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01. Nov. 2014

Ein guter Ausgangspunkt

Warum Berlin und Peking in der Ukraine-Krise eng zusammenarbeiten sollten

Man soll sich keinen Illusionen hingeben: China mag einen Energiedeal mit Russland ausgehandelt haben. Aber es unterstützt Putins Politik nicht – ganz im Gegenteil. Auch aus innenpolitischen Gründen ist Peking an einer friedlichen Lösung der Ukraine-Krise interessiert. Die USA fallen als Partner aus. Bleibt Europa. Oder genauer: Deutschland.

Wo steht China in der Ukraine-Krise? Mit Russlands Präsident Wladimir Putin eint die chinesische Führung eine tiefe Furcht vor einer so genannten „Farbenrevolution“. Moskau und Peking sind fest entschlossen, dergleichen in ihren Ländern zu verhindern. Aus Pekings Sicht sind alle Probleme in der Ukraine auf die „orangene Revolution“ von 2004 zurückzuführen. Und genau wie Putin halten Chinas Machthaber die Farbenrevolutionen für ein Ergebnis direkter oder indirekter westlicher Einmischung.

Die Ukraine-Krise und die Sanktionen gegen Putin haben Russland in die Arme der Chinesen getrieben. Das bringt in zweierlei Hinsicht wichtige Vorteile. Da wäre erstens der Aspekt der Energiesicherheit. Chinas schnell wachsende Wirtschaft ist immer abhängiger von Energieimporten geworden. Wenn das Land keine verlässliche und bezahlbare Energiezufuhr sicherstellen kann, werden Engpässe die wirtschaftliche Entwicklung behindern. Dass China und Russland fast 30 Jahre lang über Energielieferungen verhandelt haben, ist bekannt. Dass dies lange vergeblich geschah, hatte einen einfachen Grund: Die Differenz zwischen den Preisvorstellungen Moskaus und Pekings war schlicht zu groß. Die wesentlich von den USA vorangetriebenen Sanktionen ließen Putin aber kaum eine Wahl – er musste sich an China wenden. Das Abkommen über russische Öl- und Gaslieferungen an China vom Mai 2014 im Wert von 400 Milliarden Dollar ist für die Volksrepublik sehr vorteilhaft – denn Moskau hat praktisch die chinesischen Preisvorstellungen akzeptiert.

Der zweite Aspekt ist Chinas Bedarf an Rüstungstechnologie, mit der es seine militärischen Kapazitäten stärken und ausbauen will. Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens hatte der Westen unter der Führung der USA Ausfuhrsperren für Rüstungstechnologien nach China verhängt, von denen einige noch in Kraft sind. Russlands Rüstungsindustrie ist natürlich weniger hoch entwickelt als die amerikanische oder europäische. Trotzdem hat Russland einige Rüstungsgüter zu bieten, die besser sind als das, was die Chinesen selbst herstellen können. Putin ist heute offener und großzügiger gestimmt für einen Export von Militärgütern nach China. Die beiden Länder sprechen bereits über eine ­engere Zusammenarbeit in den Bereichen Luftfahrt und Schiffbau.

Hinzu kommt, dass die durch die Ukraine-Krise ausgelösten Spannungen zwischen dem Westen und Russland den Chinesen großen strategischen Einfluss gegenüber den Vereinigten Staaten, Japan und Europa verschafft haben. Im Kontext der Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik im asiatisch-pazifischen Raum ist das besonders bedeutsam. Denn den amerikanischen „Pivot to Asia“ hat Peking als Versuch verstanden, China mithilfe von US-Verbündeten wie Japan oder den Philippinen „einzudämmen“.

Die harte Haltung der USA gegenüber Russland – und die Tatsache, dass sich Japan vor allem auf Druck der USA dem Sanktionsregime gegen Moskau angeschlossen hat – hat die pazifische Neuorientierung der USA geschwächt und China einen effektiven Hebel im Umgang mit den USA und ihren Verbündeten, vor allem Japan, in die Hand gegeben. Kaum jemand bestreitet, dass der größte Erfolg der USA darin bestand, dass sich China nach dem Besuch Präsident Richard Nixons im Jahr 1972 dem amerikanischen Lager praktisch angeschlossen hat. Auch wenn es nach der Krise von 1989 zahlreiche Probleme zwischen den USA und China gab, so sind die chinesisch-amerikanischen Beziehungen doch relativ stabil geblieben. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben sie sich sogar noch intensiviert.

In der heutigen geopolitischen Lage wäre es nicht klug, es mit Russland und China gleichzeitig aufzunehmen. Die Regierung Obama hat die potenziellen Risiken offenbar erkannt. Nun gibt es fortwährende Bemühungen, Amerikas Beziehungen zu China zu verbessern oder zumindest zu stabilisieren – was ganz bestimmt in Pekings Sinne ist.

Chinas Dilemma

All diesen Vorteilen und dem neu gewonnenen Einfluss in der Ukraine-Krise zum Trotz steht Peking vor einem Dilemma. Es hat ja aufmerksam registriert, dass die internationale Gemeinschaft Putins Umgang mit internationalen Konflikten nicht akzeptieren kann und will, schon gar nicht im Fall der Ukraine.

Peking insistiert auf einem „harmonischen Aufstieg“. Würde es sich in diesem Konflikt an Putins Seite stellen, dann riskierte es diesen Anspruch auf eine gewisse moralische Überlegenheit. Es würde auch seinen Beziehungen zum Westen insgesamt großen Schaden zufügen – und das liegt nicht in Chinas Interesse. Außerdem hat Peking begriffen, dass sich Putins Handeln in der Ukraine-Krise und vor allem die Annexion der Krim auf einige der heiklen innen- wie außenpolitischen Probleme Chinas auswirken könnten. In diesem Zusammenhang seien nur die Stichworte Tibet, Xinjiang, Hongkong, Taiwan und Territorialkonflikte im Süden und Osten des Chinesischen Meeres genannt. Es liegt auf der Hand, dass China nicht daran interessiert ist, diese Probleme „à la Putin“ zu lösen. Das würde die politische Stabilität des Landes untergraben und Chinas außenpolitische Strategie der „friedlichen Entwicklung“ ruinieren.

„Keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates“ war immer eine der wichtigsten Leitlinien der chinesischen Außenpolitik. Peking kann hier nicht gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen und war deshalb schon in der Georgien-Krise 2008 sehr vorsichtig mit seinen Äußerungen. Als Russlands Außenminister Sergej Lawrow jüngst andeutete, China und Russland würden auf Grundlage der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit ein „Sicherheitsbündnis“ eingehen, machte schon am nächsten Tag eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums sehr deutlich, dass China bei seinen drei Neins bleiben wird, selbst wenn es mit Russland eine „umfassende strategische Partnerschaft“ eingeht: „kein Sicherheitsbündnis, keine Konfrontation – und die Partnerschaft richtet sich nicht direkt gegen eine dritte Partei“. Ein scheinbar gradueller, tatsächlich aber ein wesentlicher Unterschied.

Noch wichtiger ist, dass Chinas Aufstieg im Rahmen einer Integration in die internationale Ordnung stattfand und nicht, indem es diese Ordnung infrage gestellt hätte. China ist erfolgreich, weil es seit Deng Xiaopings Reformpolitik die westlichen Spielregeln der Marktwirtschaft akzeptiert hat. Das Land hat sich geöffnet, es treibt Handel mit der Außenwelt anstatt auf Konfrontationskurs zu gehen. So ist China zur größten Handelsmacht der Welt aufgestiegen. Das Land kann es sich nicht leisten, von der internationalen Gemeinschaft politisch oder wirtschaftlich isoliert zu werden. Darum will und wird China kein spezielles Verhältnis zu Russland auf Kosten seiner Beziehungen zu Europa und den Vereinigten Staaten unterhalten. Chinas Beziehungen zum Westen sind grundlegend für die künftige Entwicklung des Landes. Deshalb hat sich Peking in der Ukraine-Krise neutral verhalten. Es hat die Konfliktparteien gedrängt, in einem „friedlichen Dialog“ nach Lösungen zu suchen, anstatt auf Konfrontation zu setzen.

Kurz: Peking hat nicht für Putin Partei ergriffen und wird es auch nicht tun. Zugleich hat sich Chinas Führung geweigert, mit den USA zu kooperieren, weil Washingtons Position wohl zu hart erschien, um durchführbar zu sein. Vor dem anstehenden Wechsel im Kongress und im Weißen Haus ist absehbar, dass auch in der zukünftigen US-Führung Falken dominieren werden. Hinzu kommt, dass für die Amerikaner in der Ukraine-Krise viel weniger auf dem Spiel steht als für die Europäer oder Russen. Die amerikanische Russland-Politik ist eher ideologiegetrieben als interessengeleitet. China kann also in der Ukraine-Frage weder mit Russland zusammenarbeiten noch mit den Amerikanern, weil es in dieser heiklen Frage kaum Übereinstimmungen zwischen Washington und Peking gibt.

Eine Kooperation ist alternativlos

Für Frieden und Stabilität hat die Ukraine-Krise aber so schwere Folgen, dass internationale Bemühungen um eine Lösung vonnöten sind. In der jetzigen Lage ist eine Zusammenarbeit zwischen China und den europäischen Staaten, vor allem Deutschland, praktisch die einzige Option – und schlicht eine Notwendigkeit.

Deutschlands und Chinas Interessen konvergieren in wichtigen Punkten. Das zwingt die beiden Länder geradezu zu einer Kooperation in der Ukraine-Krise. Beide Länder müssten sich aber zunächst darauf verständigen, inwieweit Sanktionen auf Dauer wirklich funktionieren können. In der heutigen Weltwirtschaft sind Sanktionen ein zweischneidiges Schwert, und realistischerweise sollte niemand erwarten, dass sich Putin ihrem Druck beugen wird. Wohl aber senden sie ein klares und starkes Signal, dass es dort, wo der Konflikt grundlegende Interessen und Werte berührt, keine Kompromisse geben kann. Der Dissens in den deutschen und chinesischen Auffassungen dazu besteht also nicht darin, ob Sanktionen notwendig sind, sondern in welchem Maß sie angewandt werden müssen. Zugleich sind sich beide Länder einig, dass die Ukraine dringend stabilisiert werden muss.

Putin wiederum muss begreifen, dass die Ukraine-Krise langfristig den russischen Interessen schadet, und einen Ausweg finden. Mag sein, dass es für die Russen das beste Ergebnis ist, wenn die Ukraine eine Pufferzone zwischen Russland und dem Westen bleibt. Doch eine gespaltene, zerfallende und bankrotte Ukraine wird keine Pufferzone, sondern eine Bürde für Russland sein. Putin sollte seine Ukraine-Politik so bald wie möglich ändern. Sonst droht das ukrainisch-russische Verhältnis für immer vergiftet zu werden – und eine verzweifelte Ukraine hätte keine andere Wahl, als sich entschlossen dem Westen zuzuwenden. Es läge also auch in Russlands Interesse, die Situation in der Ukraine zu stabilisieren. Zuletzt ließ Putins Verhalten darauf schließen, dass er dies begriffen hat.

Nicht zuletzt hat Putins Vorgehen die Europäer an die Bedeutung der NATO erinnert. Wir bewegen uns auf eine multipolare Weltordnung zu, und eine aus der Krise heraus erstarkende NATO wäre im Kern eine europäische Sicherheitsinstitution und nicht einfach eine Neuauflage der US-geführten NATO aus der Zeit des Kalten Krieges. Die großen euro­päischen Staaten, insbesondere Deutschland, wären Wortführer dieser erneuerten NATO, nicht die USA. Für Russland, das sich immer stärker in Abgrenzung zu Europa definiert, ist das keine gute Nachricht.

Eine starke Botschaft an Putin

Vor diesem Hintergrund können und müssen Deutsche und Chinesen in der Ukraine-Frage enger zusammenarbeiten. Zunächst sollten sie eine starke Botschaft an Putin senden, dass er seine Ukraine-Politik ändern muss. Russland sollte eine Politik des Kompromisses in der Ukraine-Frage betreiben, anstatt auf Konfrontation zu setzen. Zweitens sollten Berlin und Peking einen Weg finden, wie man die Lage in der Ukraine stabilisieren und eine weitere Eskalation des Konflikts verhindern könnte. Das heißt, dass der Bürgerkrieg beendet werden muss – und dass Russland aufhören muss, direkt oder indirekt in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzugreifen. Erst mit einer Stabilisierung können beide Seiten einen echten und offenen politischen Dialog über die Zukunft des Landes beginnen.

China und Deutschland bleibt also im Grunde gar keine andere Wahl als zu kooperieren, wenn sie die Ukraine stabilisieren wollen. Eine solche Zusammenarbeit ist sicher schwierig, vor allem, wenn man sich Chinas Umfeld ansieht und Pekings Wunsch, weiter eine „umfassende strategische Partnerschaft“ mit Russland zu unterhalten. Doch sie bietet der Volksrepublik auch die einzigartige Möglichkeit, sich konstruktiv für Frieden und Stabilität in der Welt einzusetzen. Die chinesische Führung sollte erkennen, dass sie so nicht nur ihre Beziehungen zu den europäischen Staaten und vor allem Deutschland substanziell verbessern, sondern auch eine belastbare und dauerhafte Beziehung zu Russland und Putin aufbauen kann. Denn wenn es mit Chinas Hilfe gelingt, die Ukraine-Krise zu lösen, und Peking seine Beziehungen zu den Europäern ausbaut, ist das langfristig auch in Russlands Interesse.

Wenn all dies erreicht werden könnte und man China als verantwortungsbewussten und konstruktiven Akteur in die Lösung der Ukraine-Krise einbeziehen könnte, stünde Deutschland glänzend und als Sieger da. Seit Beginn der Euro-Krise 2009 ist immer klarer geworden, dass – zumindest auf dem europäischen Festland – kein Problem ohne deutsche Mitwirkung gelöst werden kann. Die Briten werden in der Europapolitik immer stärker marginalisiert werden, wenn es ihnen nicht gelingt, ihre innenpolitischen Schwierigkeiten zu überwinden und – was noch viel wichtiger ist – ihre Beziehungen zum Festland neu zu strukturieren. Die Franzosen wiederum neigen zum Opportunismus, weil das Land durch politische Fragmentierung und die andauernde wirtschaftliche Krise geschwächt ist. Aus diesen Gründen ist Deutschland zu einer europäischen Führungsmacht geworden – nicht aus Neigung also, sondern aus Notwendigkeit. Die Ukraine-Krise hat diese Entwicklung verstärkt.

Mehr als Wunschdenken

Dass China und Deutschland in der Ukraine-Krise zusammenrücken, mag idealistisch klingen oder sich sogar nach Wunschdenken anhören. Ich behaupte nicht, dass beide Länder zusammenarbeiten wollen, sondern dass sie es müssen – gezwungen von der Interessenlage und der Situation. Wir bewegen uns auf eine multipolare Weltordnung zu, und China muss seine Beziehungen zu Europa verbessern, was ohne die Partnerschaft mit Deutschland kaum gelingen kann. Zugleich müssen die Europäer und insbesondere Deutschland sich stärker in asiatisch-pazifische Angelegenheiten einbringen, wirtschaftlich wie politisch. Ohne eine stabile und konstruktive Beziehung zu China ist das nicht möglich.

Eine deutsch-chinesische Zusammenarbeit in der Ukraine-Krise wäre ein Startpunkt; der Beginn einer tieferen, konstruktiveren und belastbareren Beziehung zwischen beiden Ländern. Deutschland könnte den Chinesen in Europa Türen öffnen, China könnte den Deutschen eine größere Plattform für ihre Aktivitäten in Asien bieten – eine Win-Win-Situa­tion für beide Länder, würde man in Peking sagen.

Die Schwierigkeit, eine solche Partnerschaft zwischen China und Deutschland aufzubauen, sollte man nicht unterschätzen: Es gibt Unterschiede im politischen System, im Entwicklungsstand, bei den Werten und dem Umfeld der beiden Länder. Auch sollte die chinesische Führung nicht versuchen, die europäischen Länder gegeneinander auszuspielen, denn in diesem Spiel verlieren irgendwann alle.

Natürlich, jeder sichert sich ab, jeder spielt Machtspiele, so ist die Realität, das liegt gewissermaßen in der Natur internationaler Politik. Doch in den grundlegenden Fragen, in denen Chinesen und Deutsche gemeinsame Interessen haben, müssen sie zusammenstehen – trotz ihrer Differenzen und Machtinteressen. Die Ukraine-Krise ist so eine grund­legende Frage. Nicht nur wegen der Krise selbst, sondern auch, weil beide Länder gegen den Einsatz von Gewalt sind und mit einer friedlichen Lösung allen gedient wäre.

Huang Jing ist Direktor des Centre on Asia and Globalisation und Professor am Institut für Public Policy der National University of Singapore. Er ist 2014 Fellow der Robert Bosch Academy.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S.44-49

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