Die Zukunft beginnt im Kopf
Europa muss sich anstrengen, wenn es den Anschluss nicht verlieren will
Die erste Dampflok fuhr 15 Meilen pro Stunde – und trotzdem gab es in den Pionierzeiten der Eisenbahn warnende Stimmen, die hohe Geschwindigkeit würde zu Atemnot und schließlich zum Tod der Passagiere führen. Erst im Rückblick auf historische Umbrüche, die durch technologische Neuerungen ausgelöst wurden, scheint der Gang des Fortschritts von zwingender Logik zu sein. Für manchen damaligen Zeitgenossen aber war der Fortschrittssprung, den die Erfindung der Dampfmaschine und die Industrialisierung gebracht haben, schlicht unvorstellbar.
Auch auf dem Weg ins Zeitalter der Telekommunikation waren Skepsis und Widerstände zu überwinden: Das Telefon, so befand 1878 der Chefingenieur der britischen Post, sei eine überflüssige Erfindung. Wozu gäbe es Boten-jungen? Und als in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts das US-Verteidigungsministerium ein Projekt zur Vernetzung von Forschungseinrichtungen startete, sahen Skeptiker darin eine Gefahr. Dass dies die Internetrevolution einläuten und die Welt verändern würde, hätte damals niemand geglaubt. Es war also stets eine Revolution in den Köpfen und Herzen notwendig, damit eine neue Technologie ihre volle Schubkraft entfalten und den Fortschritt bringen konnte, der im modernen Alltag nicht mehr wegzudenken ist.
Erleben wir heute wieder eine industrielle Revolution, die Generationen nach uns als bahnbrechend feiern werden? Diese Frage muss von zwei Seiten betrachtet werden: zum einen aus Sicht der technologischen Entwicklungen, zum anderen aus Sicht ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz.
Dass wir dringend neue technologische Lösungen brauchen, liegt auf der Hand. Vor dem Hintergrund gewaltiger wirtschaftlicher und politischer Veränderungen müssen Probleme gelöst werden, die den ganzen Globus betreffen: Statt heute 6,5 Milliarden werden 2030 mehr als acht Milliarden Menschen auf der Welt leben. Sie alle brauchen Lebensmittel, Wasser und vor allem Rohstoffe und Energie. Die rasant anwachsende Nachfrage wird problematische Folgen für Klima, Umwelt und Sozialgefüge und letzten Endes für Wachstum und Wohlstand haben – wenn wir nicht schon heute gegensteuern.
Die Technologien dafür werden bereits in den Forschungslaboren von Instituten und Industrieunternehmen entwickelt. Beispiele sind etwa die Nanotechnologie für Energiesparhäuser oder emissionsarme Autos mit Brennstoffzellen und neuartigen Batterien; oder die Biotechnologie für Gesundheit und bessere Ernährung. Bis Technologien ihr volles Potenzial entfalten, ist es in der Regel ein langer Weg: Sie werden auf Unbedenklichkeit für Mensch und Umwelt geprüft und detaillierten Technikfolgeabschätzungen unterworfen. Erst auf dieser Grundlage kann die Gesellschaft diskutieren – mit klaren Argumenten und ohne ideologische Scheuklappen. Doch die Debatte darf sich nicht im Endlosen verlieren und Entwicklungen blockieren. Sie muss beizeiten in politische Entscheidungen münden, um eine lebenswerte Zukunft für uns alle zu gestalten.
Wie sieht unsere Welt in 20 Jahren aus? Einige große globale Trends sind bereits deutlich erkennbar. Nehmen wir zum Beispiel den Themenkomplex Energie, Ressourcen und Klima: Wenn wir weitermachen wie bisher, wird der globale Energiebedarf bis 2030 um über 50 Prozent wachsen. Entsprechend schnell schrumpfen die Ölvorräte, und der Ausstoß von Treibhausgasen heizt die Erde auf. Dabei könnten wir das Anwachsen des Energieverbrauchs auf deutlich weniger als 20 Prozent beschränken, ohne unseren Wohlstand und weiteres Wachstum zu gefährden – wenn wir die Chancen heute schon verfügbarer Technologien und deren Weiterentwicklung nutzten.
Dafür müssen Politik und Gesellschaft umdenken. Zumeist verweisen sie beim Thema Energiesparen und Klimaschutz zuerst reflexartig auf die Industrie. Sicher muss und kann die industrielle Fertigung noch energieeffizienter werden. Doch darf sie ihre globale Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft nicht durch einseitige Maßnahmen verlieren. Gerade die europäische -Industrie bietet für Ressourcenschonung und mehr Klimaschutz schon vielfältige Lösungen: von effizienten Prozessen zur Energiegewinnung und industriellen Fertigung bis hin zu Produkten, die Industriekunden und Endverbrauchern helfen, Energie und damit Emissionen zu sparen. Und dies ist erst der Anfang.
Viel Sparpotenzial steckt in den privaten Haushalten. Allein der Bereich Wohnen verschlingt in Deutschland rund 20 Prozent des gesamten Energieverbrauchs. Schon heute -könnte man mit modernen Dämmstoffen den Energieverbrauch zum Heizen und Kühlen um über 70 Prozent senken. Sogar das „Null-Heizkosten-Haus“ ist technisch möglich – dank innovativer Baustoffe und moderner Heiz- und -Klimatechnik. In der produzierenden Industrie ist der schonende Umgang mit Ressourcen, Energie und Umwelt inzwischen ein handfester Wettbewerbsfaktor geworden. So ist die BASF Vorreiter mit einer umfassenden CO2-Bilanz: 3:1 fürs Klima. Das heißt, dass BASF-Produkte dreimal mehr Treibhausgase einsparen, als bei Herstellung, Verarbeitung und Entsorgung aller BASF--Erzeugnisse emittiert wird.
Die Umweltindustrie zählt in Europa zu einer der am stärksten wachsenden Branchen. Sie setzt im Jahr über 180 Milliarden Euro um und hat allein in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Umwelttechnologie ist ein Exportschlager und beflügelt den dringend notwendigen Technologietransfer in die heutigen Schwellenländer. Ohne auch dort alle Einsparmöglichkeiten auszuschöpfen, werden die globalen Ressourcen- und Energiefragen nicht gelöst, die globalen Klimaziele nicht erreicht werden. Politik, Gesellschaft und Industrie müssen dafür zusammenarbeiten.
Eine der weiteren großen Fragen, die über das Wohl und Wehe der wachsenden Erdbevölkerung entscheiden, ist die der Ernährung. Landwirtschaftliche Nutzflächen schrumpfen weltweit und Wasser wird immer knapper. Damit auf weniger Anbaufläche künftig mehr wächst, muss die industrielle Revolution auch auf dem Acker stattfinden. Die Pflanzenbiotechnologie kann wichtige Nutzpflanzen wie Mais, Sojabohne, Baumwolle und Raps ertragreicher und stressresistenter machen. So können sie zum Beispiel klimabedingte längere Trockenphasen unbeschadet überstehen. Zugleich können die Ernteerträge um 20 Prozent oder mehr gesteigert werden.
Doch Deutschland und Europa verschließen sich dieser Zukunftstechnologie. Während weltweit über 110 Millionen Hektar für den Anbau gen-technisch verbesserter Pflanzen genutzt werden, sind es in Europa gerade mal 0,1 Millionen Hektar. In den Entwicklungs- und Schwellenländern lagen die Wachstumsraten für grüne Gentechnik 2007 dreimal höher als in den Industrienationen. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen und jahrzehntelange Erfahrung im Anbau zeigen, dass die Pflanzenbiotechnologie sicher für Mensch und Umwelt ist. Europa muss klar sein: Die Gentechnik steht erst am Beginn ihrer Möglichkeiten. Sie wird sich weiterentwickeln, ob mit oder ohne europäische Zustimmung.
Die globalen wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse sind in Bewegung geraten. Die bisher führenden Industrieländer müssen sich an neue Konkurrenz gewöhnen. Neue Wirtschaftszentren werden sich etablieren. Die erste industrielle Revolution nahm ihren Ausgang zwar in Europa. Doch heute muss Europa sich enorm anstrengen, wenn es bei und vor allem nach der -gerade stattfindenden industriellen Revolution noch eine entscheidende Rolle spielen will. Wird Europa zu den Protagonisten einer neuen industriellen -Revolution gehören? Die Antwort ist leider ein kräftiges „Jein“. Denn Europa verharrt in einer mentalen Blockade. Gelingt es nicht, die gesellschaftliche Ablehnung gegenüber neuen Technologien zu überwinden, dann rollt der europäische Zug aufs Abstellgleis – und zwar schneller als mit 15 Meilen pro Stunde. Doch wenn wir die Zukunft im Kopf zulassen, dann werden wir in 20 Jahren den technologischen Fortschritt ganz selbstverständlich in unser Leben integriert haben. Mehr noch: Wir und erst recht unsere Kinder und Enkel werden sich einen Alltag ohne ihn gar nicht mehr vorstellen können.
Dr. JÜRGEN HAMBRECHT ist Vorstandsvorsitzender der BASF SE
Internationale Politik 10, Oktober 2008, S. 75 - 77