IP

01. März 2019

Keine Rückkehr in Sicht

Die Krise um die nach Bangladesch geflüchteten Rohingya aus Myanmar dauert an. Und die Weltgemeinschaft drückt sich vor Mitverantwortung

Yanghee Lee ließ keinen Zweifel daran, wie sie die Krise um die geflüchteten Rohingya beurteilt: Eine baldige Rückkehr nach Myanmar ­halte sie für ausgeschlossen, betonte die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in Myanmar, Ende Januar nach einem Besuch in Bangladesch. Auch der Regierung in Dhaka ist das längst bewusst – trotz bisheriger Repatriierungsabkommen. So musste Mohammad Abul Kalam am späten Nachmittag des 15. November einräumen, dass aus der geplanten Rückkehr der ersten ­Rohingya-Flüchtlinge nach Myanmar vorerst nichts werde. Kurz zuvor hatten der Flüchtlingskommissar der bangladeschischen Regierung und seine Mitarbeiter noch versucht, Freiwillige für eine Repatriierung zu finden. Für die Betreffenden stünden Busse und Lastwagen bereit, außerdem würden sie mit Essen und Vorräten für drei Tage versorgt. Vergebens. Stattdessen protestierten Hunderte Rohingya: „Wir gehen nicht zurück“, hatten sie gerufen. Und: „Wir wollen unsere Rechte und die Staatsbürgerschaft garantiert bekommen.“

Da niemand freiwillig die Flüchtlingscamps in Bangladesch verlassen wolle, werde man die Menschen nicht zwingen, erklärte Abul Kalam schließlich. Damit war die zwischen Bangladesch und Myanmar getroffene Vereinbarung von Ende Oktober geplatzt. Auf Dauer aber können die Rohingya nicht in Bangladesch bleiben, betont die Regierung in Dhaka.

Die Tragödie der muslimischen Rohingya hat sich zur schwersten Flüchtlingskrise Asiens und zu einer der weltweit größten entwickelt. Die Betroffenen haben Gräuel unvorstellbaren Ausmaßes durchlitten: Gegenüber UN-Vertretern, Menschenrechtlern, Hilfsorganisationen und Journalisten schilderten sie Morde, Massenvergewaltigungen, Folter und das Niederbrennen ganzer Dörfer durch Myanmars Armee, Milizen und teils auch buddhistische Bürgerwehren. Selbst Kleinkinder und Babys wurden nicht verschont. Seit Beginn der jüngsten Militäroffensive in Myanmars westlichem Rakhine-Staat Ende August 2017 sind über 700 000 Rohingya ins benachbarte ­Bangladesch geflohen. Doch das südasiatische Land mit seinen etwa 166 Millionen Einwohnern, von denen viele selbst in absoluter Armut leben, ist mit dem Massenansturm überfordert.

Dabei liegt die Lösung des Problems nicht in Bangladesch, sondern in Myanmar. Doch in dem buddhistisch dominierten Land werden die Rohingya verächtlich als „Bengalis“ verunglimpft, als illegale Eindring­linge aus Bangladesch. Aufgrund eines Gesetzes von 1982 verweigert Myanmar den Angehörigen der muslimischen Volksgruppe die Staatsbürgerschaft, obwohl viele seit Generationen dort leben, die meisten davon im Bundesstaat Rakhine.

Vor den Gewaltexzessen der Armee waren Rohingya bereits 1978, Anfang der 1990er Jahre sowie im Oktober 2016 über die Grenze geflohen – und längst sind nicht alle zurückgekehrt. Mittlerweile harren im Distrikt Cox’s Bazar im Südosten von Bangladesch mehr als 900 000 Rohingya aus. Deren Not ist seit Jahrzehnten bekannt. Doch viele innerhalb der Weltgemeinschaft tun so, als wäre die Eskalation der gezielten Gewalt nicht absehbar gewesen, die UN-Ermittler und Menschenrechtler mittlerweile offiziell als „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einstufen.

Das brutale Vorgehen des myanmarischen Militärs kam keinesfalls aus heiterem Himmel. Bereits vor dem 25. August 2017, als die Miliz „Arakan Rohingya Salvation Army“ (ARSA) Dutzende Grenzposten von Polizei und Militär in Rakhine überfiel und die Armee mit einer Offensive gegen die gesamte Rohingya-Bevölkerung antwortete, gab es Indizien dafür, dass die staatlichen ­Gräuel geplant gewesen waren. So hatten verschiedene Medien im Vorfeld von Truppenverstärkungen in Rakhine berichtet. Demnach war die Krisenregion regelrecht „abgeriegelt“ worden. Nicht zuletzt bestätigten Flüchtlinge in Bangladesch, dass Myanmars Armee, die die brutalen Kampagnen bis heute als „Anti-Terror-Maßnahmen“ rechtfertigt, auch in jene Dörfer eingedrungen war, wo die ARSA gar nicht zugeschlagen hatte. Vor dem Hintergrund wachsender internationaler Kritik tat Armeechef Min Aung Hlaing die Massenflucht der Rohingya ins ­benachbarte Bangladesch als „Rückkehr der Bengalis in deren angestammte Heimat“ ab.

Kennzeichen eines Völkermords

An mahnenden Stimmen fehlt es nicht. Neben Menschenrechtsorganisationen hat auch Sonderberichterstatterin Yanghee Lee wiederholt die Weltgemeinschaft zum Handeln aufgerufen. Die Südkoreanerin hat sich zudem „bestürzt und enttäuscht“ darüber gezeigt, dass Myanmar ihr Parteilichkeit vorwirft und ihr im Dezember 2017 erneute Einreisen verwehrte: Die Verweigerung der Kooperation „kann nur als starkes Indiz dafür gewertet werden, dass im Rakhine-Staat sowie im übrigen Land etwas ganz Schreckliches vorgehen muss“. Wenig später erklärte Lee, das brutale Vorgehen gegen die Rohingya trage „Kennzeichen eines Völkermords“.

Ähnlich hatte sich der frühere UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad al-Hussein, geäußert und gefragt: „Wie viel müssen Menschen ertragen, bevor ihre Leiden wahrgenommen und ihre Identität und Rechte von ihrer Regierung und der Welt anerkannt wer­den?“ Zwar haben ausländische Regierungen und politische Entscheidungsträger Worte der Empörung und des Abscheus gefunden – aber zuvor alle Anzeichen einer Eskalation ­ignoriert. Damit sind sie für das Schicksal der Rohingya mitverantwortlich. Dass man ideologischen Interessen und wirtschaftlichen Beziehungen deutlich mehr Priorität einräumt als Menschenrechtsfragen, rächt sich nun bitter.

Interessen versus Menschenrechte

Wegen seiner Bodenschätze und Ressourcen wie Öl, Gas, Edelsteinen und Tropenhölzern sowie seiner strategisch günstigen Lage in Südostasien steht Myanmar seit Langem im Fadenkreuz internationaler Interessen. Schon zu Zeiten der Militärdiktatur, die nach außen im März 2011 endete, war China der treueste Verbündete der Generäle – politisch wie wirtschaftlich. Am chinesischen Veto im UN-Sicherheitsrat sind wiederholt Resolutionen gescheitert, welche die verheerende Menschenrechtslage in Myanmar verurteilen sollten. Auch heute steht Peking trotz eines nicht immer konfliktfreien Verhältnisses weiter an der Seite Myanmars, das seit 2016 von einer zivilen Regierung unter Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi geführt wird, in der das Militär jedoch der eigentliche Machtfaktor geblieben ist.

Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als ob sich Myanmar unter der seit 2011 vom damaligen Präsidenten Thein Sein betriebenen Öffnung verstärkt dem Westen, insbesondere den USA, zuwenden würde. Washington wollte sich auf die Fahne schreiben, es habe den Prozess der Liberalisierung in dem jahrzehntelang abgeschotteten Land aktiv vorangetrieben. Als damaliger US-Präsident besuchte Barack Obama im November 2012 Südostasien, darunter Myanmar. Die Visite war Teil eines Vorhabens, Asien verstärkt zum Dreh- und Angelpunkt sicherheits- und wirtschaftspolitischer Interessen zu machen, um den Chinesen nicht die vorherrschende Rolle in Südostasien zu überlassen.

Obamas Besuch in Myanmar erfolgte zu einem Zeitpunkt, als längst ersichtlich war, dass es in mehreren Teilen des Landes „brannte“. Im Juni 2011 hatte das Militär einen 17-jährigen Waffenstillstand mit den Rebellen der „Kachin Independence Army“ (KIA) gebrochen. Im Zuge des erneut aufflammenden Konflikts wurden mehr als 100 000 Kachin vertrieben. Auch im Norden des benachbarten Shan-Staates halten die bürgerkriegsähnlichen Zustände an. Der westliche Bundesstaat Rakhine, in dem bis zur jüngsten Vertreibung mehr als 90 Prozent der Rohingya lebten, wurde im Juni und Oktober 2012 zum Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen, in deren Zuge es Pogrome gegen Muslime gab. Mehr als 140 000 Menschen wurden vertrieben, die meisten davon Rohingya. Bis heute leben viele unter erbärmlichen Bedingungen in Lagern.  

Obwohl sich die USA dieser Lage bewusst waren, hatten sie ab 2012 eine sukzessive Lockerung der wirtschaftlichen Sanktionen angekündigt. Auch die EU hatte ihre Restrik­tionen bis auf ein Waffenembargo weitgehend aufgehoben. Somit belohnte die westliche Welt Myanmar damals für halbgare Reformen. „Der Westen hat immer in die andere Richtung geschaut, wenn es um Menschenrechtsverletzungen an ethnischen Volksgruppen ging“, resümierte Mark Farmaner, Direktor der Organisation Burma Campaign UK. „Obama wollte Myanmar als Erfolgsgeschichte präsentieren und reagierte nicht auf das, was mit den Rohingya geschah. Europa wünschte sich mehr Handel mit Asien und war es leid, Beziehungen zu belasten, indem es über die Menschenrechte in Myanmar stritt. Für die EU und die USA waren die Rohingya entbehrlich.“

Erst nachdem die jüngsten Vertreibungen beispiellose Ausmaße angenommen hatten, beschlossen die USA und EU neue Sanktionen gegen einige Kommandeure aus den Reihen der Armee und Polizei beziehungsweise drohten weitere Restriktionen an. So wurde im April 2018 das EU-Waffen­embargo gegen Myanmar verlängert und ausgeweitet und die militärische Zusammenarbeit mit der Armee des Landes untersagt. Weitere Kritik seitens Wa­shingtons gab es zudem am Rande eines Gipfels der Südostasiatischen Staatengemeinschaft (ASEAN) im November 2018: US-Vizepräsident Mike Pence erklärte bei einem Treffen mit De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi, die Gewalt gegen die muslimische Minderheit sei „nicht zu entschuldigen“. Dagegen haben die Friedensnobelpreisträgerin und ihre Regierung die Gräuel der Armee wiederholt verteidigt und Verbrechen wie Massenvergewaltigungen als Fake News abgetan.

Indes will Myanmars mächtiger Nachbar China vor allem eines: Stabilität an den Grenzen. Die Region um die Stadt Kyaukpyu im ­Rakhine-Staat ist von zentraler Bedeutung für ­Chinas „Belt-and-­Road“-Projekt, das die Bucht von Bengalen mit Kunming in der südchinesischen Yunnan-Provinz verbindet und unter anderem Öl- und Gaspipelines umfasst. Pläne für den Ausbau eines Tiefseehafens hat Myanmar Berichten zufolge allerdings drastisch zurückgeschraubt – aus finanziellen Gründen, wie es hieß. Demnach befürchtete die Regierung in Naypyidaw, auf möglichen Milliardenschulden sitzen zu bleiben. Die Neuverhandlungen sahen Beobachter als Test dafür an, wie belastbar die bilateralen Beziehungen sind. Schließlich ist Myanmar angesichts wachsender Kritik am brutalen Umgang mit den Rohingya immer mehr auf die Unterstützung Pekings angewiesen.

Im November 2017 hatte China einen Drei-Stufen-Plan vorgeschlagen. Dieser sah eine Waffenruhe, Verhandlungen über eine Rückführung der Flüchtlinge nach Rakhine und eine wirtschaftliche Entwicklung des Krisenstaats mit Unterstützung Pekings vor. Dabei könnten auch die UN und die internationale Gemeinschaft eine konstruktive Rolle spielen, so China. Die Volksrepublik gilt als treibende Kraft hinter den Vereinbarungen zwischen Myanmar und Bangladesch zur Repatriierung der Rohingya, die bis dato ins Leere liefen: Bevor Dhaka die zuletzt für den 15. November geplante Rückführung aufschob, war schon ein im November 2017 geschlossenes Abkommen nicht umgesetzt worden, wonach mit der Repatriierung im Januar 2018 begonnen werden sollte.

Geht es jedoch um eine mögliche Strafverfolgung, liegt Peking offenbar daran, dass die Rohingya-­Krise „nicht verkompliziert, ausgedehnt oder internationalisiert“ wird. Das sagte Chinas Außenminister Wang Yi im September 2018. Da hatte der UN-Menschenrechtsrat angekündigt, Beweise für den mutmaßlichen Völkermord an den Rohingya sicherzustellen und eine neue unabhängige Stelle für Ermittlungen einzurichten. Am Ende votierten 35 Staaten, darunter Deutschland, für die Resolution, während China, die Philippinen und Burundi dagegen stimmten. Sieben weitere Länder enthielten sich.

Spaltung der ASEAN-Mitglieder

Die Rohingya-Flüchtlinge betonen wiederholt, sie gingen nur dann zurück, wenn man ihnen die Staatsbürgerschaft zuerkenne, sie für ihren zerstörten Besitz entschädige und die für die Verbrechen Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehe. Entgegen offizieller Beteuerungen und bisheriger Abmachungen mit Bangladesch lässt Myanmar nicht erkennen, dass es willens ist, die Flüchtlinge heimkehren zu lassen. Im März 2018 ­dokumentierte Amnesty International, wie auf Flächen niedergebrannter Rohingya-Dörfer neue Straßen und Gebäude entstanden. Unter anderem würden in Rakhine, wo sich mittlerweile ein weiterer Konflikt entlädt, „Stützpunkte zur Unterbringung von Angehörigen des Militärs und der Grenzpolizei errichtet und Hubschrauberlandeplätze gebaut“, so die Organisation und sprach von einer „Militarisierung mit alarmierender Geschwindigkeit“.

Der ASEAN-Verband, dessen Mitgliedstaaten zumeist autoritär bis diktatorisch regiert werden, praktiziert traditionell eine Politik der Nichteinmischung. Doch auch dort tun sich seit einiger Zeit Risse hinsichtlich des Umgangs mit den Rohingya auf. So hält das muslimisch geprägte Malaysia nicht mit Kritik hinterm Berg. Premierminister Mahathir Mohamad monierte, Suu Kyi versuche, „das Unentschuldbare zu entschuldigen“. Konsequenzen fordert längst auch die ASEAN-Parlamentariergruppe für Menschenrechte (APHR): „Die ­ASEAN-Länder müssen die zerstörerische Politik der Nichteinmischung beenden und echte Maßnahmen ergreifen“, sagte APHR-Vorstand Eva Kusuma Sundari, Mitglied des indonesischen Repräsentantenhauses, deren Land seit Januar für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied im UN-­Sicherheitsrat sitzt. „Wir können nicht zulassen, dass diese Gräuel in einem unserer Mitgliedstaaten völlig ungestraft stattfinden.“

Ähnlich äußerten sich auch andere Menschenrechtler: So pochen Organisationen wie Human Rights Watch und Burma Campaign UK unter anderem auf ein globales Waffen­embargo gegen Myanmars Generäle. Kritisiert wurde vor allem, dass Armeechef Min Aung Hlaing zwischenzeitlich auch in Belgien, Italien, Österreich und Deutschland der rote Teppich ausgerollt worden war. Myanmars Oberbefehlshaber sei ein Kriegsverbrecher, kritisierte Mark Farmaner von Burma Campaign UK. „Der einzige Ort in Europa, an dem Min Aung Hlaing erscheinen sollte, ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag.“

Damit stellt sich die Frage nach juristischer Aufarbeitung. Eine UN-­Kommission unter Vorsitz des indonesischen Juristen Marzuki Darusman, die Myanmars Militärs, allen voran Min Aung Hlaing, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der zivilen Regierung unter Suu Kyi eine Mitschuld vorwirft, fordert, die Gräuel müssen vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag oder einem Sondertribunal untersucht und geahndet werden.

Beobachter sind bislang davon ausgegangen, dass China und Russland als ständige Mitglieder des Sicherheitsrats gegen strafrechtliche Konsequenzen stimmen würden, darunter eine Verweisung Myanmars an Den Haag oder ein anderes Tribunal. ICC-Chef­anklägerin Fatou Bensouda kündigt indes an, sie werde vorläufige Ermittlungen wegen „erzwungener Deportation“ der Rohingya aufnehmen, nachdem sich der ICC zuvor für befugt erklärt hatte, über die Massenvertreibungen zu urteilen.

Es verwundert nicht, dass Myanmar eine Kooperation mit Den Haag mit der Begründung verweigert, es sei kein Mitgliedstaat des Tribunals. Der Nachbar Bangladesch dagegen, der das Rom-Statut unterzeichnet hat, begrüßt den Vorstoß. Ob es letzten Endes tatsächlich zu einem Gerichtsprozess kommt, bleibt abzuwarten. Eine Lösung der Rohingya-Flüchtlings­krise ist jedenfalls nicht in Sicht.

Nicola Glass ist freie Journalistin und hat viele Jahre als Südostasien-Korrespondentin in Bangkok gearbeitet. Anfang 2018 recherchierte sie in Bangladesch zur Rohingya-Flüchtlingskrise.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 98-103

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren