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01. Apr. 2005

»Reform beginnt mit den Frauen!«

Ohne die Lösung der Frauenfrage wird die muslimische Identitätsfindung scheitern

Die muslimische Schriftstellerin Irschad Mandschi über pluralistische Traditionen im Islam, arabischen Kulturimperialismus und Muslime im Westen

IP: Braucht der Islam ähnlich dem Christentum eine Reformation, wie im Westen oft gefordert wird? Oder wäre das eine unzulässige Einmischung in die religiösen Angelegenheiten des Islams?

Mandschi: Ein Konzept von außen ist gar nicht notwendig. Der Islam verfügt über eine wunderbare Kultur, die uns leider verloren ging: Itschtihad, eine Tradition unabhängigen Denkens, die es jedem Gläubigen erlaubt, unsere religiöse Praxis im Licht zeitgenössischer Umstände auf den neuesten Stand zu bringen. In den frühen Jahren des Islams pflegten wir diese Tradition. In den Schulen von Al-Andalus wurde gelehrt, dass die Studenten durchaus die Meinung der Experten ablehnen sollten, wenn sie eine bessere Beweisführung für ihre eigene Lesart vorlegen konnten. In Córdoba gab es 70 Bibliotheken, das sind mehr als wir heute in den meisten kosmopolitischen Großstädten finden würden. Ich bitte meine muslimischen Glaubensbrüder also gar nicht darum, fremde Tradition und Werte zu importieren. Ich erinnere sie nur daran, dass wir einst selbst über eine pluralistische, aufklärerische Tradition verfügten. Wer denkt, dass der Westen und die islamische Welt in einem unüberbrückbaren Gegensatz zueinander stünden, liegt falsch.

Mein Vorschlag vor allem für die in Europa und Nordamerika lebenden Muslime ist: Der Geist des Itschtihad hatte der muslimischen Welt einstmals zu einer führenden Rolle in Sachen Neugierde, Kreativität und Innovation verholfen. Jetzt, im 21. Jahrhundert, leben viele Muslime in der westlichen Welt, in der sie Gott sei Dank die Privilegien der Meinungsfreiheit genießen, das ungeheure Privileg, geistig herauszufordern und selbst herausgefordert zu werden. Warum nutzen wir nicht dieses Privileg, um die eisernen Ketten von den Toren des Itschtihad zu reißen?

IP: Der Islam ist doch per se pluralistisch, weil er keine oberste Autorität in Glaubensfragen anerkennt. Wie konnte eine solche Tradition „verloren gehen“?

Mandschi: Durch unsere eigenen Fehler, und nicht durch den Kolonialismus des Westens, wie oft behauptet wird. Die Machtkämpfe um die Nachfolge des Propheten während des Kalifats bescherten uns diese innerreligiöse Intoleranz. Solange diese Rivalenkämpfe innerhalb des Islams anhielten, sorgten die Kalifen in Bagdad dafür, dass „Abtrünnige,“ sprich freiere Geister, mundtot gemacht und die Tore des Itschtihad geschlossen wurden.

Heute haben wir nicht so sehr ein Problem mit dem Islam selbst, sondern mit dem arabischen Imperialismus innerhalb des Islams – ich benutze den Begriff „Imperialismus“ dabei ganz bewusst. Sehen Sie sich ein in der arabischen Welt so wichtiges Konzept wie das der „Ehre“ an – für mich einer der Hauptgründe für die inhumane Form, die der Islam heute annehmen kann. Dieses in weiten Teilen der arabischen Gesellschaft so bedeutende Konzept zwingt Frauen, ihre Individualität zugunsten der Reputation ihrer Männer aufzugeben. Frauen werden zum Besitz der ganzen Gesellschaft, ihr Leben gehört nicht ihnen selbst, sondern der Familie, dem Stamm, ja sogar der ganzen Nation. Werden sie einer Ehrverletzung aufgrund „schamlosen Handelns“ bezichtigt, ist ihre Strafe deshalb oft so unangemessen hoch, weil sie ein am gesamten Kollektiv begangenes Unheil sühnen müssen. Ein besonders absurdes Beispiel ist eine Verlautbarung der palästinensischen Fundamentalisten-Organisation Hamas vom Januar 2003. Hamas erlaube es nun auch Frauen, sich als Selbstmordattentäter in die Luft zu sprengen. „Bewerben“ dürften sich allerdings nur „Frauen, die ihre Ehre verloren hatten“. Die perverse Idee dahinter ist: Diese Frau kann die Schande, die sie mit ihrem „unzüchtigen Verhalten“ über eine ganze Nation gebracht hatte, auch nur mit einer Tat für die gesamte Nation wieder gutmachen. In diesem Fall besteht die Wiedergutmachung in der Ermordung möglichst vieler unschuldiger Menschen.

IP: Und die wesentlichen Impulse für die Operation „Itschtihad“ erwarten Sie von Muslimen des Westens?

Mandschi: Wir sollten hier zwischen Nordamerika – also USA und Kanada – und Europa unterscheiden, denn in ihrer Auseinandersetzung mit dem Islam und ihrer Behandlung der Muslime gibt es wesentliche Unterschiede. Wir Nordamerikaner betrachten Religion und Glauben nicht als völlig irrationale Faktoren. Selbst wenn irrationale Taten wie Terrorattentate aus einer Religion abgeleitet werden, lehnen wir nicht den Glauben als solches ab. In den USA finden Sie keine Kopftuchdebatte wie in Frankreich oder Deutschland. Eine Muslima würde nicht abgelehnt oder für rückständig gehalten werden, weil sie es vorzieht, mit Kopftuch herumzulaufen. Die Grundidee vor allem in den USA ist: Man ist nicht Amerikaner aufgrund einer bestimmten Hautfarbe oder Religion. Sondern wenn man die Idee der Freiheit und des Wettbewerbs akzeptieren kann. Willst du das, dann herzlich willkommen als Bürger der USA. Ich bin 36, wanderte mit meinen Eltern als Vierjährige ein, und niemals, wirklich niemals bezeichnete man mich als Migrantin. Ich bin ganz selbstverständlich Kanadierin. Europäische Muslime beschweren sich hingegen oft bei mir, dass sie schon in der zweiten oder dritten Generation in dem jeweiligen Land leben, aber immer noch als Einwanderer gelten. Das gibt ihnen ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Sie wissen nicht, was sie denn tun sollen, um endlich dazu zu gehören. In den USA und Kanada wird Religion dagegen als natürlicher, sogar willkommener Teil des Lebens akzeptiert. Jungen Muslimen fällt es deshalb leichter, sich öffentlich zu äußern und dabei nicht das Gefühl haben zu müssen, sich als Muslime verleugnen zu müssen.

IP: Die Europäer sind zu säkular, um den muslimischen Bürgern die Integration zu erleichtern?

Mandschi: Ich habe den Eindruck, dass ein großer Teil der Westeuropäer meint, die einzige Möglichkeit, „den Islam zu zähmen“, läge in einer vollständigen Säkularisierung, die an Atheismus grenzt und in der Intensität, mit der sie betrieben wird, schon wieder religiöse Züge annimmt. Gläubigen Muslimen begegnet man deshalb mit einem ungeheuren Misstrauen: Wer seine Religion praktiziert, war im besten Fall einer Hirnwäsche ausgesetzt. Im schlimmsten Fall ist die Person gefährlich. Viele junge Muslime in Europa sagen mir: Siehst du nun, warum wir in die Arme des Fundamentalismus getrieben werden? Dieses Argument finde ich allerdings absolut inakzeptabel. Wir haben Eigenverantwortung zu übernehmen. Fundamentalismus wird niemandem aufgezwungen. Deshalb sage ich diesen Leuten: Es war eure Wahl, eurer Unzufriedenheit mit der Gesellschaft, in der ihr lebt, auf diese Weise Luft zu machen. Aber ihr müsst euch nicht wundern, wenn man euch auch für diese Wahl verantwortlich macht.

IP: Welchen Anteil hätten denn muslimische Einwanderer für ihre eigene Integration zu leisten?

Mandschi: Es ist doch nicht schwer zu beobachten, wie viele muslimische Gemeinschaften sich auch selbst isolieren. Sie verschwören sich gegen sich selbst, indem sie sich unwillig zeigen, ein Teil der größeren Gemeinschaft zu werden. In vielen Moscheen und Koranschulen wird den Kindern eingebläut, dass Nichtmuslime Ungläubige sind, irgendwie schmutzig, korrupt und moralisch verkommen. Ich habe das als Kind selbst in diesem weltoffenen, multikulturellen Kanada erlebt. Man hat uns erzählt, dass wir uns mit nichtmuslimischen Kindern nicht befreunden dürften, weil sie „nadschas“ – schmutzig seien. Wir sollten mehr voneinander verlangen und uns nicht nur auf hübsche Podiumsdiskussionen verlassen. Direkte Fragen an muslimische Einwanderer sind gefordert: Was wollt ihr bei uns in Europa oder Nordamerika, seid ihr aus wirtschaftlichen Gründen gekommen, oder könnt ihr auch unsere Werte akzeptieren? Umgekehrt sollten Muslime geradeheraus fragen dürfen, und zwar coram publico: Kann sich die Mehrheitsgesellschaft vorstellen, dass wir auch einen Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten? Und wenn ja, wie sähe der aus?

IP: Trotzdem: Was gibt Ihnen denn angesichts derartiger „kindlicher Früherziehung“ den Optimismus, an die Wiedereinführung aufklärerischer Konzepte wie „Itschtihad“ zu glauben?

Mandschi: Ich glaube nicht an einfache Lösungen, aber ein paar hilfreiche Konzepte gäbe es schon. Während meiner Schulzeit war der muslimische Beitrag zur europäischen Zivilisation überhaupt kein Thema. Wir existierten nicht im Lehrplan. Erst sehr viel später verstand ich, welchen Beitrag die islamische Welt zur europäischen Renaissance geleistet hat. Es wäre schon förderlich, wenn wenigstens in den staatlichen Schulen auch der muslimische Beitrag zur westlichen Geschichte gelehrt würde. Das würde es Muslimen erleichtern, Werte wie Pluralismus und Demokratie zu akzeptieren und nicht mehr als etwas „Fremdes“ zu empfinden. Diese Werte entstanden auch nicht einfach so, sondern wuchsen in einem bestimmten kulturellen Kontext, in dem Christen, Juden und Muslime gemeinsam wirkten. Diese Werte sind Bestandteil ihrer eigenen Kultur.

IP: Gerade im Westen beharren aber manche darauf, dass man der islamischen Welt nicht ein „fremdes System“ – etwa die Demokratie – einfach „überstülpen“ dürfe.

Mandschi: Das Experiment beginnt ja gerade erst. Aber ich hoffe doch sehr, dass dieses Argument ganz falsch ist. Das Problem liegt – noch einmal – nicht so sehr am Islam, sondern an kulturellen Traditionen, die sich als Religion ausgeben. Stammesdenken ist eine wesentliche Säule arabischer Kultur und inhärent antidemokratisch. Dieser Tribalismus zwingt die weniger angesehenen Mitglieder des Stammes zur Loyalität gegenüber dem Stammesführer, ob er nun Familienoberhaupt, Scheich, oder Präsident ist.  Nicht nur das Wohlergehen, die physische Existenz des „kleinen Mannes“ ist vom Wohlwollen des Stammesführers abhängig. Dazu kommt ein völlig aus der Balance geratenes Verhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts entwickelte sich in der arabischen Welt eine Obsession nicht nur mit der Geschichte, sondern mit einem speziellen Abschnitt der Geschichte: dem glorreichen Gründungsmoment des Islams. Die militärische Macht der arabischen Kalifen war zerfallen und in die Hände nichtarabischer Muslime übergegangen. Was blieb, war eine ungeheuer ethnozentrische Konzentration auf den unbestreitbar ruhmreichen Moment der Begründung des Islams durch arabische Stämme, auf der Arabischen Halbinsel und mit einer Überlieferung in arabischer Sprache. Aus dieser Arretierung in der Geschichte folgte eine ganze Reihe konservativer Reformen, immer mit dem angeblich „reinen Islam“ des 7. Jahrhunderts, dem Moment seiner Geburt vor Augen. Nur eine liberale Reform erlebte der Islam nie.

IP: Der unter jungen europäischen Muslimen äußerst populäre Philosoph Tariq Ramadan empfiehlt, die „universalen Werte“ des Islams zu entdecken: Sie stünden in keinem Konflikt mit dem Rechtssystem der westlichen Staaten.

Mandschi: Ich halte Ramadan für doppelzüngig. Er spricht immer sehr esoterisch über diese „universalen Werte“, aber er steigt nie von seinem hohen Ross, um sich konkret zu erklären. Spätestens wenn es um die Rechte der Frauen geht, kneift er. Er sprach sich nicht eindeutig gegen die barbarische Strafe der Steinigung von Ehebrecherinnen aus, wie sie in einigen islamischen Ländern praktiziert wird. Nein, er wollte ein Moratorium anregen. Ich finde viele seiner Positionen, besonders in der Frauenfrage, absolut abstoßend. Dennoch hat er ein Recht, sie zu vertreten. Dass man ihm ein Einreisevisum für die USA verweigerte, halte ich für einen großen Fehler. Er wäre dort auf sehr viele Muslime getroffen, die ihm theologisch und politisch Paroli geboten hätten. So aber kann er sich zum Märtyrer stilisieren. Das findet besten Nährboden bei seinen jungen, zunehmend radikalisierten und fundamentalistischen Anhängern mit ihrem Opferkult.

IP: Sie sprachen vom „arabischen Kulturimperialismus“. Regt sich denn in der nichtarabischen Welt des Islams Widerstand?

Mandschi: Der Anteil arabischer Muslime in der gesamten Welt beträgt weniger als 20 Prozent. Die größte Gruppe bei meinen Lesungen sind nichtarabische Muslime. Wann immer ich auf den arabischen Kulturimperialismus zu sprechen komme, nicken sie zustimmend. Aber es herrscht ein Klima der Angst, in dem viele es nicht wagen, laut davon zu sprechen. Es ist dem arabisch geprägten Islam ja auch gelungen, eine Sichtweise durchzusetzen, die eine offene Diskussion weiter erschwert: Angesichts der Bedrohung des „amerikanischen und zionistischen Imperialismus“ muss die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen, fest zusammenstehen und darf keine Abweichungen nach außen zeigen. Angesichts des Feindes müssen wir fest zusammenstehen. Abweichendes wird in alter Tradition unterdrückt. Dabei kamen die liberalsten Impulse innerhalb des Islams traditionell aus Süd- und Süd-ostasien. Und der israelisch-palästinensische Konflikt war dort vor einiger Zeit noch, was er wirklich ist: ein Regionalkonflikt wie viele andere auch, und keine Angelegenheit, die in irgendeiner Weise Einfluss auf die Art und Weise nehmen sollte, wie Gläubige ihren Islam praktizieren oder auslegen. In der nichtarabischen Welt braut sich etwas zusammen. Aber es ist noch nicht sichtbar. Die größte Hoffnung setze ich auf die jungen Muslime der westlichen Welt, besonders in Amerika. Zum ersten Mal in Jahrhunderten stehen ihnen die aussichtsreichsten Möglichkeiten für eine liberale Reform zur Verfügung, weil sie das Privileg besitzen, in offenen Gesellschaften zu leben.

IP:Wenn wir uns die Attentäter des 11. September ansehen, könnten wir auch zu einem anderen Schluss kommen: Sie alle verbrachten viele Jahre im Westen, wandten sich angewidert von dessen angeblicher moralischer Zerrüttung ab und dem radikalen Fundamentalismus zu.

Mandschi: Ich wäre keine Feministin, wenn ich an dieser Stelle nicht deutlich darauf hinweisen würde, dass sich keine einzige Frau unter den Terroristen befand – und dass hier ein Schlüssel für meine Operation Itschtihad liegt, die eine längst überfällige liberale Reform anstrebt. „Operation Itschtihad“ beginnt damit, Frauen wirtschaftliche Möglichkeiten zu eröffnen, indem man ihnen Minikredite zur Verfügung stellt und ihnen damit die Chance gibt, sich ein eigenes Einkommen zu verdienen. Theologisch ist das selbst unter konservativen Klerikern nicht umstritten. Frauen dürfen selbst verdientes Geld zu 100 Prozent behalten und völlig eigenständig entscheiden, wofür sie es verwenden wollen. Die Frauen in Kabul oder Bangladesch, wo sich die Politik der Mikrokredite als unglaublich erfolgreich erwiesen hat, machen vor, wie man dieses Geld verwendet: für die eigene Ausbildung und die der Kinder, für eine bessere Ernährung, eine bessere Zukunft. Die Idee der Mikrokredite ist eine der besten und erfolgreichsten Ideen der Wirtschaftsgeschichte. Frauen zahlen, im Gegensatz zu Männern, pünktlich zurück und verwenden das Geld für sinnvolle Dinge.

IP: Die Attentäter des 11. September stammten nicht aus ungebildeten Schichten, sondern gehörten zur Bildungselite.

Mandschi: Aber sie handeln für die Masse armer und ungebildeter Sympathisanten. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Die größte Rate weiblicher Analphabeten lebt in der islamischen Welt. Finanzielle Unabhängigkeit führt Frauen aus der Dunkelheit des Analphabetismus. Sie wären auch in der Lage, den Koran zu lesen und zu verstehen und müssten nicht mehr hinnehmen, dass Imame sie mit ausgewählten Textstellen vollstopfen, die seltsamerweise die Benachteiligung der Frauen rechtfertigen. Der Koran ist ein kryptisches Buch. Andere Textstellen verurteilen die Benachteiligung von Frauen.

IP: Der Impuls für die liberale Reform sollte aus dem Islam entstehen und nicht aus der Auseinandersetzung mit einem, zumindest in Europa, als areligiös empfundenen Westen?

Mandschi: Das halte ich wenigstens für unsere Generation für eine wesentlich erfolgreichere Strategie. Vergessen Sie nicht, dass der Islam für eine Milliarde Menschen weltweit eine Säule der Identität ist. Ein Dialog außerhalb dieser Parameter ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Will ich wenigstens mittelfristig Ergebnisse erzielen, müssen wir in einer Sprache sprechen, die beide verstehen. Und wenn die Menschen eben so sehr im Islam verwurzelt sind, müssen wir Elemente innerhalb des Islams finden, die uns in die Richtung einer liberalen Reform, Demokratie, Pluralismus und einem Konzept von Menschenrechten führen, das nicht auf der Idee des Kollektivs beruht wie in der arabischen Welt. Sondern auf der Idee unveräußerlicher Rechte für jedes Individuum. Mir geht es darum, Muslimen zu sagen, dass sie ihren Glauben sehr viel treuer erfüllen können,  wenn sie den Koran selbst lesen können und wenn sie sehen, dass Allah in der Tat jedem Individuum diese Rechte gibt.

IP: Also steht die Frauenfrage im Zentrum einer Reform?

Mandschi: Unbedingt. Diese Meinung teile ich mit Islamwissenschaftlern wie Bernard Lewis. Natürlich ist es ein ungeheures Unterfangen, Jahrhunderte lang gewachsene Traditionen aufzubrechen, die wiederum auf den kulturellen Überlagerungen des Islams und nicht unbedingt auf den Schriften selbst beruhen. Immerhin lässt sich ja darauf verweisen, dass die erste Frau des Propheten Mohammed selbst Geschäftsfrau war, und der Prophet ihr Angestellter. Ich glaube auch nicht, dass wir tauben Ohren predigen würden. Den männlichen Besuchern meiner Lesungen sage ich oft: Träumt ihr nicht von anderen Karrieremöglichkeiten als den drei klassischen Bereichen, die euch zumal in den Diktaturen der arabischen Welt offen stehen: Sicherheitsdienste, Militär, Bürokratie? Würdet ihr nicht studieren und etwas anderes tun wollen, wäre es nicht hilfreich, wenn Frauen zum Einkommen beitragen könnten und einen Teil der Last von euren Schultern nähmen? Die meisten reagieren eher erleichtert als ablehnend. In der arabischen Welt leben heute 298 Millionen Einwohner. In 15 Jahren werden es laut einer UN-Studie 400 Millionen sein. Wir müssen für diese Kinder und Jugendlichen eine wirtschaftliche Perspektive finden, Jobs, in denen sie sich kreativ verwirklichen können. Und das gelingt nur mit einer integrierten Wirtschaft, einer Ökonomie, die nicht mehr 50 Prozent ihres Potenzials, die Frauen, ausschließt.

Das Gespräch führte Sylke Tempel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2005, S. 58 - 63.

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