„Dissens mit dem Dogma“
Virtuelle Demokratie und Islam
Unabhängige Medien? Fehlanzeige. Parteien als Instrument politischer Willensbildung? Gibt es höchstens auf dem Papier. Aber nicht nur im Iran, sondern in der gesamten islamischen Welt ermöglichen Internet, SMS und Twitter der jungen Generation eine Auseinandersetzung mit Politik, Religion und Tradition, nach der sie sich schon lange gesehnt haben.
IP: Frau Manji, in Ihrem Buch „Der Aufbruch. Plädoyer für einen aufgeklärten Islam“ beschrieben Sie schon vor sechs Jahren „jugendliche Renegaten im Iran“, die sich das „Deutungsmonopol der Mullahs über den Islam“ nicht mehr gefallen lassen wollten. Fehlte hier nur eine Initialzündung und sind moderne Kommunikationsmedien die Instrumente, die eine Rebellion nun in Gang gebracht haben?
Manji: Internet, Blogs und andere elektronische Mittel der Kommunikation sind in der ganzen muslimischen Welt zu einer Möglichkeit geworden, sich offen auszudrücken. In den Blogs junger arabischer Israelis oder junger Muslime in Indien geben viele zu, dass es ihnen in einer Demokratie wie Israel besser geht als in jedem arabischen Land. Oder dass sie froh sind, in Indien und nicht in Pakistan zu leben. Vor laufenden Kameras allerdings wird das hinlänglich bekannte Lied von der Diskriminierung und Beleidigung des Islam und der Muslime gesungen.
IP: Blogs wären so etwas wie „Dunkelkammern der Demokratie“?
Manji: Wenn meine eigene Website ein Indikator ist, dann stimmt das nur bedingt, denn während des letzten Jahres habe ich etwas Erstaunliches bemerkt: Ich poste einige der Mails, die ich bekomme. Seit ich die Klarnamen der Verfasser nenne, bekomme ich noch wesentlich mehr Zuschriften. Ganz offensichtlich haben immer mehr Menschen das Bedürfnis, aus der Anonymität des Netzes aufzutauchen und offen ihren Dissens mit den herrschenden Dogmen ihrer Gesellschaften zu zeigen.
IP: Wie erklären Sie sich das?
Manji: Unterdrückung von Kritik und freiem Meinungsaustausch lässt nur zwei Optionen: sich zu fügen oder endlich Gesicht zu zeigen. Viele schreiben mir, wie beeindruckend sie es fänden, dass ich eine kritische Auseinandersetzung mit unserer Religion und mit angeblich unantastbaren Traditionen fordere, und dass ich dabei noch am Leben bin und sogar auf Bodyguards verzichte, obwohl ich auf das Übelste beschimpft und sogar mit dem Tod bedroht werde.
IP: Eine gewisse Öffentlichkeit würde also Schutz bieten?
Manji: Nein, leider nicht. Diese Leute riskieren viel. Aber sie zeigen Gesicht, weil sich in jüngster Zeit nicht zuletzt mit Hilfe des Internets etwas ungeheuer Wichtiges entwickelt hat. Mehr und mehr Menschen haben es satt, zum Schweigen verurteilt zu sein oder offene Kritik an ihrer Religion oder den autoritären Regimen, von denen sie regiert werden, als „Verrat“ denunziert zu sehen. Viele von ihnen, das sehe ich an den Mails, die ich bekomme, ringen mit ihrem Glauben. Sie wollen ihn erhalten, aber sie würden sich abwenden, wenn er weiterhin so dogmatisch bleibt. Nur haben sie bislang immer gewartet, dass irgendwo eine charismatische Gestalt auftaucht, die eine Revolution gegen dieses erstarrte System anführen würde.
IP: Blogs, Foren, Twitter erlauben ihnen aber, sich zu vernetzen, ein Gefühl der Macht vermittelt zu bekommen und damit den Mut zu fassen, Veränderungen selbst in Gang zu setzen?
Manji: Genau. Meines Erachtens ist das genau der Effekt, der im Iran eingetreten ist und nur eine Initialzündung benötigte. Gerade den Jüngeren hat man immer vermittelt, dass sie gar nicht den Einfluss besitzen, Änderungen herbeizuführen. Weil es sowieso nicht erlaubt ist, eigenständig zu denken. Und selbst wenn sie eigenständig denken würden, so hätte das keinerlei Bedeutung, weil ja schließlich das Regime oder die geistlichen Autoritäten über das wahre Wissen verfügen. Man hat versucht, ihnen einzubläuen, dass sie vom Westen erniedrigt würden. Und jetzt sehen sie ein, dass es die eigenen Herrscher sind, die sie beständig erniedrigen.
IP: Welche Rolle spielen der Regierungswechsel in den USA und die Tatsache, dass Barack Obama es so gut verstand, moderne Medien zu nutzen, um sich direkt an die Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Ostens zu wenden?
Manji: Es ist in der gesamten Region ein kollektives Aufatmen zu spüren. Obama verleiht Zuversicht – und zwar ganz bestimmt nicht, weil er ein Messias wäre, für den ihn offensichtlich so viele Menschen halten möchten. Es klingt jetzt ungeheuer vereinfacht, aber so wird es oft wahrgenommen: Er ist der erste schwarze US-Präsident. Er hat gezeigt, dass auch ein Außenseiter das mächtigste Amt der Welt erringen kann. Und er weiß die modernen Technologien zu nutzen. Das wird als „hip“ empfunden und das hat auch erst die Stimmung des „Yes, we can“ hervorgebracht, die jetzt auch viele Iraner ergreift. Obama hat mit Hilfe von Jungwählern und zahlreichen kleinen Spenden dieses Amt errungen. Das hat Vorbildfunktion für eine Generation, die bislang nur George W. Bush kannte und damit einen US-Präsidenten, der sich nur allzu leicht zur Ursache allen Übels stilisieren ließ.
IP: Trotz aller Vorteile, die Blogs bieten – echte Veränderungen können nicht mit einer „digitalen Revolution“ herbeigeführt werden. Dafür muss man am Ende schon den virtuellen Raum verlassen und auf die Straße gehen.
Manji: Natürlich. Aber ich will trotzdem noch einmal verdeutlichen, wie wichtig moderne Medien sind. Mir schrieb ein junger Mann aus Libyen. Er könne es nicht mehr aushalten, dass man ihm predige, der Islam sei eine Religion des Friedens und der Gerechtigkeit und gleichzeitig würden die Frauen schlecht behandelt und seien ungeheuerliche Beschimpfungen von Juden gang und gäbe. Er sei, schrieb er, kurz davor, sich von seinem Glauben abzuwenden. Seine Mutter zeige Verständnis, aber sein Vater habe ihm das allerschlimmste angedroht, was er sich vorstellen könne: ihm Computer und Mobiltelefon wegzunehmen und den Internetzugang zu sperren. Für den Vater ist das Internet die Quelle allen Übels. Für den Sohn ist es das einzige Mittel, seinen Glauben zu bewahren, weil es ihm erlaubt, sich mit anderen kritisch über seine Religion auseinanderzusetzen.
IP: Dennoch: Die Auseinandersetzung allein schafft noch keine kritische Masse für eine Veränderung.
Manji: Unterschätzen Sie das nicht, denn ohne diese Auseinandersetzung bleibt auch ein zündender Funke wirkungslos. Deshalb noch ein Beispiel: Es waren junge ägyptische Muslime, die mich aufgefordert haben, eine kostenlose Übersetzung meines Buches auf meine Website zu stellen. Das habe ich gemacht. Außerdem gibt es eine Fassung in Persisch, Urdu und Indonesisch. In diesen Übersetzungen wurde es über eine Million Mal heruntergeladen; die arabische Fassung allein über eine halbe Million Mal. Ganz offensichtlich gibt es sehr viele Menschen, die sich mit meinem Projekt einer „innerislamischen Aufklärung“ beschäftigen oder einer objektiveren Auseinandersetzung mit dem israelisch-palästinenischen Konflikt beschäftigen wollen.
IP: Es geht also darum, eine Debattenhoheit über die Inhalte des Islam zu gewinnen als um eine demokratische Graswurzelrevolution?
Manji: Ja, denn es bleibt ja nicht bei den Downloads. Vor kurzem erzählte mir eine Reporterin des New York Times Magazine, die in Jordanien, Syrien und im Libanon eine Geschichte über Ehrenmorde recherchierte, dass viele ihrer jungen Gesprächspartner eine Photokopie meines Buches mitgebracht haben – und zwar natürlich völlig unabhängig voneinander. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie groß die Auflage meines Buches wäre, wenn es regulär in arabischen oder anderen muslimischen Ländern erscheinen dürfte. Klar ist aber: In den Staaten, in denen Muslimen nicht die Möglichkeit gegeben ist, sich frei auszudrücken und kritische Gedanken zu ihren Traditionen und ihrer Religion zu äußern, funktioniert das Internet als Mittel offener Debatte besser, als wir uns das je hätten vorstellen können.
IP: Hat Technologie das Potenzial, echte politische Veränderungen zu bewirken?
Manji: Genau wie Wissenschaft oder Religion ist Technik kein Wert an sich. Die Nationalsozialisten missbrauchten die Wissenschaft. Aber deswegen wollen wir nicht auf sie verzichten. Es ist eine Katastrophe, wenn Religion dazu verwandt wird, absolute, ewig geltende Wahrheiten festzuschreiben, die nicht hinterfragt werden dürfen. Aber der Glaube kann jedem einzelnen von uns auch ein wunderbares Wertesystem schenken. Die „bösen Jungs“ wie Terroristen und Extremisten jeglicher Couleur gebrauchen doch dieselbe Technologie, vernetzen sich per Internet oder gründen Hassgruppen auf Facebook. Sie sind oft sogar noch geschickter im Umgang mit der Technik als die so genannten „westlich orientierten Leute“, die ihrem Unbehagen jetzt per Twitter oder Facebook Ausdruck geben. Viele von ihnen verfügen über eine sehr gute Ausbildung, oft in technischen und naturwissenschaftlichen Bereichen, und benutzen meist die neueste und beste Technologie.
IP: Und sie haben den Vorteil, eine einfache Botschaft zu vermitteln.
Manji: Man muss es ja fast mit einer Binsenweisheit ausdrücken: Ein Auto ist nur ein Gerät. Unfälle verursacht die Person hinter dem Steuer. Extremistische Botschaften sind mit Hilfe des Internets sogar noch leichter zu verbreiten als die frohe Botschaft der Demokratie. Wer sich in einer komplexen Welt nicht zurechtfindet, wer verzweifelt nach einer Identität sucht, ist doch viel offener für eine dieser großen Utopien und Visionen, in denen Extremisten so gerne schwelgen. Das vermittelt das Gefühl, mit einer bedeutenden Aufgabe betraut zu werden, die über das eigene kleine Leben weit hinaus weist. In viel größerem Ausmaß als das je möglich war, dient das Internet in diesem Fall als Instrument der Verführbarkeit. Aber gleichzeitig bietet es eben auch die Möglichkeit einer offenen Auseinandersetzung zwischen Menschen, die sonst an ihren Zweifeln ersticken würden. Es ist Plattform für eine offene Debatte. Und damit auch Grundlage für Demokratie und eine echte pluralistische Gesellschaft.
Das Gespräch führte Sylke Tempel.
IRSHAD MANJI wuchs als Tochter muslimischer Einwanderer aus Uganda in Kanada auf. Ihr „Plädoyer für einen aufgeklärten Islam“ erschien in mehr als 30 Ländern und Sprachen. Derzeit leitet sie als Senior Fellow der European Foundation for Democracy (Brüssel) das „Moral Courage Project“ in Zusammenarbeit mit der New York University. Sie blogt auf Irshadmanji.com.
Internationale Politik 7/8, Juli/August 2009, S. 36 - 39.