Die Zukunft ist schon da
Mein fünfjähriges Kind verbrachte den Lockdown damit, gelangweilt aus dem Fenster zu starren. Ich starrte auf Zoom-Konferenzen. Mein Sohn wartete darauf, dass eine aufregendere Zukunft anbrechen würde. Ich spekulierte darüber, wie die Welt im Jahr 2030 aussehen könnte, für das Joint Research Centre der EU etwa oder die NATO. Wahrscheinlich fragten wir uns das Gleiche: Wo bleiben die fliegenden Autos, die uns versprochen wurden?
Um sich die Zeit zu vertreiben, las mein Junge „Der Kater mit Hut“, das von einer anarchischen Katze handelt, die zwei Kinder besucht, die an einem regnerischen Tag zu Hause festsitzen. Ich las William Gibson, den Erfinder von Cyberpunk-Figuren wie Johnny Mnemonic. Der Kater zeigt den Kindern all die spaßigen Dinge direkt vor ihrer Nase. Gibson macht das auch. Einer seiner berühmtesten Sätze lautet: „Die Zukunft ist schon da, nur nicht gleichmäßig verteilt.“
Gibson möchte, dass wir uns an der Zukunft freuen, solange wir können, weil die wirklich revolutionären Technologien und Entwicklungen bereits banal geworden sind, wenn wir sie entdecken. Das ist der Grund, warum wir nie „Zukunftsschocks“ erleiden, die Ankunft einer hypermodernen Technologie oder Praxis nicht plötzlich ist: Die Zukunft hat uns jahrelang ins Gesicht gestarrt. Zum Beispiel Zoom: Seit 1968 gibt es die Technologie für Videokonferenzen; wir alle lachten darüber, weil sie kaum einer nutzte. Nun verändert sie all unsere Leben, aber auf höchst banale Art. Wir werden sie achselzuckend als weiteres arbeitsökonomisches Mittel aufnehmen, wie zuvor schon Staubsauger und E-Mail.
Ich gebe dafür Donald Rumsfeld die Schuld. Der ehemalige US-Verteidigungsminister hat die Begriffe geprägt, auf die die Zukunftsindustrie heute baut. Er war keine anarchische Katze, und er übersah die aufregende Zukunft direkt vor seiner Nase – die „unknown knowns“. Welche sind das heute? Meine Zukunfts-Diskussionsgruppen sagten den Zusammenbruch der internationalen Kooperation zwischen den USA und China voraus, mit einem dazwischen zerquetschten Europa. Der Pfizer-Biontech-Impfstoff aber kommt aus Europa und ist ein Triumph des Internationalismus, der Migration und der Innovation. Ist die Zukunft schon da?
Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 136