee Fund, der External Borders Fund und der European Return Fund – in der Praxis als unzureichend, um einer massiven Flüchtlingskonzentration wie in Griechenland gerecht zu werden. Obendrein profitieren auch immer weniger andere EU-Staaten im Falle von Migranten, die über Griechenland eingereist sind, von der Verordnung: In zahlreichen Fällen haben nationale Gerichte6 die Abschiebung Asylsuchender nach Griechenland aufgrund der dortigen dramatischen Lage für Flüchtlinge zumindest ausgesetzt oder ganz untersagt.

Daneben gibt es zahlreiche Rückführungsvereinbarungen, die teils auf bilateraler Ebene zwischen EU-Staaten und Drittländern oder von der EU selbst mit Nicht-EU-Staaten geschlossen werden. Diese Abkommen sehen sich wegen ihres asymmetrischen Charakters und ihrer Intransparenz der Kritik u.a. zahlreicher Menschenrechtsorganisationen ausgesetzt. In der Praxis hängt der Erfolg solcher Vereinbarungen aber in vielen Fällen davon ab, ob der für die Transit- oder Herkunftsländer gefundene Interessenausgleich ausreichend ist, um die Vereinbarung umzusetzen bzw. ob die andernfalls zu befürchtenden negativen Folgen eine entsprechende Motivation hierfür geben.

Transitland Türkei

Gerade im Zusammenhang mit Rückführungsabkommen gewinnt die Türkei an Bedeutung: Die verstärkten Kontrollen im Mittelmeerraum haben zu einer Verlagerung der Flüchtlingsströme weg von Lampedusa und Malta und hin zu Griechenland geführt. Neben Flüchtlingen aus Afghanistan, Pakistan und dem Irak kommen zahlreiche Menschen aus Afrika (insbesondere Somalia) über das Transitland Türkei nach Griechenland. Damit rückt die Türkei einmal mehr in den Fokus europäischer Politik – zunächst als wichtiger Partner für EU-Strategien im Umgang mit irregulären Einwanderern. Mit Blick auf den Status der Türkei als mögliches EU-Mitglied könnte dies sogar zu einem Schlüsselfaktor werden. Entsprechend konzentrieren sich die europäischen Strategien auf zwei Instrumente, um die Türkei einzubinden.

Erstens haben sowohl Griechenland als auch die EU ein starkes Interesse am Abschluss von Rückführungsabkommen mit der Türkei: Griechenland hat bereits 2001 ein solches Abkommen mit der Türkei unterzeichnet, das jedoch nicht in die Praxis umgesetzt wurde. Auch die EU befindet sich derzeit in Verhandlungen über ein Rückführungsabkommen, die jedoch ins Stocken geraten sind. Hintergrund dieser mageren Verhandlungsergebnisse dürfte in beiden Fällen die asymmetrische Natur von Readmission Agreements sein, die sich regelmäßig aus der unterschiedlichen Interessenlage und Motivation für den Abschluss solcher Abkommen ergibt. Naturgemäß haben traditionelle Zielländer irregulärer Einwanderung meist ein größeres Interesse an der Rückführung, als dies bei traditionellen Herkunfts- oder Transitländern der Fall ist; ein Interessenausgleich kann daher in erster Linie durch eine überzeugende (finanzielle) Lastenteilung oder andere vorteilhafte Perspektiven für die jeweiligen außereuropäischen Vertragspartner gefunden werden.

Offenbar hat die Türkei bisher in beiden Fällen keinen ausreichenden Vorteil für sich gesehen. Speziell Griechenland hat der Türkei wiederholt vorgeworfen, die Rückführungsvereinbarung nicht umzusetzen, während die Türkei Griechenland umgekehrt eine Umgehung der Verfahrenswege vorhielt. Der Hintergrund für die mangelnde Kooperation in der Sache ist neben dem traditionell spannungsgeladenen Verhältnis beider Staaten aber auch in zwei ganz pragmatischen Gründen zu suchen, namentlich im Fehlen einer umfassenden Datenbank wie zum Beispiel EURODAC, auf deren Grundlage die beiden Staaten ihre Informationen bezüglich Asylsuchenden austauschen könnten, und in den Schwächen des finanziellen Lastenteilungsmechanismus.7 Zwischenzeitlich dürften aber sowohl das nachdrückliche Interesse der EU als auch das Tauwetter in den griechisch-türkischen Beziehungen zur Wiederaufnahme der Gespräche für eine wirksamere Umsetzung der bilateralen Vereinbarung im Frühjahr 2010 geführt haben. Ob das zu einem praktischen Erfolg führt, bleibt abzuwarten.

So groß das Interesse der EU an einem Rückführungsabkommen mit der Türkei ist, so nachvollziehbar ist umgekehrt die zögerliche Haltung des EU-Beitrittskandidaten: Berücksichtigt man, dass die Türkei im Falle des Abschlusses einer solchen Vereinbarung verpflichtet wäre, alle irregulär Eingewanderten, die aus oder über die Türkei dorthin gelangt sind, zurückzunehmen, erahnt man das Ausmaß des zu erwartenden Flüchtlingsproblems für das Land. Dies gilt umso mehr, als ein entsprechendes Abkommen kein Burden-Sharing-System vorsähe, das mit den EU-internen Solidaritätsmechanismen vergleichbar wäre.

Hieran knüpft aus türkischer Sicht die Überlegung an, dass die Türkei de facto zum Zielland für Asylsuchende werden könnte, die von EU-Mitgliedstaaten abgewiesen wurden, was wiederum ihre Attraktivität als EU-Beitrittskandidat nicht gerade erhöht.8 Entsprechend stockend sind die bereits 2005 eröffneten Verhandlungen über ein Readmission Agreement zwischen der Union und der Türkei vorangekommen. Ihr Ausgang wird wesentlich von zwei Fragen abhängen: ob ein angemessener und umsichtiger Interessenausgleich gefunden werden kann und wie die Chancen auf einen EU-Beitritt erhalten werden können, wenn die Türkei mit massiven Flüchtlingsströmen konfrontiert ist.

Die Türkei hat frühzeitig ihre Lektion gelernt und damit begonnen, ihrerseits Rückführungsabkommen abzuschließen. Mit Griechenland, der Ukraine, Syrien, Kirgistan und Rumänien bestehen bereits derartige Vereinbarungen. Weitere Abkommen mit Russland, Usbekistan, Weißrussland, Ungarn, Mazedonien, Libanon, Ägypten, Libyen und dem Iran befinden sich im Verhandlungsstadium und Gespräche mit zahlreichen weiteren Herkunfts- und Transitländern wurden anberaumt.9

Aus türkischer Sicht ist die Beitrittsperspektive mit Blick auf die geltenden Lastenverschiebungen im Bereich der irregulären Einwanderung innerhalb der Union ein zweischneidiges Schwert. Als EU-Mitglied riskiert die Türkei eine deutliche Verschärfung der bereits angespannten Flüchtlingssituation im eigenen Land, träte sie doch an die Stelle Griechenlands als östlichster Mitgliedstaat an den Außengrenzen der Union. Andererseits würde sie von den Lastenteilungsmechanismen profitieren. Während in der Vergangenheit die türkische Seite in der Einschätzung der zu erwartenden Vorteile eher skeptisch war und wenige Veränderungen in der rechtlichen Umsetzung des Asyl-Acquis zu verzeichnen waren,10 stellt die EU-Kommission in ihrem jüngsten Bericht deutliche Fortschritte fest.11

Ausblicke aus europäischer Sicht

Die Frage lautet, ob sich die Einwanderungsproblematik der EU durch einen Beitritt der Türkei verändern würde. Es gäbe wohl allenfalls eine Verlagerung der Flüchtlingsströme, kaum aber eine positive Wende. Die EU könnte im Falle eines Beitritts zwar hoffen, dass die Türkei, die bislang nicht als typischer Wohlfahrtsstaat westlicher Prägung gilt, als Land des Grenzübertritts in die Union möglicherweise zu unattraktiv ist. Umgekehrt sähe sie sich aber einer Vielzahl neuer unmittelbarer Nachbarländer gegenüber, was die Kontrolle der Außengrenzen erschwert. Zwar mag es bis dahin weitere Rückführungsabkommen mit den potenziellen künftigen Nachbarn geben, offen bleibt aber, wie viel sie in der Praxis wert sind.

Auch garantiert niemand, dass die Asylverfahrenszuständigkeitsregeln der Dublin-II-Verordnung umgesetzt werden; denn wenn die Türkei in ähnliche Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Einwanderungsproblemen gerät wie dies in Griechenland der Fall ist, so könnten sich auch hier Rücküberstellungen verbieten.

Unabhängig von der Frage, ob die Außengrenzen der EU in Griechenland oder in der Türkei liegen, ist offensichtlich, dass legislative Maßnahmen der EU oder Rückführungsvereinbarungen nicht ausreichen, um der humanitären Verantwortung für Flüchtlinge gerecht zu werden. In jedem Fall bedarf es auch praktischer organisatorischer Instrumente. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte das neue Unterstützungsbüro für Asylfragen sein, das nationalen Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten dabei helfen soll, Asylverfahrensregeln im Sinne der Harmonisierung anzuwenden. Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen und Erwartungshaltungen der EU-Staaten an eine solche Organisation bleibt allerdings abzuwarten, wie erfolgreich diese Arbeit sein kann.

Unabhängig von solchen mittel- oder langfristigen Strategien trifft die EU und ihre Mitgliedsländer eine zusätzliche Verantwortung für die extrem kurzfristige Bewältigung von humanitären Krisen, wie sie sich derzeit in Griechenland abspielen. Zu wünschen wäre eine spezialisierte, flexible Unterstützungsgruppe, die den betroffenen lokalen Behörden konkrete Hilfestellung im Umgang mit massiven Flüchtlingsströmen leistet und den finanziellen oder personellen Bedarf vor Ort koordiniert.

KATHARINA CRAMER-HADJIDIMOS ist Juristin und Mitglied im Netzwerk für internationale Aufgaben Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e.V.

  • 1Frontex Press Kit: Situation in Greece, www.frontex.europa.eu/.../situation_of_irregular_migration_in_greece.pdf.
  • 2Zur Situation von Flüchtlingen in Griechenland siehe u.a. die Berichte von Amnesty International: The Dublin II Trap – Transfers of Asylum-seekers to Greece, März 2010, und: Greece. Irregular Migrants and Asylum-seekers Routinely Detained in Substandard Conditions, Juli 2010; Ärzte ohne Grenzen: Migrants in Detention: Lives on Hold, Juni 2010; Pro Asyl: Flüchtlinge in Griechenland: Gestrandet, entrechtet und ohne Schutz, März 2010.
  • 3Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage zu Rücküberstellungen nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verordnung, Bundestagsdrucksache 17/1340, Frage 4, 9.4.2010.
  • 4UNHCR Briefing Notes, 21.9.2010: UNHCR says asylum situation in Greece is „a humanitarian crisis“.
  • 5Verordnung (EG) Nr. 343/2003.
  • 6Allein der deutschen Bundesregierung waren von Januar 2009 bis März 2010 über 120 verwaltungsgerichtliche Entscheidungen bekannt, welche die Zulässigkeit von Rücküberstellungen nach Griechenland ablehnen, vgl. Bundestagsdrucksache 170/1340, S. 10 ff.
  • 7Lami Bertan Tokuzlu: Burden-Sharing Games for Asylum Seekers Between Turkey and the European Union, EUI Working Papers RSCAS 2010/05, S. 16 ff.
  • 8Ebd., S. 16.
  • 9Ebd., S. 18 f.
  • 10Ebd., S. 1 f.
  • 11Turkey 2010 Progress Report, S. 80 ff.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 62-67

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