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01. Okt. 2007

Ein Traum, den es zu bewahren gilt

Warum sich Polen früher oder später mit Europa arrangieren muss

Zum Teil ein Missverständnis, zum Teil eine Fehldeutung der EU, zum Teil schlicht strategische Dummheit: So beurteilt der polnische Europaforscher die EU-Politik der Kaczynskis. Aber es besteht auch Anlass zur Hoffnung, denn die Methode der Zwillinge, die Außenpolitik ganz aufzugeben, wird sich für Polen auf Dauer nicht durchhalten lassen.

So hätte es aussehen können: Drei Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union hat Polen sich im Herzen des Kontinents eingerichtet, leistet das Land einen Beitrag zur Lösung der europäischen Probleme und dazu, dass Europa im globalen Ringen um politischen Einfluss wieder eine gute Ausgangsposition hat. Polen gehört zu den „Großen Sechs“ in Europa – und dies nicht nur, was seine geographischen Maße betrifft, sondern auch das Bekenntnis zu und das Engagement für Europa. Polen gewinnt den politischen Ideenwettstreit und entdeckt, dass es in der EU nicht nur Partner, sondern Freunde hat.

So hätte es aussehen können. Vor 2005 nämlich war das Land auf dem besten Weg, international eine wichtigere Rolle zu spielen als erwartet, Dynamik und Frische zu zeigen, die europäischen Institutionen aufzurütteln und eine neue Richtung vorzugeben. Mit der Big Bang-Erweiterung der EU, der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten im Jahr 2004 waren alle Voraussetzungen gegeben, dass Polen in der Gemeinschaft selbstbewusst seinen Weg machen würde.

So einfach aber ist das Leben nicht. Unter der Oberfläche muss sich etwas ereignet haben, denn plötzlich fand sich Polen im politischen Schützengraben wieder. Das war ganz einfach Pech, könnte eine Erklärung lauten. Die ausgesprochen pro-europäische Regierung unter Marek Belka (2004/2005) war eine schwache Administration, die nur zögerlich vom Parlament unterstützt wurde und sich auf dem rechten politischen Flügel verschiedensten Abstufungen von Euroskepsis ausgesetzt sah. Seit Herbst 2005 regieren die Zwillinge Lech und Jaroslaw Kaczynski das Land und können sich dabei auf eine starke Wirtschaft stützen, ein Erbe der Vorgängerregierung. Bei einem Wirtschaftswachstum zwischen sechs und sieben Prozent lässt sich in der öffentlichen Debatte jedoch nur schwer für eine andere Politik eintreten; für die polnische Europa-Politik muss es also mehr als nur Pech gewesen sein, dass sie nun von denjenigen betrieben wurde, die Eigenwilligkeit zur politischen Tugend erhoben haben. Europa erschien den Brüdern als sinnvolles und zugleich suspektes politisches Projekt – sie neigen dazu, Böses auch dort zu entdecken, wo es gar nicht vorhanden ist, und in ihren Augen verschwören sich andere (und vor allem größere) EU-Staaten gegen die Neumitglieder und gefährden deren Interessen. Zum Teil beruht dies auf einem Missverständnis und einer Fehldeutung der Europäischen Union, zum Teil ist es aber auch schlicht strategische Dummheit. Selbst wenn in der EU ein Machtkampf im Hobbes’schen Sinne tobte (was so nicht der Fall ist), wäre es taktisch klüger, nach den Regeln einer Gemeinschaft zu spielen als Streitereien vom Zaun zu brechen.

Souveränität und Nationalstaat sind wichtige Grundelemente in der gegenwärtigen Außen- und Europa-Politik Polens. Die Gründe hierfür sind leicht auszumachen. Ein Land, das die längste Zeit des 20. Jahrhunderts nicht über sein eigenes Schicksal bestimmen konnte, strebt berechtigterweise nach mehr Bewegungsfreiheit in seinen Beziehungen zu anderen. Auch viele der älteren und reiferen Demokratien erliegen der Versuchung, ihrer formellen Souveränität in den europäischen und internationalen Beziehungen mehr Raum zu verschaffen. Die Frage ist nur, ob dies wirklich klug ist in einer Situation, in der Souveränität anders definiert wird als zuvor und Stärke eher darin liegt, andere zu inspirieren und zu beeinflussen als sie zu überstimmen und abzustrafen.

Die Gedankenwelt der Kaczynski-Brüder ist auf die Innenpolitik gerichtet, für die sie ein gutes Gespür entwickelt haben. Sie haben mit Erfolg jene angesprochen, die zu den Verlierern des Transformationsprozesses gehören. Die von den Kacznskis betriebene Sozialpolitik hat erstaunlich gut funktioniert, das konservative Streben nach größtmöglicher Gleichheit hat enorm zu- und die Unterstützung für die Einführung des Euro im vergangenen Jahr um 20 Prozent abgenommen.

Zwar ist die öffentliche Meinung mehrheitlich noch immer proeuropäisch, doch zeigt die Rhetorik der Brüder Wirkung. Offensichtlich waren die Verteidigungslinien des proeuropäischen Establishments schwächer als gedacht. Außenpolitik dreht sich für Lech und Jaroslaw Kaczynski vor allem um Energie und Sicherheit. In diesem Sinne erinnern sie in gewisser Weise an die amerikanischen Neokonservativen, für die Macht (sehr häufig militärische Macht) im Mittelpunkt steht. Dem Thema Energiesicherheit wird hohe Priorität beigemessen, obwohl das Bruegel-Institut Polen diesbezüglich an dritter Stelle der EU-Mitgliedstaaten sieht. In der Außenpolitik sind die Kaczynskis einsame Akteure. Sie neigen dazu, ihren Partnern zu misstrauen, was sie unfähig macht, Bündnisse zu schließen. Kooperative Netzwerke aus der Zeit vor 2005 – wie etwa das Weimarer Dreieck mit Frankreich und Deutschland und die Visegrad-Gruppe – sind mehr oder minder aufgegeben worden. Einer der Berater des Präsidenten hat argumentiert, dass Polen zunächst an seiner eigenen, inneren Konsolidierung arbeiten müsse, bevor es in der Europäischen Union aktiv werden könne. Sollte ein schwächerer Mitgliedstaat partnerschaftliche Vereinbarungen mit stärkeren Mitgliedern eingehen, so seine Überzeugung, sei es ganz natürlich, dass der schwächere von den stärkeren Staaten an die Wand gespielt werde.

Für die polnische Außenpolitik seit 2004 war es schwierig, für die Zeit nach dem EU-Beitritt eine mitreißende Vision vorzulegen, denn schon per definitionem ist der Beitrittsprozess selbst spektakulärer als die Zeit danach; er bringt unerwartete Wendungen mit sich und kann so spannend sein wie ein Fußballspiel. Mitgliedschaft, vor allem junge Mitgliedschaft, dagegen ist anstrengende Arbeit, die sich der Öffentlichkeit schwerer verkaufen lässt. Rechnet man hinzu, dass die Verlierer des Transformationsprozesses nur darauf gewartet hatten, zu Wort zu kommen, dann wird das Vorwärtskommen mühsam. Den Kaczynski-Brüdern war klar, dass sie von anderen europäischen und internationalen Politikern nicht mit offenen Armen empfangen würden; infolgedessen, so scheint es, haben sie die Außenpolitik ganz aufgegeben. Sie ist kein Gebiet, in dem sie Punkte sammeln können; daher glauben sie, im Wahlkampf auf die europäischen Partner einprügeln zu können. Die polnische Europa-Politik sollte jedoch nicht nur durch die doppelt düstere Brille der Kaczynskis gesehen werden. Es besteht auch Anlass zu Optimismus. Die zur politischen Mitte gehörende Bürgerplattform, die Linke und die Demokraten sind weit stärker auf Integration ausgerichtet als die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit. Sollten sie nach den Wahlen eine Koalition bilden, werden sie sich zweifellos für eine Öffnung nach Europa einsetzen.

Kein vorübergehendes Phänomen

Dies wird jedoch kein Spaziergang werden. Die Kaczynskis sind mehr als nur ein vorübergehendes Phänomen, das mit ihrer Wahlniederlage und dem anschließenden Amtsverlust verschwinden würde. Die von ihnen vorgegebene Richtung wird sowohl national als auch international weiter eine Rolle spielen. Es besteht nämlich die Gefahr, dass Polen dem britischen Beispiel folgt und sich in Phantomdebatten darüber verliert, wie sich die polnischen Interessen am besten verteidigen lassen – ganz so, als sei die Zeit im 19. Jahrhundert stehengeblieben.

Dennoch erscheint die Zukunft auch in einem rosigen Licht, denn die Zwillinge haben Freunde und Partner in Europa derart gegen sich aufgebracht, dass vernünftige Leute wissen: Polen wird seine Vorgehensweise in Europa ändern müssen. Selbst in den Augen derjenigen, die dafür eintreten, dass Polen eine nachdrückliche Haltung einnimmt, lässt sich auf völlig unterschiedliche Weise mit Nachdruck agieren. Der beste Weg ist es, kreativ zu sein und auch wirklich etwas zu sagen haben, wenn man das Wort ergreift.

Europa befindet sich an einem Wendepunkt. Und dies ist eine Einladung an alle, Ideen und Lösungsvorschläge beizusteuern. Hat Polen erst einmal auf den richtigen Weg zurückgefunden, wird es sich zweifellos auf politische Fragen der Zukunft konzentrieren – die Stärkung der Zukunftsfähigkeit, des Humankapitals und der Innovation in Europa, denn dies ist es, was Europa objektiv gesehen am dringendsten braucht. Das starke Wirtschaftswachstum in Polen, das sich aus der Wettbewerbsfähigkeit des Arbeitsmarkts speist, wird nicht ewig andauern; die Dynamik des Aufholens wird durch eine Dynamik ersetzt werden müssen, die auf soliden, in die Zukunft gerichteten Grundlagen beruht. Der Generationswechsel wird auch einen Wandel in der Europa-Politik, eine offenere und engagiertere Politik, begünstigen.

Die Zeit arbeitet für ein Polen, das sich stärker einbringt, das politisch zur Mitte Europas gehört, weil die polnische Jugend eher kosmopolitisch und liberal ausgerichtet ist. Diese wird nur eines Tages ihre Stimme erheben müssen. Polens Partner in der EU sollten ihre Sicht der Dinge offen und ehrlich darlegen, sie sollten die Polen aber auch einbinden. Ein Teil der gegenwärtigen Probleme nämlich liegt in der unzureichenden Interaktion zwischen Politikern und Meinungsmachern in einer Welt, in der sich alles um Interaktion dreht. Letztlich jedoch müssen die Probleme von den Polen gelöst werden – wir selbst müssen eine Auseinandersetzung in Gang bringen, Ideen entwickeln, Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen.

Polens Zukunftsstrategie sollte darauf gerichtet sein, sich der politischen und wirtschaftlichen Mitte der EU anzunähern. Polen wird lernen müssen, in der Union geschickter und durchdachter aufzutreten. Es wird den Euro einführen müssen, der gleichsam eine Eintrittskarte in die politische Führungsriege in Europa darstellt, und es wird seine Bündnisse erneuern müssen, deren Bedeutung in der erweiterten EU nur noch stärker wachsen wird. Und schließlich wird Polen klare Visionen einer Politik entwickeln müssen, die die Union in den kommenden Jahren verfolgen sollte.

Ein selbstbewusstes Polen sollte für eine starke Europäische Union eintreten, eine EU, die mit einer umfangreichen Agenda Chancen der Globalisierung nutzt. Das Wesen der EU wandelt sich – es geht weniger darum, über europäischen Föderalismus zu diskutieren als darum, von dem politischen Vertrag zu profitieren, der in den fünfziger Jahren ausgearbeitet wurde. Dies heißt nicht, dass die ursprüngliche Methode der Integration nicht mehr zur europäischen Staatsräson gehörte. Im Gegenteil: Europa wird die auf europäischem Recht und starken Institutionen beruhenden Gemeinschaftsmethoden mit einem neuen politischen Pragmatismus und Führungskraft verbinden müssen. Hat Polen die gegenwärtige Phase der Selbstbesinnung erst einmal überwunden, wird sich das Land in diesen Prozess einbringen können.

Aus dem Englischen von Susanne Laux

PAWEL SWIEBODA, geb. 1972, arbeitete zunächst als Berater des polnischen Präsidenten in Europa-Fragen, bevor er 2001 als Leiter der EU-Abteilung ins Außenministerium wechselte. Seit 2006 ist er Präsident von demosEUROPA – Centre for European Strategy.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 26 - 29.

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