Ein Adieu dem Autoritarismus
Armenien blickt vorsichtig optimistisch in die Zukunft.
Für den postsowjetischen Raum war es ein ganz außergewöhnlicher Vorgang: die friedliche Revolution 2018 in Armenien. Im Unterschied zu den Umwälzungen in der Ukraine 2004 und 2013 erfolgte hier der Wandel auf gewaltfreie Weise. Bei den Massenprotesten in Jerewan ging es um nicht weniger als den konsequenten Abschied von jener nachkommunistischen Korruptionslethargie, die das 1991 unabhängig gewordene Land beinahe drei Jahrzehnte lang in einem unerquicklichen Dornröschenschlaf gehalten hatte. Und wie sieht die Lage heute, zwei Jahre später aus?
Ministerpräsident Nikol Paschinjan, der damalige Protestführer, der die ersten transparenten Parlamentswahlen im Dezember 2018 haushoch gewonnen hatte, ist noch immer populär. Aber er wird keineswegs als Heilsbringer betrachtet. Ohnehin hat die erfolgreiche Transformation eines autoritären Systems in eine parlamentarische Debattendemokratie zahlreiche Mütter und Väter: Viele derer, die damals auf den Straßen Jerewans waren – Mitarbeiter von Menschenrechts-NGOs oder Thinktanks, junge Leute aus der IT-Branche und mit Auslandserfahrung – sind inzwischen Mitglieder der Regierung geworden oder haben ihre Parlamentarierbüros dies- und jenseits der riesigen Saalfluchten eines noch zu Sowjetzeiten gebauten Gebäudes.
Dass Premier Paschinjan inzwischen Teile des umgebenden Parks der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, ist mehr als nur ein kosmetischer Bruch mit jenen pompösen Repräsentations-Usancen, die sogar den Zerfall der Sowjetunion überdauert hatten. Politikerwagen mit abgedunkelten Scheiben rasen inzwischen nicht mehr durch Jerewans von Platanen gesäumte Straßen, und die Medien berichten längst völlig angstfrei über die verbliebenen Oligarchenstrukturen. Der Antikorruptionsaktivist Daniel Ioannisjan, Gründer von Armeniens erster Faktencheck-Webseite, erklärt den Grund dafür: „Transparenz und Korruptionsabwesenheit sind die Währung, die wir sofort in Umlauf bringen konnten, während die ökonomische Transformation des Landes wohl noch ungleich länger dauern wird.“
Der Preis für Moskaus Stillhalten
Hayk Konjorjan, einer jener jungen Parlamentarier, deren entspannt-modischer Habitus in keinem Widerspruch zu ihrem Fachwissen steht, weiß ebenfalls, wovon er spricht. Er und seine Generationsgenossen der regierenden Bürgerrechtspartei „Zivilvertrag“ – das Durchschnittsalter im Parlament beträgt mittlerweile 35 Jahre – haben einen heruntergewirtschafteten, kleptokratischen Staat geerbt, dessen Wirtschafts- und Politeliten entweder miteinander identisch waren oder sich gegenseitig die Pfründe zugeschoben hatten. Konjorjan beschreibt deshalb im Gespräch ein Verfahren, das durchaus plausibel klingt: Angesichts eines neuen, von Korruption nicht infizierten politischen Personals müssen Geschäftsleute nun nicht mehr in Parlaments- und Ministerposten hineindrängeln und können sich, befreit von der Last permanenten Antichambrierens, somit endlich auf ihre eigentliche Tätigkeit konzentrieren, was dann wiederum auch der Gesamtwirtschaft zugute käme.
So pragmatisch und freundlich die jungen Entscheidungsträger auch auf Fragen antworten, so angespannt wird ihre Mimik, wenn die Rede auf mögliche westliche Investitionen kommt. Unisono folgt daraufhin das Mantra, dass man mit vielen Ländern gute Wirtschaftsbeziehungen anstrebe, vor allem jedoch: mit Russland. Überdeutlich, dass dies der Preis ist, den das Land für Moskaus bisheriges Stillhalten zahlen muss angesichts einer in Regierungshandeln überführten Revolution, die dem merkantil-mafiotischen Autoritarismus des postsowjetischen Raumes derart vernehmlich Adieu sagt.
Bereits während der Straßenproteste vom April 2018 hatte deshalb der jetzige Ministerpräsident in engem Kontakt mit Armeniens traditionellem „Schutzpatron“ gestanden, um Kreml-Ängste vor einer möglichen „Ukrainisierung“ schon im Ansatz zu zerstreuen. Auch jetzt wird von Regierungsseite geradezu ostentativ betont, dass der innenpolitische Kampf für eine transparente Demokratie nichts an der außenpolitischen Orientierung ändere und das Ganze eine „regional begrenzte Angelegenheit“ sei. Weshalb auch sollte Armenien, ohnehin im geografischen Zangengriff der zwei feindlichen Nachbarstaaten Aserbaidschan und Türkei, angesichts russischer Nervosität, einer zurzeit hauptsächlich mit sich selbst beschäftigten EU und einer unberechenbaren amerikanischen Außenpolitik eine selbstmörderische Schaukelpolitik betreiben?
Und dennoch – Geopolitik ist nicht alles. Wohl einmalig in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, kooperiert zum Beispiel das armenische Bildungsministerium mit der Konrad-Adenauer-Stiftung, um ein Gymnasiallehrbuch für Gesellschaftskunde zu erarbeiten. Und einer der Plätze Jerewans wurde nach einem Russen benannt, jedoch mitnichten nach einem General, sondern nach dem Dissidenten und Menschenrechtler Andrej Sacharow.
Ganz zu schweigen von den Iranern, jungen Leuten aus der unteren Mittelschicht, die sich Flugreisen nach Westeuropa nicht leisten können und stattdessen mit dem Auto für verlängerte Wochenenden nach Armenien kommen. Dann fallen nicht erst in den Parks und Clubs von Jerewan bei den Frauen die verhassten Tschadors und die Männer delektieren sich an armenischem Kognak.
Beinahe unbemerkt von der Weltöffentlichkeit geht Armenien, leise und bedacht, den Weg ins Offene.
Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien sein Essayband „Dissidentisches Denken“ (Die Andere Bibliothek).
Internationale Politik 2, März/April 2020, S. 114-115