Unterm Radar

01. Jan. 2021

Ein anhaltender Völkermord

Am Schicksal der verfolgten muslimischen Rohingya hat sich nichts geändert. Weiten Teilen der Weltgemeinschaft fehlt indes der politische Wille einzuschreiten. Immerhin ist international Bewegung in die juristische Aufarbeitung gekommen.

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Bild: Rohingya-Flüchtlinge werden auf eine abgelegene Insel im bengalischen Golf transportiert
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Auf Twitter machte Tun Khin seinem Unmut Luft: Aung San Suu Kyis Wahlsieg habe ihr das Mandat verliehen, mit den Menschenrechtsverletzungen gegen die Rohingya fortzufahren, so der Präsident der Burmese Rohingya Organisation UK nach der Abstimmung vom 8. November 2020. Die Weltgemeinschaft müsse ihre Bemühungen verdoppeln, um die Rohingya zu schützen – vor allem müssten diese Staatsbürgerschaft und Bürgerrechte zurückerhalten.



Der eindringliche Appell liest sich wie ein Mantra. Staats- und Regierungschefs belassen es mehrheitlich bei wenigen Sanktionen und verbalem Druck auf Myanmar, während sich die Not der verfolgten muslimischen Minderheit verschlimmert hat.



Ein Rückblick: Im Zuge einer Offensive der myanmarischen Armee waren Ende August 2017 mehr als 740 000 Rohingya nach Bangladesch geflüchtet. Morde, Massenvergewaltigungen und das Niederbrennen ganzer Dörfer wurden vielfach dokumentiert. Getarnt waren die vorab geplanten Verbrechen als „Anti-Terrorkampf“, nachdem die militante Rohingya-Organisation ARSA Anschläge auf Polizei- und Grenzposten verübt hatte. Die Vereinten Nationen sowie Menschenrechtler sprechen dagegen von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu Recht.



Der 25. August 2017 markierte einen brutalen Höhepunkt dessen, was die Rohingya seit Jahrzehnten an staatlicher Gewalt erdulden müssen. Weil Bangladesch immer wieder Rohingya aufgenommen hat, fristen in Cox’s Bazar etwa eine Million Flüchtlinge ihr Dasein. Aus Verzweiflung nehmen manche eine weitere lebensgefährliche Flucht über das Meer auf sich, um beispielsweise nach Malaysia zu gelangen. Doch die dortige Regierung hat Bootsflüchtlinge zuletzt abgewiesen oder verhaften lassen und dies mit den strikten Bestimmungen wegen der Covid-19-Pandemie begründet. Bangladesch hat durchblicken lassen, dass es die Rohingya zunehmend als Last empfindet und damit begonnen, einen Teil der Flüchtlinge auf die unwirtliche Insel Bhasan Char zwangsumzusiedeln. Myanmar wiederum hat weiter kein Interesse daran, die Menschen zurückkehren zu lassen – entgegen offizieller Beteuerungen.

Ähnlich bedrückend ist das Schicksal der bis zu 600 000 in in der myanmarischen Region Rakhine verbliebenen Rohingya: Ihnen werde weiter das Recht auf Staatsbürgerschaft, auf Bewegungsfreiheit und Versorgung, darunter im Gesundheitswesen, verwehrt, kritisierte Amnesty International im Mai 2020. Dazu gehören auch jene Menschen, die bereits während der Pogrome 2012 innerhalb Rakhines vertrieben wurden: Kürzlich dokumentierte Human Rights Watch, dass etwa 130 000 Rohingya seit acht Jahren in 24 Lagern und lagerähnlichen Einrichtungen eingepfercht seien.



Ohne Staatsbürgerschaft

Das Apartheid-System zeigte sich nicht zuletzt bei den jüngsten Parlamentswahlen. Sowohl die Flüchtlinge in Bangladesch als auch die in Myanmar verbliebenen Rohingya waren von der Stimmabgabe ausgeschlossen; eine Reihe ihrer Kandidaten durfte nicht antreten. Hunderttausende betraf es schon 2015 – das hatte im Vorfeld die vor allem aus Ex-Generälen bestehende Regierung unter Präsident Thein Sein so bestimmt.



Als Suu Kyis „Nationale Liga für Demokratie“ (NLD) schon damals einen überwältigenden Sieg eingefahren hatte, hofften die Rohingya, die NLD werde das Gesetz von 1982 aufheben, das ihnen die Staatsbürgerschaft verweigert – vergebens. Stattdessen mussten sie die bittere Erfahrung machen, dass De-facto-Regierungschefin und Friedensnobelpreisträgerin Suu Kyi die Gräuel des Militärs unter Armeechef Min Aung Hlaing verteidigte und Völkermordvorwürfe zurückwies –unter anderem bei Anhörungen Ende 2019 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.



Darüber hinaus durften etwa 1,5 Millionen Menschen in hauptsächlich von ethnischen Minderheiten bevölkerten Regionen wie Rakhine, Kachin, Karen, Mon, Shan und Chin nicht wählen – offiziell wegen Sicherheitsbedenken. Die meisten Betroffenen gab es in Rakhine, wo seit 2019 ein Konflikt zwischen Myanmars Armee und den buddhistischen Rebellen der „Arakan Army“ eskaliert und trotz kürzlicher Gespräche beider Seiten ungelöst ist. Die EU hatte „die volle Inklusion“ aller Minderheitsgruppen, darunter der Rohingya, sowie Nachwahlen in diesen Regionen gefordert. Zugleich sprach Brüssel von einem „weiteren wichtigen Meilenstein in Myanmars demokratischer Transition“.



Doch von Demokratisierung kann wahrlich keine Rede sein. Das ist nicht allein dadurch bedingt, dass für die Armee 25 Prozent der Parlamentssitze reserviert blieben, sondern liegt wesentlich auch am Führungsstil der NLD: Während sie als Oppositionspartei auf Menschenwürde und Freiheit gepocht hatte, tritt sie in Regierungsverantwortung einstige Grundsätze mit Füßen.



Immerhin tut sich etwas bei der juristischen Aufarbeitung. Am 23. Januar 2020 hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag unter anderem verfügt, dass Myanmar „einstweilige Maßnahmen“ ergreifen müsse, um die Verbrechen gegen die Rohingya zu beenden und weitere Gräuel zu verhindern. Der Antrag war im November 2019 vom westafrikanischen Gambia im Namen der „Organisation für Islamische Zusammenarbeit“ eingebracht worden. Das höchste UN-Gericht hat jedoch keine Handhabe, die Anordnungen durchzusetzen. Kritiker fordern zu Recht ein globales Waffenembargo gegen Myanmar. Sanktionen sind wenig effektiv, wenn sie nur von einzelnen Ländern oder Staatengruppen lanciert werden. Indes erhielt Gambia, das weitere Dokumente eingereicht hat, um die Völkermordvorwürfe zu untermauern, Unterstützung von den Malediven, Kanada und den Niederlanden.



Der IGH ordnete zudem an, Myanmar müsse Berichte über seine Maßnahmen anfertigen. Der erste war Ende Mai 2020 übermittelt, aber nicht veröffentlicht worden. Kurz vor Ablauf der Frist monierte die Rohingya-Aktivistin und frühere politische Gefangene Wai Wai Nu, das Büro des Präsidenten habe lediglich „hochtrabende“ Anordnungen zum Schutz der Rohingya und anderer Bevölkerungsgruppen erlassen. Sechs Monate darauf war der zweite Report fällig. Allerdings reiche die bloße Einhaltung technischer Fristen nicht aus, kritisierte Grant Shubin vom Global Justice Center in New York. Myanmar habe nichts unternommen, um die Hauptursachen für Diskriminierung und Straflosigkeit zu beseitigen, die das anhaltende Risiko eines Völkermords an den Rohingya bedingten.



Weitere juristische Schritte

Auch der ebenfalls in Den Haag ansässige Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat Ermittlungen aufgenommen. Ein Richtergremium hatte Chefanklägerin Fatou Bensouda im November 2019 dazu autorisiert. Myanmar ist zwar kein Mitgliedstaat des Tribunals, Bangladesch aber schon. Bereits 2018 hatte der auch als Weltstrafgericht bezeichnete IStGH erklärt, Vertreibung und Verfolgung könnten untersucht werden. Die Definition dieser Verbrechen, die das Überqueren einer Landesgrenze voraussetze, liege im Fall der Rohingya auf der Hand.



Im Februar 2020 waren Ermittler für Beweisaufnahmen nach Bangladesch gereist. Sieben Monate später machte die Organisation Fortify Rights publik, dass zwei Soldaten aus Myanmar sich in Obhut des Gerichts befänden. Die 30 und 33 Jahre alten Deserteure hätten gestanden, 2017 an Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Unabhängig voneinander erklärten diese, sie hätten Befehle erhalten, „alle Rohingya auszurotten“. Unklar war zunächst, ob die beiden als Angeklagte oder Zeugen behandelt werden.



Zugleich kommt anderswo Bewegung in die Sache: Im Frühsommer 2020 hob ein Gericht in Buenos Aires eine Entscheidung in erster Instanz auf, kein Verfahren gegen Suu Kyi, Armeechef Min Aung Hlaing und weitere hochrangige Militärs einzuleiten. Die Klage war von der Burmese Rohingya Organisation UK sowie lateinamerikanischen Organisationen lanciert worden; vertreten wird erstere vom argentinischen Anwalt Tomás Ojéa Quintana, von 2008 bis 2014 UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Myanmar.



Das Prinzip „universeller Rechtsprechung“ ermöglicht es einheimischen Gerichten, bestimmte internationale Verbrechen zu verfolgen, auch wenn diese nicht in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurden. Demnach dürfte die argentinische Justiz auch nicht Ermittlungen des Den Haager Weltstrafgerichts ins Gehege kommen. Ob jeweils Urteile gefällt werden, wird sich zeigen.



So oder so werden Jahre vergehen. Sollte Myanmar tatsächlich wegen Völkermords schuldig gesprochen und sollten im Zuge dessen auch die mutmaßlich Verantwortlichen belangt werden, würde das eine bislang nicht dagewesene Dynamik entfalten und den Rohingya zu Gerechtigkeit verhelfen.



Nicola Glass ist freie Journalistin. Über 13 Jahre war sie Südostasien-Korrespondentin in Bangkok. Recherchen über die Rohingya gehören zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 12-14

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