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01. Nov. 2019

Die Zukunft Afrikas entscheidet sich in den Städten

Chancen und Risiken der Urbanisierung wurden von der Bundesregierung bislang noch nicht wirklich beleuchtet. Vorschläge für einen neuen Ansatz.

Tempo und Ausmaß der Verstädterung in Afrika sind einmalig. Bereits heute weist der Kontinent den nach Asien zweithöchsten Zuwachs an Stadtbevölkerung auf. Während sich Europa oder die USA über mehrere Jahrhunderte urbanisierten, vollzieht sich dieser Prozess in Afrika innerhalb weniger Jahrzehnte. Allein von 1995 bis 2015 verdoppelte sich die Stadtbevölkerung von 236 auf 472 Millionen Menschen; bis 2050 wird sich diese Zahl auf 1,3 Milliarden erhöhen. Wichtige Staaten wie Nigeria oder Äthiopien bekommen ein urbanes Gesicht: Bis 2050 werden in Nigeria weitere 189 Millionen Menschen in Städten leben. Die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba vergrößert sich pro Stunde um 23 Menschen und hat damit eine höhere Wachstumsrate als New York, Istanbul oder Singapur.

Die schiere Wucht dieses Urbanisierungsschubs hat direkte Rückwirkungen auf globale Entwicklungen wie Klimawandel und Migration. Ob die Ziele des Pariser Klimaabkommens oder der Agenda 2030 erreicht werden können, hängt immer stärker auch davon ab, wie sich afrikanische Städte entwickeln. In den kommenden Jahren muss es also darum gehen, die Urbanisierung Afrikas bestmöglich zu gestalten.

Historisch gesehen sind Städte Zentren menschlicher Entwicklung und treibende Wirtschaftskräfte. Hier findet sozialer, politischer, kultureller, technischer und ökonomischer Wandel statt. In Nordamerika, Europa und Asien ging Urbanisierung mit erhöhter wirtschaftlicher Produktivität und mehr Beschäftigung einher. Diese Gleichung trifft bisher auf Afrika jedoch nicht zu. Dort führt Verstädterung meistens noch nicht zu einer vergleichbaren Erhöhung ökonomischer Produktivität: Der Großteil der Menschen verharrt in informellen Jobs; Städte breiten sich ungeordnet aus, Slums wachsen. Dennoch ziehen immer mehr Menschen in die Städte, da sie dort auf bessere Aufstiegschancen hoffen.

Sollte es in den Städten nicht gelingen, höheres Wirtschaftswachstum zu erzielen, wird es nicht nur an Jobs mangeln; zusätzlich wird den Stadtverwaltungen der finanzielle Spielraum fehlen, um all jene Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, die sich die Menschen in der Stadt versprechen, unter anderem Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung. „Failing cities“, also Städte, die kaum noch regierbar sind, drohen in diesem Szenario zu entstehen und für politische Instabilität zu sorgen.

All das geschieht auf dem afrikanischen Kontinent trotz Wachstumsraten von durchschnittlich 5 Prozent während der vergangenen 15 Jahre. Der Grund: Das Wirtschaftswachstum hält mit dem Bevölkerungswachstum nicht mit. Es braucht also politische Maßnahmen, die den urbanen Strukturwandel massiv beschleunigen und damit breitenwirksame Produktivitätssteigerungen ermöglichen.

Bis 2050 wird sich Afrikas Bevölkerung auf ca. 2,4 Milliarden fast verdoppeln. Das wirkt sich vor allem auf die Städte aus: Deren Bevölkerung verdreifacht sich in den nächsten 40 Jahren. Allein von 2015 bis 2030 wird die Zahl der Städte mit mehr als fünf Millionen Einwohnern von sechs auf 17 anwachsen. Die Bereitstellung von städtischer Infrastruktur und Dienstleistungen hält mit diesem Ausmaß und Tempo bisher nicht mit.



Infrastruktur wirkt weit in die Zukunft

Afrikanische Stadtverwaltungen stehen deshalb vor zwei großen Herausforderungen: Erstens müssen sie in viel kürzerer Zeit für viel mehr Menschen Infrastrukturen und Dienstleistungen bereitstellen, als es zuvor in Nordamerika, Europa oder Asien der Fall war. Zweitens dürfen bisherige CO2- und energieintensive Ansätze des Städtebaus nicht weiter verfolgt werden. Laut Angaben der Afrikanischen Entwicklungsbank müssen zwei Drittel der bis 2050 benötigten Infrastrukturinvestitionen noch getätigt werden. Diese Investitionen müssen sich an Nachhaltigkeitskriterien orientieren. Denn Infrastruktur wirkt weit in die Zukunft. Was in den kommenden Jahrzehnten gebaut wird, legt Emissionen und Ressourcenverbrauch über einen sehr langen Zeitraum fest.

Für Afrika werden Strategien benötigt, um den Strukturwandel massiv zu beschleunigen. Die Produktivität muss gesteigert werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Nachhaltige Urbanisierung ist dabei von zentra­ler Bedeutung. Hier spielen die Bereitstellung von Infrastruktur und die Entwicklung neuer Finanzierungsin­strumente eine wichtige Rolle.

Ausreichende und funktionierende In­frastruktur ermöglicht Konnektivität. Je enger Menschen und Ökonomien verbunden sind, desto eher entstehen Agglomerationseffekte, Wissensaustausch und Innovation, in deren Folge die Produktivität wächst.

Gegenwärtig gibt es bei der Finanzierung von Infrastruktur eine Lücke von etwa 93 Milliarden Dollar pro Jahr. Durch Bevölkerungswachstum steigt der Infrastrukturbedarf weiter. Gleichzeitig erhöht sich der Druck, so nachhaltig wie möglich zu bauen; damit steigt wiederum der Bedarf an Investitionen. Es wird aber immer deutlicher, dass es eine Lücke gibt zwischen global vereinbarten Zielen (Pariser Klimaabkommen, Agenda 2030) und nicht ausreichender Implementierungsfähigkeit von Städten. Dies liegt zum einen daran, dass die überwiegende Zahl an Städten nicht kreditwürdig ist, um Anleihen aufzunehmen. Zum anderen verfügen die Städte oft nicht über die notwendige politische Autonomie und damit verbundene Managementkapazitäten, um eigenständig Kredite aufzunehmen.

Beim Infrastrukturaufbau stehen vier Bereiche im Vordergrund, die einen breit angelegten Transformationsprozess mit entsprechendem Produktivitätswachstum ermöglichen:

  • Wohnraum: Dieses Thema und damit verbundene Infrastruktur wie Energie und Wasser werden von afrikanischen Regierungen bisher eher übersehen. In der Agenda 2063 der Afrikanischen Union werden sie nicht einmal erwähnt.
  • Verkehr/Mobilität: Afrikas Städte sind charakterisiert durch Staus, unkontrollierte Ausbreitung sowie begrenzten und überlasteten öffentlichen Nahverkehr. Dies verhindert den freien Austausch von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital.
  • Energie: Der Energiebedarf wird sich bis 2040 vervierfachen. Doch Energie ist nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Dabei verbraucht zum Beispiel Äthiopien mit seinen rund 100 Millionen Menschen nur ein Drittel der Elektrizität, die in Washington D.C. mit 600 000 Menschen pro Jahr verbraucht wird.
  • Digitales: Die Digitalisierung der Energie- und Verkehrsinfrastruktur ist Voraussetzung für die Erreichung der Ziele der Agenda 2030. Und individuelle Internetkonnektivität erhöht die Beschäftigungsperspektiven. Dort, wo es digitale Infrastruktur gibt, wird diese zum Beispiel beim Mobile Banking bereits mehr genutzt als in Europa. Im globalen Vergleich hinkt der Internetausbau in Afrika aber hinterher.

Legt man konventionelle Kriterien zur Finanzierung von Infrastruktur (Machbarkeit, Bank-/Kreditfähigkeit, Risiko) an, werden die meisten Städte Afrikas niemals Zugang zu ausreichenden Möglichkeiten haben. Außerhalb Südafrikas gibt es keine Städte, die über die rechtlichen Voraussetzungen verfügen, um Anleihen am Kapitalmarkt zu emittieren. Multilaterale Entwicklungsbanken finanzieren zwar Infrastrukturprojekte, die die kontinentale Konnektivität verbessern sollen; um Städte haben sie bisher aber einen Bogen gemacht. Zwischen 2012 und 2016 haben diese Banken nur 3 Prozent, China aber 15 Prozent urbane Infrastrukturprojekte finanziert. Mehr urbane Infrastrukturinvestitionen sind also geknüpft an die vorherige Entwicklung ­neuer und auf afrikanische Städte zugeschnittener Finanzierungs­instrumente.

Eine weitere wichtige Rolle spielt die Stärkung der administrativen Kapazitäten von Stadtverwaltungen. Um den Urbanisierungsschub auch nur einigermaßen angemessen steuern zu können, müssen diese Kapazitäten rasch ausgebaut werden. Für die Planung und Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen werden Fachwissen und Managementkapazitäten benötigt. Auch für die Projektzusammenarbeit mit multilateralen Entwicklungsbanken oder privaten Kapitalgebern ist dies von größter Bedeutung.

Häufig verfügen Städte aber nicht über die benötigten administrativen Kapazitäten und das technische Know-how. Das liegt auch am Unwillen der Zentralregierungen, den Städten in einem gewissen Rahmen eigenständiges Handeln zu ermöglichen. Um die Lücke zwischen Global-Governance-Zielen und lokaler Implementierung zu schließen, werden also neue Föderalisierungsimpulse benötigt. Ein Schritt in die richtige Richtung wären nationale Urbanisierungspläne, die Städten mehr exekutive Befugnisse einräumen. Daran anschließend muss die institutionelle Bereitschaft auf kommunaler Ebene gestärkt werden, um Pläne für Infrastrukturprojekte seriös aufzustellen. Dabei können multilaterale Entwicklungsbanken eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Afrikanische Entwicklungsbank, die erst kürzlich den Urban and Municipal Development Fund gegründet hat.



Der Beitrag deutscher Afrikapolitik

Da wir nicht wissen, wie der Prozess der Urbanisierung in Afrika verlaufen wird, müssen politische Initiativen neu gedacht werden. Hier einige Vorschläge, was Deutschland tun sollte:

  • Urbanisierungspartnerschaften ausweiten: Die „New Urban Agenda“ muss politisch mit Leben gefüllt werden. Dazu müssen Bürgermeister und Stadtverwaltungen gezielter unterstützt und weitergebildet werden, unter anderem in den Bereichen Stadt- und Landschaftsplanung, Architektur, Bau- und Verkehrsinfrastruktur, Digitalisierung und Finanzen. Allerdings müssen Stadtverwaltungen oft auf die Expertise von internationalen Beratern zurückgreifen, die Nachhaltigkeitskriterien in ihren Handlungsempfehlungen aber nicht ausreichend berücksichtigen. Bislang hat Deutschland nur mit Südafrika eine Urbanisierungspartnerschaft vereinbart; weitere sollten unbedingt folgen.
  • Entwicklung einer europäisch-afrikanischen politischen Agenda: Die politische Flankierung nachhaltiger Urbanisierung benötigt innovative Ideen und Konzepte. Diese könnten deutsche und afrikanische Institutionen (Thinktanks, politische Stiftungen, Universitäten) gemeinsam entwickeln. Dafür braucht es auch neue Visabestimmungen für nach Deutschland reisende Afrikanerinnen und Afrikaner.
  • Förderung einer europäisch-afrikanischen Infrastrukturallianz: Wenn das Thema auf die europäische Ebene gehoben wird, können finanzielle Hebelwirkungen entstehen. Im Rahmen der von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker initiierten Allianz Afrika-Europa wurde die Zusammenarbeit in strategischen Bereichen beschlossen; dazu wurden die Taskforces „ländliches Afrika“, „digitale Wirtschaft“, „Energie“ und „Verkehr“ gegründet. Was fehlt, ist eine Taskforce „Urbanisierung“. Hierfür sollte sich die Bundesregierung einsetzen. Urbanisierung sollte daher ein Schwerpunkt des 2020 anstehenden EU-AU-Gipfels werden.
  • Neue Finanzierungsinstrumente entwickeln: Deutschland sollte sich für eine Taskforce einsetzen, die neue Instrumente zur Infrastrukturfinanzierung entwickelt. Von der nationalen wie internationalen Politik braucht es dabei stärkere Signale, dass sich die Kreditvergabe an globalen Nachhaltigkeitszielen ausrichtet. Dazu müssen auch die Vergabekriterien multilateraler Entwicklungsbanken angepasst werden. In Indien hat die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ein erfolgversprechendes Modell erprobt. Mit eigenen Geldern unterstützt die KfW einen Fonds für kleinere Städte und Gemeinden, indem sie den Kommunen direkt Kredite und Zuschüsse zur Verfügung stellt sowie durch ein Finanzierungsvehikel ermöglicht, selbst Anleihen am Kapitalmarkt zu emittieren. Ähnliche Ansätze sind auch in Afrika vorstellbar.
  • Politische Dezentralisierung vorantreiben: Städte müssen klug regiert werden, brauchen eine gute Governance. Damit mehr Qualität und Führungskraft in die kommunalen Verwaltungen kommt, müssen mehr Entscheidungen und Budgets auf die Städte verlagert werden. Den Stadtregierungen müssen mehr exekutive Befugnisse übertragen werden (inklusive Steuern). Denn Bürgermeister vor Ort können häufig bessere Entscheidungen treffen als eine Zentralregierung. Dazu braucht es „föderale Kompromisse“, bei deren Ausgestaltung Deutschland behilflich sein könnte.
  • Datengrundlage für politische Entscheidungen schaffen: Städte brauchen Daten, um evidenzbasierte Entscheidungen (wo gibt es die meisten Staus, wohin ziehen die meisten Menschen) treffen zu können. Im Bereich Datenerhebung haben afrikanische Städte einen großen Nachholbedarf. Deutschland könnte über den Aufbau digitaler Infrastruktur (Clouds, Sensoren) dabei helfen, dass Stadtregierungen datenbasierte Entscheidungen treffen können.
  • Gezielte Ausbildungs- und Forschungsoffensiven vorantreiben: Das deutsche Hochschul- und Ausbildungswesen genießt in Afrika einen guten Ruf. Deutschland könnte durch den gezielten Aufbau von Bildungseinrichtungen, die sich auf urbane Transformation spezialisieren, Menschen qualifizieren.
  • Politische Aufwertung des Themas in der deutschen Debatte: Um dem Thema nachhaltige Urbanisierung die nötige innen- und außenpolitische Relevanz zu verleihen, sollte der Interministerielle Arbeitskreis Stadt durch die Beteiligung von Staatssekretären aufgewertet werden. Um das Engagement der Bundesregierung stärker zu bündeln, sollte eine Fortschreibung der Leitlinien der Bundesregierung zur internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Urbanisierung vorgenommen werden. Damit kann man der wachsenden außenpolitischen Relevanz Rechnung tragen und die handelnden Akteure für die Thematik sensibilisieren.



Neue Wege beschreiten

In den vergangenen Jahren sind eine Vielzahl afrikapolitischer Ministerialini­tiativen verabschiedet worden. Zuletzt wurden die afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung überarbeitet und weiterentwickelt. Die Chancen und Risiken der Urbanisierung in Afrika wurden dabei nicht wirklich beleuchtet. Erst auf der letzten Seite wird auf die Thematik verwiesen. Um die benötigte umfassende Transformation zu beschleunigen, ist ein „Business as usual“-Ansatz aber nicht erfolgversprechend. Stattdessen sollten neue Wege beschritten werden. Daher sollte die Urbanisierung zu einem Schwerpunkt deutscher Afrikapolitik werden.

 

Christoph Matschie, MdB, ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und leitet den Gesprächskreis Afrika der SPD-Bundestagsfraktion.

Dr. Stefan ­Steinicke leitet das Büro von Christoph Matschie. Davor hat er als Referent (Schwerpunkt „Urbanisierung“) im Planungsstab des Auswärtigen Amtes gearbeitet.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 42-47

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