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01. März 2009

Ein gespaltenes Volk

In der West Bank bemüht sich die Fatah um Stabilität. Gewinner ist die Hamas

Unter dem palästinensischen Präsidenten Machmud Abbas ist in der West Bank ein wirtschaftlicher Aufschwung in Sicht: die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Polizei sorgt für Ruhe und Ordnung. Doch weil Abbas harsch gegen die Feinde von der radikalen Hamas vorgeht, gilt er als Kollaborateur Israels. Davon profitieren die Islamisten.

Er läuft leicht nach vorne gebeugt, beim Sitzen ist sein Rücken etwas gekrümmt. Der 32-jährige Ayman Madbuh aus Nablus wirkt zerbrechlich, so als könne ihn bereits ein freundschaftlicher Klaps auf den Rücken aus dem Gleichgewicht bringen. Ayman hat eine fast vier Monate lange Folterhaft in palästinensischen Gefängnissen hinter sich. Man hatte ihm vorgeworfen, die radikalislamische Hamas zu unterstützen und illegal Waffen zu besitzen. Um ein Geständnis aus ihm herauszupressen, wurden ihm in der Isolationshaft die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und sein Körper dann so weit nach oben gezogen, dass er nur auf seinen Zehenspitzen stehen konnte. „Zwei bis drei Stunden musste ich in dieser qualvollen Stellung ausharren“, sagt Madbuh, „mehrere Mal am Tag.“ Und ständig die Fragen des palästinensischen Geheimdiensts: „Bist du Mitglied bei der Hamas, wie viele Waffen habt ihr, wo hast du sie versteckt?“ Madbuh kam erst frei, als ein Nachbar, der ihn unter Folter denunziert hatte, seine ursprüngliche Aussage widerrief. Das war Ende Dezember, kurz vor dem Beginn des Krieges gegen die Hamas in Gaza.

Bei einem Verdacht auf Mitgliedschaft in der Hamas kennt der palästinensische Präsident Machmud Abbas keine Zimperlichkeiten. Seit die islamistische Organisation vor bald zwei Jahren im Gaza-Streifen gewaltsam die Macht übernommen hat, stärkt er die Sicherheitskräfte in der West Bank. Hier sollen die Islamisten keine Chance haben, einen Putsch durchzuführen. Weil es auch im Interesse des Westens liegt, dass in der West Bank stabile Verhältnisse herrschen und die Fatah an der Macht bleibt, helfen die Europäische Union und die USA beim Aufbau der palästinensischen Polizei. Die USA kümmern sich um die Schulung der Nationalen Sicherheitskräfte, eine Art Grenzschutz, der in Jordanien für den Kampf gegen Terroristen ausgebildet wird. Die EU sorgt sich um die Ausbildung der zivilen Polizei.

Allerdings haben sie es im Westjordanland mit geradezu absurd anmutenden Umständen zu tun: Eine eigene palästinensische Strafjustiz wird gerade erst aufgebaut; bislang galt ein Wirrwarr von israelischem Militärrecht, jordanischem Recht, das noch aus der Herrschaft des haschemitischen Königreichs zwischen 1948 und 1967 stammt, britischem Recht aus der Mandatszeit vor dem Zweiten Weltkrieg und osmanischem Recht aus der langen Periode türkischer Herrschaft bis zum Ersten Weltkrieg. Gefängnisse, die akzeptablen Standards genügen würden, gibt es kaum. Die Polizisten sind schlecht ausgerüstet. Israel, das die West Bank seit 1967 besetzt, behält es sich vor, jederzeit Razzien in palästinensischen Städten durchzuführen und mutmaßliche Terroristen festzunehmen. Sind israelische Militärs aktiv, halten sich die palästinensischen Polizisten in Dschenin, Tulkarem, Nablus, Hebron und Ramallah diskret im Hintergrund, um Konflikte zu vermeiden. Und ganz unrecht ist es ihnen vielleicht nicht, dass die Israelis einen Teil der „Terrorbekämpfung“ übernehmen.

Richtig ist allerdings: Seit die neu ausgebildeten palästinensischen Polizisten ihren Dienst verrichten, ist es ruhiger geworden in den Straßen der West-Bank-Städte. Vor ein paar Jahren noch war Nablus für die chaotischen Verhältnisse berüchtigt, die in der 130 000 Einwohner zählenden Stadt im Norden der besetzten Gebiete herrschten. Bewaffnete junge Männer in aufreizender Machopose patrouillierten in den Straßen. Wie in den meisten anderen Städten tyrannisierten diese „Widerstandsgruppen“, die eher mafiösen Gangs glichen, die Bewohner. Jetzt haben sich viele dieser Milizen aufgelöst. Die Al-Aksa-Brigaden der Fatah, die während der zweiten Intifada Terrorangriffe auf israelische Ziele durchgeführt hatten, wurden zum Teil in die palästinensischen Sicherheitskräfte integriert. Wer keine Verwendung in der Polizei fand, erhält eine Art „Ruhegeld“. Die ehemaligen Aktivisten werden dafür bezahlt, ihre Waffen zu Hause zu lassen und ihre Tage in den Teehäusern zu verbringen. Auch in Hebron sollen die Polizisten dafür sorgen, dass Ruhe in den Straßen herrscht und die Islamisten keinen großen Einfluss gewinnen können. „Wir sorgen dafür, dass es in Hebron keine illegalen Waffen geben wird“, sagt ein Offizier selbstbewusst. Eine leichte Aufgabe ist das nicht: In einigen Vierteln hat sich seit 40 Jahren kein Polizist mehr blicken lassen.

Der Aufbau der palästinensischen Truppen ist Teil eines westlichen Plans, die wirtschaftliche Lage in der West Bank zu verbessern und dem Friedensprozess eine Chance zu geben. Das darf auch einiges kosten: Ende 2007 wurde den Palästinensern der West Bank eine Finanzhilfe von insgesamt 7,4 Milliarden Dollar versprochen – fast zwei Milliarden mehr, als Präsident Machmud Abbas gefordert hatte, um die notwendigen Fundamente für einen palästinensischen Staat legen zu können. Abbas und sein Ministerpräsident Salam Fajad genießen das Vertrauen des Westens. Bis 2010 will Abbas eine halbe Milliarde Dollar in die Infrastruktur der West Bank investieren, wo rund 2,4 Millionen Palästinenser (und etwa 187 000 jüdische Siedler) leben.

In Tulkarem, das direkt an der Waffenstillstandslinie von 1967 liegt, dürfte es gar nicht so einfach sein, einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen. Bis vor acht Jahren fanden viele Palästinenser Arbeit in Israel – doch auch zahlreiche Selbstmordattentäter aus Tulkarem nutzten die Grenznähe, um in das Kernland Israel einzudringen. Erst reagierte Israel, indem es die palästinensischen Arbeiter durch Gastarbeiter aus Osteuropa und Asien ersetzte. Mehr als Hunderttausend strömten seit dem Ende der neunziger Jahre in den jüdischen Staat. Nachdem sich die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde als unfähig oder nicht willens gezeigt hatten, die Selbstmordattentäter zu stoppen, errichtete Israel einen Sicherheitswall. Tulkarem ist von fast allen Seiten eingeschlossen.

Inzwischen ist der Wall fast fertiggestellt, der zum Teil an der Grünen Grenze verläuft, in vielen Gebieten aber in das palästinensische Gebiet einschneidet. Auch innerhalb der West Bank wird die Bewegungsfreiheit der Palästinenser empfindlich durch zahlreiche Checkpoints behindert. Wartezeiten von zwei Stunden und mehr sind dabei keine Ausnahmen. Durchreisebewilligungen können jederzeit ohne Angabe von Gründen annulliert werden. In der Folge entwickelte sich die palästinensische Wirtschaft nach innen. Zu den am schnellsten wachsenden Bereichen gehört die Verarbeitung von Agrarprodukten. Mitte der neunziger Jahre betrug der Anteil heimischer Lebensmittel nur 25 Prozent. Heute produzieren die Palästinenser der West Bank mehr als die Hälfte ihrer Nahrungsmittel selbst.

Das stärkt das politische Selbstbewusstsein – und erzeugt neue Ideen. Neuerdings gilt es als schick, israelische Produkte zu boykottieren, die vor ein paar Jahren noch den palästinensischen Markt überschwemmten.

Trotz dieser Einschränkungen entwickelt sich die Wirtschaft aber überall dort positiv, wo Abbas’ Polizeikräfte Ruhe und Ordnung herstellen konnten. In den vergangenen Monaten ging die Arbeitslosigkeit um drei Prozent zurück, zeigt eine Statistik des israelischen Verteidigungsministeriums. Mehr Palästinenser erhalten eine Arbeitsbewilligung für das Kernland Israel oder verdienen ihren Lebensunterhalt ironischerweise in den jüdischen Siedlungen. Die durchschnittlichen Tagelöhne sind um 24 Prozent gestiegen, der Handel mit Israel legte um 35 Prozent zu. Die Abwicklung des israelisch-palästinensischen Handels wird zwar durch extrem harte Sicherheitsauflagen erschwert, die aufwändig sind und die Kosten in die Höhe treiben. Und doch: An den sechs Grenzübergängen, die für den Warenverkehr als Korridore dienen, wurde bis Ende 2008 ein steigendes Volumen registriert, so eine Erhebung der palästinensischen Wirtschaftsorganisation Palestine Trade Center.

In Bethlehem hat sich die Zahl der Touristen nahezu verdoppelt. Hotels, die während der zweiten Intifada leer standen, sind jetzt wieder ausgebucht. Manche Touristengruppen halten sich gar nicht lange im nur wenige Kilometer nördlich gelegenen Jerusalem auf, sondern besuchen lieber nur die Geburtsstätte Jesu in der West Bank. Allen Widrigkeiten zum Trotz floriert in Ramallah, der inoffiziellen palästinensischen Hauptstadt, der Immobilienmarkt. Autoimporteure melden einen Anstieg von 953 Prozent in ihren Verkaufszahlen – ein Ergebnis, von dem europäische Autohändler nur träumen können.

Steigende Popularität der Hamas

Und dennoch ist es dem palästinensischen Präsidenten Abbas nicht gelungen, diese positiven Entwicklungen seinem eigenen Konto zuzuschreiben. Stattdessen sind die Popularitätswerte der Hamas steil nach oben geklettert. Laut einer Meinungsumfrage des Jerusalem Media & Communication Centers (JMCC) von Ende Januar ist die Hamas bei 26 Prozent der Bevölkerung der West Bank populär. Mehr als die Hälfte der Palästinenser zwischen Dschenin und Hebron sind laut Umfrage überzeugt, dass die Hamas den Krieg gegen Israel gewonnen habe. Die Palästinenser vertrauen dem Fatah-Politiker Machmud Abbas weit weniger als dem Premier der Hamas in Gaza, Ismail Hanijeh. Es sei ganz und gar nicht ausgeschlossen, erklärt der in Ramallah ansässige Politologe Khalil Shikaki, dass die Hamas die nächsten Wahlen in der West Bank ebenso für sich entscheiden könnte wie 2005 in Gaza.

Abbas, so Shikaki, werde verachtet, weil er sich zur Marionette des Westens habe degradieren lassen und dem Volk keinen Frieden bringe. „Dass Abbas nichts getan hat, um den Leuten in Gaza beizustehen, wird ihm in der West Bank angekreidet“, sagt Shikaki. „Die Bereitschaft zu einer Verständigung mit Israel ist bei der Bevölkerung auf einem Tiefpunkt.“ Tatsächlich ist Koexistenz für einen großen Teil der Bewohner kein Thema mehr. Die Hoffnung auf Frieden sei auf dem Nullpunkt angelangt, erklärt Nisrin Abdallah, die sich als Friedensaktivistin bezeichnet: „Der Glaube an Gewalt gewinnt wieder an Popularität.“ Selbst in der säkularen Stadt Ramallah sei „fundamentalistisches Gedankengut“ jetzt im Trend, Frauen ohne Kopftuch sind in der Stadt, in der auch viele Christen wohnen, kaum mehr in den Straßen zu sehen. Die Kluft zwischen Fatah und Hamas sei bereits tief gewesen, nachdem die Islamisten im Juni 2007 in Gaza die Macht an sich rissen. Nach dem Krieg in Gaza, dem nun ein Waffenstillstand folgen soll, scheine die Feindschaft zwischen Abbas und der Hamas unüberbrückbar, sagt Abdallah. Wie sähen unter diesen Umständen die Chancen auf ein Abkommen zwischen Fatah und Hamas aus, das als Grundvoraussetzung für weitere Verhandlungen mit Israel gilt?

Besuch bei Jahia Akuba, der in Nablus vor vier Monaten in ein führendes Fatah-Komitee gewählt wurde und Abbas unterstützt. Der 37-jährige Beamte warnt vor einem Dialog mit den Islamisten in Gaza. Sie führten dort ein grausames Regime. Noch während des Gaza-Kriegs, aber vor allem nach dem Waffenstillstand hätte die Hamas mindestens 180 Fatah-Anhänger ermordet, verstümmelt oder gefoltert. Eine von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International veröffentlichte Mitteilung spricht von zwei Dutzend Fatah-Anhängern, die kaltschnäuzig ermordet worden seien. „Eine große Anzahl“ sei durch gezielte Schüsse in Beine oder Knie, Folterungen oder brutale Schläge schwer verletzt worden. „Mit solchen blutrünstigen Tyrannen lassen wir uns nicht zusammenspannen“, sagt Akuba, „wir müssen verhindern, dass die Hamas in der West Bank an die Macht kommt.“ Deshalb gehe Abbas entschlossen gegen die Institutionen der Hamas vor. Deshalb habe Abbas bei Solidaritätsbekundungen der Palästinenser mit den Menschen in Gaza das Mitführen von Hamas-Fahnen verboten. So habe man, sagt Abbas-Anhänger Jahia Akuba, „den Ausbruch einer dritten Intifada verhindert.“ Auch Fatah-Anhänger Akuba weiß allerdings, dass Abbas der Hamas in der West Bank nur dann dauerhaft etwas entgegensetzen kann, wenn er Fortschritte im Friedensprozess vorweist. Es sei jetzt an Israel, meint Akuba, endlich Konzessionen zu machen, die Lebensqualität der Palästinenser zu verbessern und damit die Hamas zu verhindern. Nach den Wahlen vom 10. Februar, bei denen Israel überwiegend für rechte Parteien gestimmt habe, sei das allerdings nicht einfacher geworden.

In seinem Haus in Tulkarem empfängt Rafat Nassif Besuch. Der 43-Jährige ist der Einzige, der in der West Bank befugt ist, im Namen der Hamas Auskunft zu geben. Auch er hat schon in einem palästinensischen Gefängnis gesessen: „Wenn mein Name in den Medien auftaucht, muss ich immer mit meiner Verhaftung rechnen.“

Der groß gewachsene Aktivist nimmt das Risiko auf sich. Denn die Hamas sei die einzige Bewegung, die die israelische Besatzung loswerden könne, sagt er. „Ganz Palästina gehört uns.“ Der Frage, ob sich seine Bewegung in der West Bank auf den Kampf vorbereite, weicht der Mann mit dem Bart und der breiten Nase allerdings aus. „Die Hamas hat einen militärischen Flügel in der West Bank“, sagt er nur – niemand sei befugt, darüber Auskunft zu geben.

Laut israelischen Geheimdienstkreisen haben die Hamas und andere radikale Gruppen in der West Bank reichlich Waffen versteckt – Gewehre, Handgranaten und Bomben. Aber sie hätten es, anders als in Gaza, noch nicht geschafft, Armeestrukturen aufzubauen. Die Präsenz israelischer Truppen und palästinensischer Sicherheitskräfte habe das bisher verhindert.

Etwas leutseliger wird Nassif, wenn’s ums Private geht. Gestern habe er sich verlobt: Mit einer 30-jährigen Frau aus einer religiösen Familie in Hebron, die seine Familie für ihn ausgesucht habe. Wegen des Blutvergießens in Gaza habe er jedoch bloß eine kleine Feier veranstaltet. In zwei Wochen wolle er dann heiraten. Das Datum sei noch offen: „Ich weiß ja nie, ob ich nicht ins Gefängnis gesteckt werde.“ In den vergangenen Monaten haben ihn die palästinensischen Behörden in der Regel nach Fernsehinterviews verhaftet. Auch während des Gesprächs rechnet er jeden Moment damit, dass Polizisten hereinstürmen und ihn festnehmen. 700 Hamas-Mitglieder seien derzeit in palästinensischen Gefängnissen, schätzt Nassif. Die meisten Politiker der Hamas sitzen allerdings in israelischen Haftanstalten.

Wie so viele Palästinenser ist auch Nassif ein Zerrissener. Den Wohnraum mit seinen sechs breiten, ockergelben Plüschsesseln dominiert ein in die Wand gemeißeltes Relief des Felsendoms und der Jerusalemer Altstadt. Das Kunstwerk an der Wand, sagt Nassif nicht ohne ironischen Unterton, stamme von einem Freund, der ein hoher Offizier bei den Abbas-Truppen sei und ihn jederzeit verhaften könnte. Unter den Sicherheitskräften könnte auch sein Bruder sein, der im Sold der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Abbas stehe. „Der Riss“, sagt Nassif, „geht bei uns eben quer durch die Familien.“

Null Toleranz

Die Toleranz der palästinensischen Polizei für Regimefeinde ist mittlerweile nahe null. Die Sicherheitskräfte von Abbas greifen jeden auf, der im Verdacht steht, die Hamas zu unterstützen. Und sie machen Jagd auf diejenigen, die Terrorattentate gegen Israel vorbereiten. Allein in den vergangenen drei Wochen wurden in der West Bank mindestens 135 Hamas-Anhänger festgenommen – Journalisten, Professoren, Studenten und Prediger. In einigen Fällen wurden sie zunächst von der israelischen Armee arretiert, um dann nach der Freilassung von den palästinensischen Sicherheitskräften ins Gefängnis gesteckt zu werden. Demnächst will die Autonomiebehörde auch gegen Imame vorgehen, die während des Gaza-Kriegs Sympathie für die Hamas bekundeten, sagt der Minister für Religiöse Angelegenheiten, Jamal Bawatneh. Mindestens drei Imame aus Ramallah wurden in den letzten Wochen verhaftet. Man werde nicht dulden, so Bawatneh, dass Moscheen für politische Aktivitäten missbraucht würden.

Ende Januar lernte auch der Hamas-Sympathisant und Politologe Sattar Kassem den Preis für derlei politische Präferenzen kennen. Sein Fall offenbart zugleich: Die Palästinenser sind ein gespaltenes Volk. Entweder ist man für die jeweilige Gruppierung. Oder man ist ihr Feind.

Kassem ist eine elegante Erscheinung: sportlich gekleidet, dunkler Teint, pechschwarze, tief liegende Augen, die wild funkeln, wenn er seine vernichtende Meinung über Palästinenserpräsident Mahmud Abbas kundtut. Der 60-Jährige macht aus seiner Geringschätzung für Abbas keinen Hehl.

In seinen Vorlesungen an der An-Najah-National-Universität von Nablus, in Vorträgen und in Interviews mit arabischen Sendern lobt er die Radikalislamisten und ihre engen Beziehungen zum Iran. Das macht ihn zum derzeit populärsten Intellektuellen in der West Bank. Auf arabischen Sendern ist er ein gefragter Interviewpartner. Deshalb betrachtet ihn Abbas als Gefahr. „Ich äußere mich immer wieder kritisch darüber, dass Abbas so eng mit den Israelis zusammenarbeitet“, sagt der Politologe. Wie viele Palästinenser hält er das für Kollaboration mit dem Feind. „Das hat die Palästinensische Autonomiebehörde nicht gern.“ Innerhalb kurzer Zeit wurde sein Wagen vier Mal angezündet. Die Täter hätten politische Interessen, sie wollten ihn einschüchtern, sagt er – und man habe ihn gewarnt. Wenige Tage vor dem Anschlag habe ihn der Geheimdienstchef angerufen und ihm unmissverständlich klargemacht: Über die Palästinensische Autonomiebehörde lästert man besser nicht.

PIERRE HEUMANN ist Korrespondent des führenden Schweizer Wochenmagazins Weltwoche in Tel Aviv.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2009, S. 64 - 72.

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