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01. Nov. 2012

„Die wichtigsten Innovationen sind in den USA entstanden und nicht in Asien“

Interview mit René Schuster, CEO von O2/Telefónica Germany

Wirtschaftlich erleben die USA derzeit eine schwierige Phase. Doch die mobile Revolution, in der das Handy zur „Fernbedienung“ des Lebens wird, und die Innovationsfähigkeit der amerikanischen IT-Branche könnten das Land aus der Krise führen. Die gewaltigen Veränderungen vieler Lebensbereiche
durch die Digitalisierung haben gerade erst begonnen.

IP: Die mobile Revolution ist im vollen Gange: Wie würden Sie ihren derzeitigen Stand in den USA beschreiben?
René Schuster: Wir erleben im Moment den größten Technologiesprung seit der Erfindung des Internets: Das Internet wird mobil. Wie komme ich zu dieser Einschätzung? Letztes Jahr wurden weltweit mehr Smartphones und Tablet-PCs verkauft als Computer und Laptops; nämlich 494 Millionen Smartphones und 352 Millionen PCs. Das sind beeindruckende Zahlen und zeigen einen wichtigen Trend auf: Das mobile Internet verändert immer mehr Lebensbereiche – wie und wo wir arbeiten, wie wir mit unseren Freunden kommunizieren, wie wir einkaufen und wie wir Medien konsumieren.
Die USA sind die treibende Kraft in dieser mobilen Revolution. Die wichtigsten Unternehmen wie Apple, Google, Facebook und Amazon haben dort ihren Sitz und sie sind die Schlüssel-akteure für diesen Wandel. Ihre Produkte sind auf dem US-Markt extrem erfolgreich, und sie übertragen diesen Erfolg auf die Märkte in Europa und den Rest der Welt. In den vergangenen fünf Jahren haben Apple, Google und Amazon ihren Börsenwert um 290 Milliarden Euro gesteigert. Die wichtigsten Innovationen und neue Geschäftsmodelle sind in den USA entstanden und nicht in Asien.
Historisch gesehen haben große technologische Veränderungen immer zu ökonomischem Wachstum geführt. Von der Erfindung der Druckerpresse und der Baumwollspinnerei hin zur Massenproduktion im Zuge der industriellen Revolution zeigt sich, dass mit technologischen Neuerungen stets Konjunkturaufschwünge einhergehen. So ist es durchaus vorstellbar, dass die mobile Revolution die USA aus der derzeitigen tief greifenden Wirtschaftskrise herausführt, auch dank des Vorsprungs in Sachen Technologie, Innovationsfähigkeit und Kreativität.

IP: Führt das allerdings zu mehr Arbeitsplätzen in den USA selbst, statt in Asien und anderen Gegenden der Welt?
Schuster: Zweifellos hat die Globalisierung in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer weltweiten Verteilung von Kompetenzen geführt. Noch vor 20 oder 30 Jahren wurden alle Arbeitsplätze, die infolge eines technologischen Booms entstanden sind, in den USA geschaffen. Heutzutage verteilt sich das immer mehr auf globaler Ebene; Arbeitsplätze entstehen international, wenngleich ihre Zahl auch in den USA in Zukunft weiter wachsen wird.

IP: Zurück zur mobilen Revolution: Was sind die neuesten Trends? Was werden wir sonst noch unterwegs erledigen?
Schuster: Mobile Kommunikation wird persönlicher und individualisierter werden, der Einzelne wird mehr Kontrolle haben. Mobile Geräte werden in Zukunft zum Mittelpunkt unseres Lebens werden – für mich werden Smartphones mehr und mehr zu einer Art „Fernbedienung“ unseres Lebens. Mit einer solchen Fernbedienung hat man auf alles Zugriff. Ein Beispiel ist der Zahlungsverkehr. Die neuen Technologien werden unseren Umgang mit Bargeld und den gesamten Zahlungsverkehr verändern. Schon bald werden wir mittels unserer Handys bezahlen, die Kreditkarte braucht man nicht mehr. In zehn bis fünfzehn Jahren werden wir eine komplett bargeldlose Gesellschaft sein. Anderes Beispiel: Schlüssel. Warum sollten wir in Zukunft noch Schlüssel mit uns herumtragen, wenn wir mit dem Smartphone Türen sicher öffnen und Fahrzeuge starten können. Auch unser Zugang zu Informationen, wie wir Dinge betrachten, wie wir Wissen generieren – all das wird sich durch das mobile Internet verändern.
Ein weiterer wichtiger Trend ist mobiles Einkaufen. Mit dem Smartphone haben wir heute die Möglichkeit, direkt im Geschäft Preise von Artikeln und Dienstleistungen zu vergleichen. Da reicht es, den Barcode eines Produkts einzuscannen, und schon kommt man auf eine Webseite, die einem die besten Angebote auflistet. Man kann sofort im Geschäft eine Entscheidung treffen. Der Artikel mag dort vielleicht fünf Prozent teurer sein als online, aber die Bequemlichkeit, das Produkt direkt mitnehmen zu können, kann den höheren Preis ausgleichen.

IP: In diesem Zusammenhang fällt einem die App von Starbucks ein, die einem dabei helfen soll, seine eigene Kaffeemischung zu kreieren.
Schuster: Genau das ist es: Personalisierung, angenehmer Service, ein reibungsloser Ablauf – das alles erleben wir gerade durch viele neue Apps und Dienstleistungen im mobilen Internet. In meiner Branche gibt es dafür einen Begriff: „so-lo-mo“ – das steht für „social media“, „local search“ und „mobile Internet“. Er umschreibt, wie verschiedene technologische Innovationen zusammenkommen.

IP: Wie genau wird eine solche Entwicklung die US-Wirtschaft beeinflussen?
Schuster: Heimischer Konsum macht 70 Prozent der US-Wirtschaft aus, oder anders gesagt: 70 Prozent hängen von der Kaufkraft der amerikanischen Konsumenten ab. Folglich werden diese Entwicklungen einen wesentlichen Einfluss auf die US-Ökonomie haben – neben spannenden Auswirkungen in sozialen Kontexten. Ich bin in den USA aufgewachsen und erinnere mich an diese großartigen Einkaufszentren, die großen Malls, die damals außerhalb jeder Stadt errichtet wurden, nicht nur, um den Verkehr aus der Innenstadt herauszulenken, sondern auch, um einen zentralen Ort zu schaffen, an dem man fantastische Produkte und Dienstleistungen erwerben konnte. Weil heute immer mehr Menschen im Internet einkaufen, wird man solche Orte in Zukunft weniger oder vielleicht auch gar nicht mehr benötigen. Das hat gravierende Folgen für die Städte, die Urbanisierung und nicht zuletzt für den Verkehr.

IP: Das Ende der Malls steht bevor?
Schuster: Ich halte das für wahrscheinlich. Die USA stehen gerade an einem Wendepunkt, was die Benzinkosten angeht. In Europa ist man ja fast schon an den Gedanken gewöhnt, dass Benzin bald zehn Dollar pro Gallone kosten könnte, also gut zwei Euro pro Liter. In den USA dagegen wird eine Steigerung des Benzinpreises von drei auf vier Dollar pro Gallone als eine Katastrophe empfunden. Da stellt man sich dann die Frage, ob es sich lohnt, in sein Auto zu steigen und zehn Meilen zu fahren, um zehn Prozent Rabatt zu bekommen. Ich denke, dass die Menschen jeden Tag mit solchen Entscheidungen ringen.

IP: Sie sind ein guter Kenner von Silicon Valley. Ist es weiterhin das große Schwungrad der US-Wirtschaft oder nimmt seine Bedeutung ab?
Schuster: Ich glaube, dass die wirtschaftliche Bedeutung von Silicon Valley sogar gewachsen ist. Silicon Valley ist das Zentrum der globalen Informations- und Kommunikationstechnologie. Einige der größten Kommunikationsunternehmen haben dort ihren Sitz, und viele Startups werden dort geboren. Auf 4000 Quadratkilometern leben zwei bis drei Millionen Menschen, tausende führende Technologieunternehmen sind dort angesiedelt. Untermauert wird Silicon Valley durch bedeutende Universitäten wie Stanford, Berkeley, San José und Santa Clara. Und was hinzukommt: Die USA haben die weltweit fortschrittlichste Risikokapitalbranche. Das erste Unternehmen dieser Art wurde schon 1946 gegründet. Durch dieses private Beteiligungskapital entstand im Silicon Valley eine Mikrokultur – getragen von echten Innovationen, großartigen Ideen, Erfahrungen und Institutionen – und eine Geschäftskultur, in der es vollkommen normal ist, Risiken in Kauf zu nehmen. In anderen Ländern bedeutet der geschäftliche Bankrott häufig auch den sozialen Ruin. In den USA und vor allem im Silicon Valley ist Scheitern dagegen geradezu eine Ehrensache. Das ist einer der fundamentalen Gründe, warum es schwierig ist, das Silicon-Valley-Modell in anderen Ländern zu kopieren. Leider ist es in vielen Volkswirtschaften gesellschaftlich nicht akzeptiert, zu versagen oder Bankrott zu gehen, auch wenn es dort täglich geschieht. Deutlich wird das, wenn man die Lebensläufe amerikanischer und zum Beispiel deutscher Bewerber vergleicht: Die amerikanischen enthalten oft Aussagen wie: „Ich habe dieses Start-up gegründet, dann jenes, habe damit Pleite gemacht, habe dabei viel gelernt. Hier sind alle Unterlagen, wollen sie mich einstellen?“ Die Reaktion darauf wäre: „Toll! Sehr viel Erfahrung, genau das brauchen wir!“ Hier in Deutschland hat man dagegen sofort das Image des Versagers vor Augen.

IP: Hat Silicon Valley dennoch nicht mit Blick auf das Investitionsvolumen etwas nachgelassen?
Schuster: Natürlich ist Silicon Valley mehr Wettbewerbsdruck ausgesetzt als jemals zuvor. Risikokapital-Anleger versuchen natürlich auf so viele verschiedene Pferde wie möglich zu setzen, und das ist ja auch sinnvoll. Silicon Valley hat Konkurrenz aus Indien, aus Großbritannien und auch aus Deutschland bekommen. In Berlin gibt es beispielsweise sehr interessante Entwicklungen in der Startup-Szene. Was wir jedoch sehen müssen: Diese Standorte entwickeln sich gerade erst, während Silicon Valley bereits fest etabliert ist. Es gibt selbstverständlich kein Gesetz, das festlegt, wo gute Ideen herkommen. In der Vergangenheit sind talentierte Leute aus verschiedenen Ländern ins Silicon Valley gegangen, weil sie in ihren Herkunftsländern nicht Fuß fassen konnten. Silicon Valley ist eine international ausgerichtete Gemeinschaft und kein amerikanisches Projekt. Inzwischen haben die Regierungen anderer Länder bemerkt, was für Potenzial da schlummert, was für ein Wachstumsmotor so etwas sein kann, und sie denken darüber nach, eine Umgebung zu schaffen, die es den klugen, leistungsfähigen Köpfen ermöglicht, in ihrer jeweiligen Heimat zu bleiben. Man kann eine solche Entwicklung derzeit international beobachten, und daraus erwächst die Konkurrenz für Silicon Valley.

IP: Haben die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, auch in Sachen Freizügigkeit, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 – Stichwort: Homeland Security – den internationalen Zulauf nach Silicon Valley erschwert?
Schuster: Nein, das sehe ich nicht so. Aber da Sie den 11. September erwähnen: Vor den Anschlägen beruhte das Denken weltweit auf strukturellen Daten. Das heißt: Alles war auf Prozessen aufgebaut und sehr, sehr funktional orientiert. Die schrecklichen Ereignisse des 11. September haben uns vor Augen geführt, wie viele Informationen in der Welt bereits zur Verfügung stehen und dass man die Anschläge möglicherweise hätte vorhersehen können. Das Problem war jedoch, dass die vorhandenen Informationen unstrukturiert waren. Mit den Mitteln und den Programmen einer strukturierten Denkweise entgehen einem wichtige Zusammenhänge. Seit damals hat die Industrie neue Verfahren entwickelt, um unstrukturierte Daten zu analysieren, und es sind fantastische neue Firmen, Ideen und Produkte entstanden. Diese Daten kann man mit dem Vertrieb und Marketing anderer Produkte, Waren und Dienstleistungen verknüpfen, um auch kleinere Trends und Phänomene im unstrukturierten Konsumentenverhalten aufzuspüren. Solche Ansätze hat Silicon Valley entwickelt – als Antwort auf ein katastrophales Ereignis.

IP: Gibt es Grenzen der Digitalisierung der Wirtschaft oder stehen wir Ihrer Meinung nach erst ganz am Anfang dieser Entwicklung?
Schuster: Ich bin der Auffassung, dass es in unserem Leben keinerlei Grenzen für die Digitalisierung gibt, und dies trifft ebenso auf die Wirtschaft zu. Wie gesagt: Das mobile Internet verändert alle Bereiche unseres Lebens, sowohl in funktionaler als auch in sozialer Hinsicht. Inzwischen wirkt die Digitalisierung auch auf verschiedene Industrien. Der Einzelhandel war früher rein stationär, heute wird das Einkaufserlebnis durch das mobile Internet erweitert. Bei den Massenmedien gab es früher nur Antennenfernsehen, inzwischen existieren unzählige Verbreitungskanäle. Im Gesundheitsbereich können klinische Studien, also die Generierung und Evaluation von medizinischem Wissen, inzwischen so gesteuert werden, dass eine Präsenz vor Ort nicht mehr notwendig ist. Im Bereich der Finanzdienstleistungen können wir heutzutage unterwegs mit mobilen Geräten bezahlen, wo wir früher online Bankgeschäfte getätigt haben und noch davor extra in eine Filiale der Bank gehen mussten. Für Treueprogramme und mobile Zahlungen gibt es dadurch ganz neue Möglichkeiten.
Auch wenn man Mobilität betrachtet, ob Navigationstechnologie, Autoverkehr oder Luftfahrt, alles wurde durch die digitale Revolution beeinflusst. Ich gehe davon aus, dass man auch in öffentlichen Bereichen, in der Verwaltung oder im Bildungswesen, entsprechende Entwicklungen erleben wird. Dazu habe ich vor Kurzem zwei interessante Aussagen gelesen. Das eine Zitat ist von Mike Lynch von der Firma Autonomy. Er sagt: „90 Prozent aller Daten, die heute existieren, sind erst in den vergangenen beiden Jahren entstanden.“ Die zweite Aussage stammt von einem Universitätsprofessor, der mir in einem Gespräch erklärte: „Viele Studenten, die heute Erstsemester sind, werden später für Unternehmen oder Industrien arbeiten, die heute noch nicht existieren.“ Wir haben es also mit gewaltigen Veränderungen zu tun.

René Schuster ist seit Juni 2009 CEO von Telefónica Germany. Zuvor war er viele Jahre in leitenden Funktionen in der Telekommunikation und IT-Branche tätig, u.a. bei Compaq, Hewlett Packard und Vodafone

Die Fragen stellte Henning Hoff
 

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 2, Juli/ August 2012, S.64-69

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