Demokratie ohne Glaubwürdigkeit
Die Menschen im Senegal haben genug von korrupten Politikern und kolonialen Machtstrukturen.
Kürzlich war ich im Senegal, er gilt als einer der stabileren Staaten auf dem afrikanischen Kontinent. Nach der jüngsten Serie von Militärputschen in west- und zentralafrikanischen Ländern scheint er damit immer mehr zur Ausnahme zu werden. Aber selbst hier ist die Stimmung unter der Oberfläche zum Zerreißen gespannt.
In der Hauptstadt Dakar traf ich die Rapperin Moonaya. Wobei Moonaya noch viel mehr ist als das, nämlich Mutter einer einjährigen Tochter, Pflegemutter ihrer Nichte, Juristin, Filmemacherin und Journalistin. Eines ihrer wichtigsten Stücke heißt „Il est temps“, „Es ist Zeit“. Sie spielte mir den offiziellen Clip auf ihrem Laptop vor. Es ist ein Aufruf an Afrikanerinnen und Afrikaner, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und die Machtverhältnisse zu ändern. „Wenn ich wütend bin, dann deshalb, weil wir uns alles gefallen lassen. Wir lassen uns wie Ziegen melken. Es ist an der Zeit, dass wir den Ton angeben“, rappt sie in einer Strophe. Moonaya drückt damit aus, was derzeit viele junge Menschen auf die Straßen afrikanischer Städte treibt: Sie sind neokoloniale Strukturen der Ausbeutung leid, fordern eine gerechtere Teilhabe am Wert ihrer Bodenschätze, demonstrieren gegen den wirtschaftlichen und politischen Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich.
Wütend ist auch Simon Kouka, Mitglied der politischen Bewegung „Y’en a marre“, „Es reicht“. Der Zustand des Senegal sei eine Schande, empört sich der 45-Jährige in einem Interview, das wir in einem Mittelschichtsviertel von Dakar führen, auf zwei Stühlen auf dem Bürgersteig sitzend. Kouka ist als Rapper, Start-up-Gründer und Familienvater viel beschäftigt, zwischen zwei Terminen hat er sich Zeit genommen für das Gespräch. „Guck dir unsere Straßen an“, fordert er mich auf und zeigt auf den löchrigen Asphaltbelag. „Selbst hier in der Hauptstadt sind sie eine solche Katastrophe, dass während der Regenzeit viele Viertel von Dakar überflutet sind.“ Wie recht er damit hat, kann ich wenige Tage später nach heftigen Regenfällen feststellen.
Wütende Proteste
Noch beschämender findet er aber den Zustand der senegalesischen Demokratie. „Derzeit sitzen Hunderte junge Leute in Haft, weil sie ihre Meinung gesagt und die Regierung kritisiert haben“, empört sich Kouka. „Und dass, obwohl der Senegal in vielen anderen afrikanischen Staaten als eine vorbildliche Demokratie gilt.“ Unter den Inhaftierten seien auch Mitglieder der Bewegung „Y’en a marre“.
Kouka und andere Rapper sowie Journalisten gründeten die Bewegung 2011. Ihr Anliegen waren zunächst soziale Fragen, dann kam der Kampf gegen die weit verbreitete Korruption und Veruntreuung staatlicher Mittel hinzu. 2012 konzentrierte sich die Bewegung auf ein politisches Ziel: zu verhindern, dass sich der damalige Präsident Abdoulaye Wade zum dritten Mal wählen ließ. „Y’en a marre“ demonstrierte und rief die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, ihre Rechte wahrzunehmen und sich für die Wahl registrieren zu lassen. Tatsächlich wurden 600 000 neue Wähler registriert – und Abdoulaye Wade wurde an den Urnen überraschend geschlagen. Seitdem ist Macky Sall Präsident.
Im Februar 2024 wird das Staatsoberhaupt neu gewählt. Nach den Regeln, die er selbst beeinflusst hat, darf Sall nicht mehr antreten. Seine Anhänger sehen das allerdings anders. Sie argumentieren, die Verfassungsänderung habe die Zählung wieder auf null gesetzt, seitdem habe Sall erst einmal – nämlich 2019 – erfolgreich kandidiert. Macky Sall sah das genauso, doch auf den Straßen entlud sich Protest.
Im Juni sendeten die Nachrichtenagenturen aus Dakar Bilder, wie sie bisher nur aus Krisenstaaten zu sehen waren: massive Proteste, ausgebrannte Fahrzeuge, der schwarze Rauch brennender Autoreifen, gepanzerte Polizeiwagen. Nach der Verurteilung des Oppositionsführers Ousmane Sonko am 1. Juni kam es in Dakar zu schweren Unruhen. Sonko galt als der aussichtsreichste Kandidat für die kommende Präsidentschaftswahl. In den vergangenen Monaten musste er sich immer neuer Vorwürfe und gerichtlicher Vorladungen erwehren. Ein Gericht verurteilte ihn zu zwei Jahren Haft wegen „Korrumpierung der Jugend“. Das macht es unwahrscheinlich, dass er für die Präsidentschaftswahl kandidieren kann. Die von ihm geleitete Partei PASTEF wurde aufgelöst. Dass im Senegal eine Partei aufgelöst werde, habe er sich bis dahin nicht vorstellen können, meint Kouka. Bei den Protesten gegen Sonkos Verurteilung wurden nach Angaben von Human Rights Watch mindestens 16 Menschen getötet, Hunderte im ganzen Land verhaftet. Schließlich beugte sich Sall dem massiven Protest der Massen und versprach, nicht nochmals zu kandidieren. Kritiker bezweifeln, dass er Wort halten wird.
In den Augen vieler Senegalesinnen und Senegalesen verlieren die nächsten Wahlen durch derartige Übergriffe und „Vorbereitung“ der Kandidatenlisten an Glaubwürdigkeit, lange bevor sich kurz vor dem tatsächlichen Wahltermin die Scheinwerfer der internationalen Medienhäuser auf den Senegal richten. Wenn Europa schließlich demokratische Wahlen entweder loben oder einfordern wird, werden viele im Land nur noch bitter lächeln oder wütend aufbegehren. Um das Ansehen solcher „Demokratien“ steht es derzeit in vielen afrikanischen Ländern schlecht, und das gilt auch für „den Westen“, der als Förderer der alten, „demokratischen“ Eliten gilt. Moonaya sprach mit mir in einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und dem unbedingten Willen nach Veränderung. Dass auf dem Kontinent große Umbrüche anstehen, schien mir einmal mehr zum Greifen nah.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 130-131
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