Ein geplagtes Land
Seit Monaten wüten in Kenia die Heuschrecken, nun auch noch das Corona-Virus.
Noch ist die Zahl der Corona-Infizierten in Kenia vergleichsweise niedrig in diesen frühen Apriltagen, aber die Sorge der Menschen ist groß. Und sie steckt mich an. Dabei sorge ich mich weniger um mich als um die Bevölkerung – und um die politische und wirtschaftliche Stabilität.
Ende März hat die Regierung ein nächtliches Ausgangsverbot erlassen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Eine richtige Maßnahme – aber die Umsetzung ist ein Desaster. Schon die erste Nacht der Ausgangssperre hat Polizeigewalt provoziert. Die Videos, die im Internet zu sehen sind, haben mich zutiefst beunruhigt. Polizisten prügeln mit Stöcken und Peitschen auf Menschen ein, die schon am Boden liegen. Tränengasschwaden ziehen durch die Straßen. Journalisten, die zur Berichterstattung unterwegs waren, wurden geschlagen, an der Arbeit gehindert. Die Regierung reagiert kaum auf die Exzesse. Ich frage mich, wie eine Bevölkerung reagieren wird, die durch das Virus und die staatliche Medizin dagegen unter größtem wirtschaftlichen und psychischen Druck steht. Und dann noch von den Vertretern des Staates mit Waffen bedroht wird.
Meine Sorge gilt vor allem denjenigen, die schon vor der Corona-Krise von der Hand in den Mund lebten. Denn vor dem Virus sind nicht alle gleich. Ganz im Gegenteil macht es die sozialen Unterschiede schlaglichtartig deutlich. Sobald die Regierung am 13. März den ersten Covid-19-Fall bestätigte, stürmte die kenianische Mittelschicht die Supermärkte. Manche schoben bis zu fünf Einkaufswagen durch die Gänge. „Wir haben kein Geld für Hamsterkäufe“, sagte mir dagegen Tom Omoni, als er in den sozialen Netzwerken die ersten Fotos von solchen Einkäufen sah. Omoni war Grundschullehrer, konnte von dem mageren Gehalt aber keine Familie ernähren. Jetzt betreibt er mit seinem Bruder in Mathare, einem der größten Slums in Nairobi, einen Laden für Handyreparaturen.
Etwa 60 Prozent der Hauptstadtbewohner leben in einer der Armensiedlungen. Zu Hause haben sie kein fließendes Wasser. Die im Viertel gemeinschaftlich genutzten Wasserhähne bleiben immer wieder trocken. Dann müssen die Menschen Wasser für relativ viel Geld kaufen. Das belastet ihre knappen Haushaltskassen zusätzlich, ebenso wie der Kauf von Seife, von Desinfektionsmitteln ganz zu schweigen. Schon die einfachsten Regeln zum Schutz gegen das Corona-Virus können sie nur mit Mühe befolgen. Und infolge der Corona-Krise werden die Einkommen nochmals drastisch sinken. „Die Slumbewohner können nicht zu Hause bleiben“, betont Omoni mit Blick auf die Ratschläge der Regierung, soziale Kontakte möglichst zu vermeiden und von zu Hause aus zu arbeiten. „Sie haben keine Reserven.“
Rund 80 Prozent der Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor, ohne jede soziale Absicherung. Laut dem kenianischen Statistikbüro verdienen zwei Drittel ihr Geld im Hotel- und Gaststättengewerbe. Der Sektor dürfte mit den rigiden Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus praktisch zum Erliegen kommen.
Omoni überlegt nun, mit seiner Frau und seinen drei Kindern „up country“ zu gehen, in das Dorf seiner Herkunft. Er sieht darin die einzige Chance, mehr Abstand zu anderen Menschen halten zu können. Viele Slumbewohner denken wie er. Ein paar Tage lang waren die Busse auf den Linien „up country“ überfüllt. Das könnte ein weiteres Risiko sein, denn die Rückkehrer aus der Hauptstadt in die Dörfer könnten das Virus in andere Landesteile tragen.
Viele Menschen stehen schon jetzt vor dem Nichts
Aber auch auf dem Land ist Kenia keine Insel der Seligen, ganz im Gegenteil. Denn dort wütet schon seit Monaten die schlimmste Heuschreckenplage seit 70 Jahren. Die ganze Region ist betroffen, vor allem aber Kenia, Äthiopien und Somalia. Ein durchschnittlicher Schwarm, der aus bis 40 Millionen Insekten besteht, kann am Tag 150 Kilometer weit fliegen. In dieser Zeit vertilgt er so viel Nahrung, wie für 35 000 Menschen an einem Tag ausreichend wäre. Viele Bauern und Viehzüchter stehen schon jetzt vor dem Nichts, weil die Heuschrecken ihre Felder oder die Weideflächen für ihr Vieh verwüstet haben. Und die Situation bleibt nach Einschätzung der FAO höchst alarmierend. Die Vereinten Nationen befürchten, dass sich die Wüstenheuschrecken in diesem Jahr bis zum 400-Fachen vermehren könnten.
Dabei haben in dieser Region laut FAO schon ohne die Heuschreckenplage fast zwölf Millionen Menschen nicht genug zu essen, denn seit Jahren erleben Bauern und Viehzüchter eine Katastrophe nach der anderen: Dürren und Überschwemmungen wechseln sich ab. In Somalia und im Jemen kommen langjährige bewaffnete Konflikte hinzu. Durch die Covid-19-Pandemie können internationale Experten nicht mehr in die Region reisen, zum Teil verzögert sich der Nachschub an Pestiziden oder Ausrüstung.
Im Moment ist diese zweite Plage in Kenia etwas in den Hintergrund getreten: Auch in Kenia überlagert die Angst vor dem Corona-Virus und den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zurzeit fast alles. Aber in diesen Tagen schlüpft eine nächste Heuschreckengeneration. Die jungen Insekten sind laut FAO besonders gefräßig. Und die nächste Regenzeit steht kurz bevor, die Bauern werden anfangen zu pflanzen. Für die Heuschrecken ein gefundenes Fressen, für Bauern, Viehzüchter und die Gesamtwirtschaft eine Katastrophe, denn die Landwirtschaft ist ein Schlüsselsektor in Kenia. Was für düstere Aussichten.
Bettina Rühl lebt und arbeitet als freie Journalistin in Nairobi.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 114-115