Ein Ziel mit Zukunft
2015 hat sich die Weltgemeinschaft im Pariser Klimaabkommen auf das 1,5-Grad-Ziel geeinigt. Zehn Jahre später rückt es immer mehr in den Hintergrund – dabei spricht aus psychologischer und politischer Sicht vieles dafür, daran festzuhalten.
Im Jahr 2024 lagen die Temperaturen weltweit im Durchschnitt erstmals kontinuierlich über 1,5 Grad Celsius. In einigen Medien war daher bereits vom Scheitern der Pariser Klimaziele die Rede. Zur Erinnerung: 2015 hatte sich die Weltgemeinschaft darauf geeinigt, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad über dem vorindustriellen Niveau zu halten und Anstrengungen für eine Beschränkung auf 1,5 Grad zu unternehmen.
In der internationalen Politik hält man zwar offiziell weiterhin an den Pariser Zielen fest. So stand die Weltklimakonferenz 2024 in Baku, wie bereits die COPs in den Vorjahren, unter dem Motto „1,5 Grad am Leben erhalten!“. Die Vertragsstaaten des Pariser Klimaabkommens sollen nach wie vor daran arbeiten, ihre Klimaziele und nationalen Beiträge „1,5-Grad-kompatibel“ zu gestalten. Allerdings hat es kaum ein Land geschafft, seine neuen nationalen Beiträge überhaupt fristgerecht im Februar 2025 einzureichen.
Auch sonst scheint das laufende Jahr eher im Zeichen der Rückschritte im Klimaschutz zu stehen. Zwar wird das 1,5-Grad-Ziel bislang nicht explizit aufgegeben, aber Regierungswechsel in den USA und anderswo zeigen, dass Klimaschutz nicht mehr die höchste Priorität hat. Klimaschutzmaßnahmen werden in vielen Weltregionen wieder gelockert, wie derzeit etwa in der EU im Transportsektor. Auch in großen Energieunternehmen und im Finanzsektor scheint der Glaube an den 1,5-Grad-Pfad zu schwinden. So steht die internationale Klimaallianz der Banken, die Net-Zero Banking Alliance, kurz davor, das 1,5-Grad-Ziel fallenzulassen.
Kurzum: Das 1,5-Grad-Ziel rückt – ob bewusst oder unbewusst – immer weiter in den Hintergrund. Diese Entwicklung gilt es aufzuhalten, denn: Die Menschheit braucht das 1,5-Grad-Ziel weiterhin als Leitmotiv. Veränderungen in der Kommunikation sind dennoch geboten, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik.
Erst Skepsis, dann Standard
Das Wichtigste vorab: Dass die 1,5-Grad-Marke im Jahr 2024 überschritten wurde, heißt nicht, dass die Ziele des Pariser Abkommens bereits gescheitert sind. Diese beziehen sich nämlich auf eine gemittelte Temperaturänderung über Jahrzehnte – der Weltklimarat (IPCC) berechnet den Durchschnitt über 20 Jahre, bei der Weltorganisation für Meteorologie sind es 30 Jahre.
Das Ziel ist in erster Linie ein politisches. Ursprünglich wurde im IPCC-Sachstandsbericht von 2001 ein 2-Grad-Ziel vorgeschlagen. Dieses galt auch viele Jahre lang als allgemein akzeptiert. Das 1,5-Grad-Ziel entstand dagegen eher spontan. Die Allianz der kleinen Inselstaaten drängte beim Klimagipfel 2009 in Kopenhagen darauf, diese Marke als „sichere Grenze“ festzulegen.
Trotz anfänglicher Skepsis fand das Ziel immer mehr Befürworter in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Schließlich griff der IPCC-Sonderbericht von 2018 die 1,5-Grad-Marke auf – und rückte sie damit ins öffentliche Bewusstsein. Soziale Bewegungen wie Fridays for Future, aber auch Unternehmensinitiativen wie die Science Based Targets Initiative griffen das neue Ziel als Maßstab auf. 1,5 wurde zur „goldenen Zahl“, an der sich alle Klimaaktivitäten orientieren.
Warum „1,5“ ein gutes Ziel ist
Vom Überschreiten dieser Marke im vergangenen Jahr ging daher eine klare Botschaft aus: Die Menschheit ist klimapolitisch nicht auf Kurs und scheint ihren eigenen Zielen nicht wirklich verpflichtet zu sein. Dies kann verschiedene emotionale Reaktionen auslösen – von Verwirrung oder Enttäuschung bis zu Angst und Hoffnungslosigkeit. Wie wird unsere Zukunft aussehen, wenn die Temperaturen den Grenzwert überschreiten? Auch Wut und Frustration sind möglich: Wie können Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft das nur zulassen? Gleichzeitig wachsen Zweifel an der Selbstwirksamkeit, also dem Gefühl, etwas durch eigenes Handeln erreichen zu können. Im schlimmsten Fall erodiert das Vertrauen in politische Institutionen. Dies wiederum stärkt die Narrative von populistischen Bewegungen und Klimaleugnern.
Grundsätzlich gilt: Aus psychologischer Sicht fördert schon die Festlegung eines klaren politischen Zieles die Orientierung und Motivation. Menschen neigen dazu, sich stärker zu engagieren, wenn sie wissen, was sie erreichen wollen. Ziele geben dem Verhalten eine Richtung und fördern die wahrgenommene Selbstwirksamkeit.
Um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen, sollten Ziele spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und zeitgebunden formuliert werden. Das 1,5-Grad-Ziel erfüllt mindestens vier dieser Kriterien. Seine Attraktivität liegt auf der Hand: Bei der Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad geht es darum, möglichst vielen Menschen auf diesem Planeten ein menschenwürdiges Leben zu sichern – heute und in Zukunft. Es ist spezifisch genug, um die Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels in eine gemeinsame Richtung zu lenken. Zudem lässt es sich durch Emissionsbudgets und nationale Verantwortlichkeiten quantifizieren, wodurch es sowohl messbar als auch zeitgebunden ist. All dies verleiht dem 1,5-Grad-Ziel einen klaren Vorteil gegenüber der abstrakten und diffusen Forderung, die Staaten sollten „das Klima schützen und die Welt retten“ – ein Anliegen, das zwar attraktiv, aber wenig konkret ist.
Bleibt die Frage, wie realistisch das 1,5-Grad-Ziel (noch) ist. Ziele dienen immer auch als „heuristische Anker“ – als Orientierungspunkte für Individuen oder Gruppen, um Entscheidungen zu treffen und Debatten zu steuern. Ähnlich wie bei Gehaltsverhandlungen, wo es strategisch klug ist, mit möglichst hohen Forderungen anzutreten, hilft ein ambitioniertes Klimaziel, die Diskussion in die richtige Richtung zu bewegen. Selbst wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden, dürfte das Endergebnis näher an der ursprünglichen Hoffnung liegen, als es ohne ein ehrgeiziges Ziel der Fall gewesen wäre.
Politisch alternativlos
Neben den psychologischen Argumenten, die für das Festhalten am 1,5-Grad -Ziel sprechen, gibt es auch gewichtige politische Gründe. Dieses monumentale Ziel offiziell aufzugeben, wäre praktisch kaum möglich, da es an glaubwürdigen Alternativen mangelt. Eine Rückkehr zur 2-Grad-Marke oder die Einführung eines ganz neuen Klimaziels, das womöglich noch weniger ambitioniert ist, würde die Glaubwürdigkeit der Politik stark schädigen.
Zwar könnten auch alternative Konzepte in Betracht gezogen werden, etwa Grenz- oder Zielwerte für die Konzentration von Treibhausgasemissionen in der Atmosphäre oder zulässige Pro-Kopf-Emissionen. In der Wissenschaft besteht allerdings keine Einigkeit, welcher dieser Ansätze am geeignetsten wäre.
Kommunikation anpassen
Dennoch: Ein Weiter-so in der Kommunikation zum 1,5-Grad-Ziel ist keine Option – gerade vor dem Hintergrund, dass diese Marke bereits im vergangenen Jahr überschritten wurde. Es reicht nicht aus, allein auf theoretische Emissionspfade und neue Technologien zu verweisen, die möglicherweise die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels gewährleisten können. Es gilt, Unsicherheiten besser zu berücksichtigen und gleichzeitig das Überschreiten so zu kommunizieren, dass laufende und künftige Klimaschutzmaßnahmen weiterhin unterstützt werden.
1,5 Grad hat sich als Leitmotiv für die Bemühungen um eine nachhaltige Transformation erwiesen. Ziele dienen als Maßstab, um Regierungen und Industrien zur Rechenschaft zu ziehen – das gilt auch in einer Welt jenseits von 1,5 Grad. Die Motivation hinter dem 1,5-Grad-Ziel bleibt bestehen, und der Konsens, auf dem das Pariser Abkommen beruht, steht nicht zur Disposition.
Es ist daher grundsätzlich richtig, dass die UN-Klimadiplomatie das 1,5-Grad-Ziel in ihrer Kommunikation weiterhin hochhält. Doch die Darstellung als „sichere Grenze“ hat womöglich ein Missverständnis begünstigt: Bei der 1,5-Grad-Marke geht es nicht um eine harte Schwelle zwischen einem sicheren und unsicheren Klima. Weltuntergangserzählungen dieser Art erwecken den Eindruck, dass mit der Überschreitung dieses Wertes der unmittelbare Klimakollaps droht. Es ist jedoch vielmehr so, dass jedes Zehntelgrad, jedes Hundertstelgrad Erwärmung, das vermieden werden kann, einen Unterschied macht. Wenn sich dieses Verständnis durchsetzt, braucht es kein neues Ziel.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S.12-14
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