IP

01. Sep 2012

Berlin 3.0

Das nächste Facebook könnte aus der deutschen Hauptstadt kommen

Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wird Berlin auch wirtschaftlich zum Trendsetter. Die Hauptstadt erlebt derzeit eine neue Gründerzeit im Bereich der Technologie-Startups und zieht Risikokapitalgeber an die Spree. Davon profitiert die deutsche Wirtschaft insgesamt, denn Unternehmergeist wird dringend gebraucht.

Berlin ist die einzige wirkliche Weltmetropole Deutschlands. Das bezweifeln auch eingefleischte Münchener und Hamburger nicht. Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik vermischen sich Kultur, Politik, Mode, Medien und Wissenschaften auf so fruchtbare Weise, dass daraus Trends für die ganze Welt entstehen. Nur in einem Bereich spielte die größte deutsche Stadt bisher keine Rolle: in der Wirtschaft. Die Wirtschaftsleistung hinkt seit Jahren dem Bundesdurchschnitt hinterher.

Doch nun scheint die Stadt auch wirtschaftlich zu erwachen: Jenseits der großen Firmen und Marken hat sich in Berlin in den vergangenen Jahren eine rege Technologieszene ent­wickelt. Kaum ein Tag vergeht ohne Gründung eines Startups für Internet- und Mobilfirmen. Längst ist Berlin ein Trendsetter der globalen Technologieszene. Risikokapitalgeber und Investoren aus der ganzen Welt strömen an die Spree, um die besten Ideen abzugreifen und sich bei den jungen Firmen einzukaufen. „Berlin ist die Zukunft“, schreibt der Economist.

In der Branche spricht man bereits von Berlin als dem deutschen Silicon Valley. Nahezu unbemerkt und ohne große wirtschaftspolitische Planung hat sich die Hauptstadt in den vergangenen Jahren zu einem internationalen Zentrum für Internet-Startups und Technologieunternehmen entwickelt. Während deutschlandweit die Zahl der Firmengründungen zurückgeht, steigt in Berlin die Zahl der Start­ups: 43 000 Neugründungen waren es allein 2011 – darunter viele Technologieunternehmen. Wenn sich dieser Trend langfristig bestätigt, könnte Berlin als Technologie- und IT-Standort ein neuer Impulsgeber für die deutsche Wirtschaft werden. Die internationale Strahlkraft der Stadt würde sich nochmals erhöhen.

Für Berlins Kommunalpolitiker, aber auch für die Bundespolitik ist das eine Entwicklung, die Mut macht. Während Berlin nach der Wiedervereinigung politisch, kulturell und in den Wissenschaften schnell mit Metropolen wie Paris oder London gleichzog, blieb die wirtschaftliche Entwicklung stets hinter den Erwartungen zurück. Bis heute hat mit Siemens nur ein Dax-Unternehmen seinen Hauptsitz in der deutschen Hauptstadt – und das auch nur formal: Als weitere und größere Zentrale hält Siemens an München fest. Größter Arbeitgeber ist die Deutsche Bahn, auf Platz drei folgen die Berliner Verkehrsbetriebe.

Den Nährboden der neuen Berliner Gründerszene bilden junge Kreative, gut ausgebildete Programmierer und Risikokapitalgeber. Dazu kommen die günstigen Lebens- und Investitionsbedingungen: Im Gegensatz zu London, wo astronomisch hohe Mieten Gründer immer weiter aus der Stadt drängen, sind in Berlin die Kosten niedrig. Das spiegelt sich in den Gehältern wider, die auch für kleine Firmen erschwinglich sind.

Ein Beispiel für den Erfolg der Berliner Jungfirmen ist der Spielehersteller Wooga mit Sitz in Prenzlauer Berg. Das 2009 gegründete Unternehmen mit rund 200 Mitarbeitern ist auf so genannte „Social Games“ spezialisiert, also Onlinespiele, die in sozialen Netzwerken wie Facebook gespielt werden. Mit 50 Millionen aktiven Nutzern jeden Monat ist Wooga nach eigenen Angaben größter europäischer Anbieter in dem Bereich und die Nummer drei weltweit. Dabei vertreibt Wooga die Spiele grundsätzlich umsonst. Geld verdient der Anbieter durch den Verkauf zusätzlicher virtueller Güter, die die Spielfigur besser ausstattet oder ihr Vorteile verschafft. Finanziert wird Wooga durch Risikokapitalgeber, die zuletzt im Mai vergangenen Jahres 24 Millionen Dollar in das Unternehmen investierten.

Gerade die Geber von Risikokapital, englisch Venture Capital, spielen beim Aufbau der Berliner Startup-Szene eine wichtige Rolle. Zahlreiche große Namen der Branche haben in Berlin Dépendancen eröffnet. Wie in Silicon Valley halten sie engen Kontakt zur Szene, verfolgen die neuesten technologischen Entwicklungen und stehen den jungen Firmengründern mit Rat und vor allem Startkapital zur Seite. Darunter sind auch bekannte Namen: Der Schauspieler Ashton Kutcher kaufte sich Presseberichten zufolge gleich in mehrere Start­up-Firmen ein. Berlin ist offensichtlich auch als Investitionsstandort hip.

Auch wenn die meisten der Firmen noch klein sind und von großen Umsatzzahlen nur träumen, ist die Bedeutung dieser jungen Internet­szene für den Wirtschaftsstandort Deutschland kaum zu überschätzen. Denn nach dem Internet erleben wir gerade einen zweiten technologischen Umbruch – die mobile Revolution. Kaum ein Gerät hat unseren Alltag in den vergangenen Jahren so stark verändert wie das Smartphone – vom Medienkonsum über die Kommuni­kation bis zur Arbeit. Um diese ­Entwicklung zu unterstützen, hat Telefónica die internationale Gründer­initiative Wayra gestartet, bei der sich bislang mehr als 10 000 junge Unternehmen beworben haben. Auch in Deutschland hilft die Initiative Start­ups mit Gründungskapital und Know-how.

Der Trend zur digitalen Gesellschaft ist global: Weltweit haben bereits mehr Menschen ein Mobiltelefon als eine Zahnbürste. Gleichzeitig wird das Internet mobil. Vergangenes Jahr wurden in Deutschland bereits mehr Smartphones und Tablets verkauft als PCs und Laptops. Durch die neue, schnelle Mobilfunktechnik LTE, die derzeit auch in Deutschland aufgebaut wird, wird sich diese Entwicklung noch verstärken. Mobilgeräte werden noch mehr als heute zu unseren universalen Begleitern.

Statt mit Bargeld oder Kreditkarten werden wir künftig mit dem Handy bezahlen. Smartphones werden Schlüssel und Firmenkarten ersetzen. Wir werden auf Mobilgeräten hochauflösendes Fernsehen empfangen – natürlich „on demand“, also dann, wenn wir es möchten. Der „always on“-Austausch durch soziale Medien verändert nicht nur unsere private Kommunikation, sondern auch unsere Arbeitsstrukturen. Weil wir durch das mobile Internet künftig überall arbeiten können und Zugriff auf Firmennetze haben, werden wir weniger Zeit in Büros verbringen.

Die enorme Dynamik dieser Entwicklung zeigt sich auch in der Politik. Der Arabische Frühling, der zu Demokratisierungsbewegungen und Umbrüchen in vielen Ländern geführt hat, wäre ohne den Einsatz mobiler Kommunikation kaum möglich gewesen. Erst durch die Authentizität der Handy-Videos und die Geschwindigkeit mobiler Twitter-Meldungen konnte sich der Protest der Jugend zur breiten Massenbewegung ausweiten. Die zunehmende Vernetzung ermöglicht auch neue Formen der Partizipation in westlichen Ländern – eine Entwicklung, die langfristig zu mehr direkter Demokratie und vielleicht auch weniger Politikverdrossenheit führen könnte.

Die wirtschaftlichen Möglichkeiten für Startups erscheinen unbegrenzt. Die junge Berliner Firma Soundcloud hat sich auf Musiker und Bands spezialisiert. Mit der 2007 gestarteten Musikplattform können sie ihre Musik mit anderen teilen. Mehr als drei Millionen Menschen nutzen den Dienst. Vergangenes Jahr investierten Berichten zufolge zwei kali­fornische Venture-­Capital-Firmen 50 Millionen Dollar in das Unternehmen. Ein anderes Beispiel ist die Meinungsplattform Amen, auf der Nutzer, wenn sie eine starke Meinung zu etwas haben, diese dort einstellen können. Die Amen-Software generiert daraus automatische Hitlisten. „Amen verbindet die Einfachheit von Twitter und das Status-Update von Facebook mit dem menschlichen Grundbedürfnis nach Meinung“, erklärt Gründer Felix Petersen.

Weil die Internetwelt global ist, können die Zielgruppen in Indien oder Australien sitzen – oder eben im Allgäu. Dementsprechend international ist die Berliner Startup-Szene: Die Gründer, Programmierer, Vermarkter, Experten und Geldgeber stammen aus der ganzen Welt, sind bestens ausgebildet und multilingual. Auch das ist ein Standortvorteil von Berlin: Als junge, internationale Metropole zieht sie Talente aus der ganzen Welt an.

Doch nicht nur Berlin braucht diese Talente. Wenn Deutschland in der digitalen Wirtschaftswelt weiter eine Rolle spielen will, brauchen wir insgesamt mehr Unternehmertum und Gründer. Noch immer streben junge Deutsche eher eine Festanstellung in einem Großunternehmen statt eine eigene Firma an. Statt Risiko­bereitschaft und Mut, neue Ideen auszuprobieren, herrscht Sicherheitsdenken. Dabei zeigen die Erfolge von Google, Facebook und anderen neuen Internetgrößen, dass mit der Digitalisierung auch die Wirtschaft immer schneller wird.

Kreativität, unternehmerischer Mut und Flexibilität, wie sie Startups auszeichnen, sind mehr gefragt denn je. So veranstaltete Telefónica Ende August erstmals in Berlin die Campus-Party. 10 000 junge Technologieinteressierte aus der ganzen Welt trafen sich am ehemaligen Flughafen Tempelhof zu einem sechstägigen Festival. Neue Ideen wurden entworfen und diskutiert, wie die mobile Technologie in Zukunft unser Leben verändern wird. Dabei hat sich wieder gezeigt, dass die Internetrevolution noch ganz am Anfang steht. Die Chancen für Firmengründer sind enorm. Und wer weiß: Vielleicht wird aus der einen oder anderen Idee tatsächlich eine erfolgreiche Geschäftsidee. Um es mit Jens Begemann, dem Chef des Spiele­herstellers Wooga, zu sagen: „Das nächste Facebook kommt aus Berlin.“

RENÉ SCHUSTER ist CEO von O2/ Telefónica Germany.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 65, September/ Oktober 2012, S. 108-111

Teilen