Titelthema

23. Aug. 2024

Die Verantwortung des Westens für die Zukunft der Ukraine

Die Unterstützung scheint abzunehmen: Umso wichtiger ist die unumkehrbare Einbindung des Landes in euro-atlantische Strukturen.

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Bild: Ukrainische Soldaten im Graben
Auf verlorenem Posten: In den Phasen der Materialknappheit aufgrund zu geringer westlicher Unterstützung hat die Ukraine lange aufgebautes militärisches Personal verloren.
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Die Lage in der Ukraine ist düster. Das Ende der Kursk-Offensive ist zwar noch nicht absehbar, aber wenn der Krieg so weitergeht wie bisher, läuft alles auf einen russischen Sieg durch ukrai­nische Erschöpfung hinaus. 

Langsam, aber stetig rücken russische Truppen vor, vor allem in der Region Do­nezk, und werden weitere Teile besetzen. In den langen Phasen der Materialknappheit aufgrund geringer westlicher Unterstützung, zum Beispiel als das US-Paket im Kongress festhing, hat die Ukraine über Jahre aufgebautes militärisches Personal verloren. Das zu spät verabschiedete Mobilisierungsgesetz kann das Personalproblem lindern, aber nicht lösen. Russland zerstört weiter systematisch die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, vor allem kritische Infrastruktur wie die zur Energieversorgung. 

Die Ukraine kann dem nicht genug entgegensetzen, es mangelt vor allem an Flugabwehrsystemen, modernen Kampfflugzeugen, Munition, Fähigkeiten für Präzisionsschläge, Drohnen, Drohnenabwehr, aber auch Wartung und Instandsetzung, und Nachlieferungen, unter anderem von Schützenpanzern.
Währenddessen hat Russland auf Kriegswirtschaft umgestellt und seine Rüstungsproduktion hochgefahren, es vertieft die Kooperationen mit Iran, Nordkorea und China, hat sein Personalproblem zumindest temporär gelöst und mobilisiert innenpolitisch Unterstützung, indem es seinen Überfall auf die Ukraine als einen Krieg des Westens gegen Russland darstellt. Moskau ist überzeugt, dass es durch Abnutzung über Zeit gewinnen kann.

Doch dass Russland gewinnt, ist nicht ausgemacht. Vier Faktoren entscheiden über den Kriegsverlauf: die gesicherte Bereitstellung von Material, inklusive Ersatzteile und Wartung; Personal (Zahl und Ausbildung); die wirtschaftlich-­finanzielle Unterstützung, um den ukrainischen Staat am Laufen zu halten; und die politische Unterstützung, wie in den Vereinten Nationen, den G7, der NATO und der EU. In allen Bereichen hängt die Ukraine weitgehend vom Westen ab: Umfang und Geschwindigkeit der Unterstützung wirken sich direkt an der Front aus – im Negativen wie im Positiven.


Militärisch zum ukrainischen Erfolg?  

Viele Expertinnen und Experten, die Autorinnen eingeschlossen, haben argumentiert, dass es möglich ist, die Ukraine militärisch so zu stärken, dass sie Druck auf Russland ausüben kann und Moskau gezwungen wird, sein Kosten-Nutzen-Kalkül zu verändern und sich auf ernsthafte Verhandlungen einzulassen. Kriege enden selten mit klaren Siegen. Häufiger ist ein Patt: Die Parteien beenden die Kämpfe, weil sie sich von einer Einstellung mehr versprechen als von einer Fortsetzung (die das Risiko einer Niederlage beinhaltet). Die Kombination aus Sanktionen, Waffenlieferungen und politischen Bemühungen des Westens sollten ein Ende des Krieges für Russland attraktiver machen als das Weiterkämpfen. Die Ukraine sollte damit in die Lage versetzt werden, den Krieg zu ihren Bedingungen beenden zu können.

Das war zum Teil erfolgreich: Es ist der Ukraine gelungen, einen Teil ihres von Russland seit dem 24. Februar 2022 besetzten Landes wieder zu befreien, teilweise die Kontrolle über das Schwarze Meer zurückzugewinnen und russische Stellungen auf der Krim so unter Druck zu setzen, dass Moskau Kräfte verlegen musste. Die russische Armee konnte bislang ihre Geländegewinne nicht strategisch ausnutzen. 

Moskaus Personal- und Ressourcenvorteil ist zudem nicht nachhaltig. Würde Russland seine Ressourcen weiter wie bislang einsetzen, könnte seine Armee im Laufe des Jahres 2025 Probleme bekommen und 2026 an erhebliche Grenzen stoßen: Sie erleidet hohe Verluste, verbraucht trotz des Hochfahrens der Rüstungsproduktion mehr Ausrüstung, als die Industrie nachproduzieren kann, und leert die ­Bestände. Angesichts der hohen Zahl russischer Gefallener könnten die Anreizsysteme zur Anwerbung von Soldaten in Zukunft nicht mehr ausreichen und eine weitere Mobilisierung erfordern.

Würden die westlichen Unterstützer der Ukraine die notwendigen Ressourcen mobilisieren, um schnell, koordiniert und langfristig die Produktion von Ausrüstung und Munition hochzufahren, würden sie Beschränkungen aufheben (zum Beispiel die bei der Nutzung weitreichender Waffensysteme) und würden sie dies mit politischen Botschaften unterstreichen, bestünde die Chance, Russland in Verhandlungen ohne Vorbedingungen zu zwingen.


Realistische Entwicklungen

Die westlichen Reaktionen seit dem 24. Februar 2022 lassen allerdings Zweifel da­ran aufkommen, dass Europa und die USA dazu willens oder in der Lage sind. Zwar haben sie die Ukraine seit 2022 in einem vor dem russischen Überfall unvorstellbaren Maße unterstützt. Aber die Lieferungen kamen oft zu spät (zum Beispiel Kampfpanzer), nach langwierigen Debatten (zum Beispiel ATACMS), dauerten sehr lange (F-16), sind mit Auflagen versehen (weitreichende Systeme) und hatten fast nie den militärisch notwendigen Umfang. Nun steht zu befürchten, dass die Unterstützung nicht nur stagniert, sondern abnehmen wird.

Erstens fehlen die Mittel: Das monatelange Ringen im US-Kongress um die Ukraine-Hilfen Anfang 2024 hat gezeigt, dass dies das letzte US-Paket gewesen sein könnte. Auch wenn Kamala Harris die Präsidentschaftswahl gewinnen sollte, werden die USA die Lasten des Krieges stärker auf europäische Schultern verteilen wollen. Die Europäer müssten künftig viel mehr Geld für die Ukraine bereitstellen – sowohl bilateral als auch über den EU-Haushalt. Dazu sehen sich viele außerstande. Doch die Idee einer gemeinsamen europäischen Kreditaufnahme für Rüstungsgüter für Kiew stößt auf erheblichen Widerstand. Bereits jetzt wird die Unterstützung für die Ukraine gegen andere Haushaltsposten ausgespielt und in Wahlkämpfen instrumentalisiert.

Zweitens haben wichtige Unterstützer wie die USA und Deutschland verdeutlicht, dass sie Russland in der Ukraine zwar schwächen, aber nicht besiegen wollen, weil sie fürchten, dass Moskau den Krieg im Falle eine Niederlage (nuklear) eskaliert oder/und als Staat daran zerbrechen könnte. Sie scheinen diese Risiken höher zu gewichten als das Risiko einer ukrainischen Niederlage und ihre Folgen. Sie wollen zwar nicht, dass der Angriff sich für Moskau auszahlt, ziehen aber enge rote Linien bei der militärischen Unterstützung der Ukraine (statt Russland rote Linien aufzuzeigen). Es ist nicht zu erwarten, dass der Westen zukünftig eine größere Risikobereitschaft zeigt und Kiew militärisch so unterstützt, dass es sich nicht nur verteidigen, sondern weitere Gebiete zurückerobern kann.

Drittens ist es dem Westen und der Ukraine nicht gelungen, Russland international zu isolieren. Auch jenseits von Iran, Nordkorea und China sind viele Länder des sogenannten Globalen Südens nicht bereit, Druck auf Russland auszuüben, damit Präsident Wladimir Putin seinen Angriffskrieg einstellt. Das hat die innige Umarmung von Indiens Premierminister Narendra Modi und Putin im Juli 2024 gezeigt. Bei der Konferenz zum Frieden in der Ukraine auf dem Schweizer Bürgenstock im Juni 2024 unterzeichneten Länder wie Indien und Saudi-Arabien die Abschluss­erklärung nicht, obwohl sie nur wenige Punkte umfasste.

Wir empfehlen eine Verstärkung der Hilfe für die Ukraine – worauf leider aktuell nichts hindeutet

Es ist daher unwahrscheinlich, dass Kiew die militärische, politische und finanzielle Unterstützung in dem Umfang und zu dem Zeitpunkt erhält, die notwendig wären, um nicht nur die Asymmetrie gegenüber Russland auszugleichen, sondern in eine Überlegenheit zu kommen, die Moskau an den Verhandlungstisch zwingt. Vielleicht ist diese Chance sogar schon verpasst, weil die westliche Unterstützung zwischenzeitlich so spät und dürftig war, dass die Ukraine einen enorm hohen Preis an Menschenleben und Ausrüstung zahlen musste, der kaum wieder gutzumachen ist.

Selbst ein verstetigtes „Durchwursteln“-Szenario wäre zu wenig, um Russland zu Zugeständnissen zu zwingen. Es würde ein langsames, aber stetiges Ausbluten der Ukraine bedeuten.
Ein Blick in die aktuellen Zahlen und Planungen zeigt zudem: Es geht perspektivisch nicht um mehr Unterstützung, sondern um weniger. Damit wird leider ein weiteres Szenario plausibel, in dem die westliche Unterstützung ab 2025 massiv sinkt, insbesondere falls Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl gewinnt. 

Sollte die Unterstützung in der bisherigen Qualität und Quantität bleiben oder abnehmen, müsste die Ukraine mittelbar einem Kriegsende nach russischen Bedingungen zustimmen – also einem Diktatfrieden – und mindestens 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets würde auf nicht absehbare Zeit russisch besetzt bleiben. Eine daraus resultierende freie Rumpf­ukraine hätte ohne NATO-Mitgliedschaft oder bi- und multilaterale Sicherheitsgarantien, die einen dem Artikel 5 des NATO-Vertrags gleichwertigen Schutz bieten, keine sicherheitspolitische, politische und wirtschaftliche Überlebenschance. Angesichts der unsicheren Situation wäre vielmehr mit einem demografischen und finanziellen Exodus zu rechnen. Derart geschwächt wäre die Ukraine ein einfacheres Ziel für den nächsten russischen Angriff.

Wir empfehlen ausdrücklich eine Verstärkung der Hilfe für die Ukraine – allerdings deutet aktuell nichts darauf hin, dass die westlichen Unterstützer hierauf hinarbeiteten. Diese Aussichten zwingen uns zu überlegen, wie sich in diesem Fall ein Worst-Case-Szenario verhindern lässt. Wie kann die Ukraine als souveräner Staat so stark und sicher wie möglich aus dem Krieg hervorgehen, auch wenn es ihr aufgrund mangelnder Unterstützung nicht gelingen sollte, ihre territoriale Integrität kurzfristig wiederherzustellen? 


Wie den Worst Case verhindern? 

Russlands Bedingungen für Verhandlungen laufen auf eine Kapitulation der Ukraine hinaus. Dazu gehört die Forderung, die vier völkerrechtswidrig annektierten, aber nicht vollständig kontrollierten Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja, Cherson – und die Krim – als russisch anzuerkennen. Moskau fordert zudem einen Austausch der demokratisch gewählten Regierung in Kiew („Denazifizierung“), Neutralität und die Reduzierung der ukrai­nischen Armee auf ein Maß, das eine Verteidigung unmöglich macht („Demilitarisierung“). Das Ergebnis wäre ein Vasallenstaat unter Moskaus Kontrolle. Dies würde jedoch nicht Stabilität bedeuten; vielmehr bestünde das Risiko, dass das Land im Chaos versinkt.

Selbst wenn die Ukraine Teile der Forderungen abwehren könnte und eine eigenständige Regierung behielte, wäre eine temporäre Aufgabe von russisch besetzten Gebieten im Gegenzug für ein Ende der Kämpfe wahrscheinlich. Der Preis wäre enorm. Die Ukraine müsste akzeptieren, dass ihre Bevölkerung dort der russischen Besatzung dauerhaft unterworfen wird, die durch ihre brutale Russifizierungspolitik alles Ukrainische beseitigen will: Moskau verteilt russische Pässe, zwangsrekrutiert in seine Armee, schaltet die Medien gleich, verbietet die ukrainische Sprache, deportiert, foltert und mordet – und siedelt russische Bewohner an. Je länger die Besatzung dauert, desto mehr gliedert Russland diese Gebiete faktisch in die Russische Föderation ein und löscht die ukrainische Identität aus. 

Ein erzwungenes Kriegsende mit einem „Land-gegen-Waffenstillstand“-Deal würde die politische Ordnung der Ukraine erschüttern. Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte kürzlich, dass die territoriale Integrität unverzichtbar sei, diese aber nicht nur militärisch wiederhergestellt werden könne. Vor allem unterstrich er, dass nur die ukrainische Bevölkerung diese Frage entscheiden könne. Aktuell ist die Mehrheit weiterhin dagegen. Zwar ist die Unterstützung für Gebietsabtretungen im Gegenzug für Frieden und Unabhängigkeit gestiegen – von 10 Prozent (Mai 2022) auf 32 Prozent (Mai 2024). Aber die Ablehnung bleibt groß: 55 Prozent sind gegen Gebietsabtretungen (im Mai 2022 noch 82 Prozent). Eine große Mehrheit weigert sich nach wie vor, die russischen Bedingungen zu akzeptieren. 

Waffenstillstandsabkommen haben aber dann die größten Erfolgschancen, wenn sie unterstützt, tatsächlich umgesetzt und Verstöße sanktioniert werden. Sollte die ukrainische Regierung ver­suchen oder gezwungen sein, ein solches Abkommen gegen die Mehrheit der Bevölkerung zu unterzeichnen, würde sie dies politisch kaum überstehen. Das Risiko ist also groß, dass Abkommen ohne Unterstützung der Bevölkerung und ohne verlässliche Absicherung der freien Ukraine in innenpolitischem Chaos enden. Russland könnte das als Vorwand nutzen, den Krieg (unter nun für Moskau besseren Bedingungen) fortzusetzen – es könnte langfristig das Ende der souveränen Ukraine bedeuten.

Wenn die westlichen Unterstützer eine totale Niederlage der Ukraine verhindern wollen, müssen sie sich die Frage stellen – und diese unbedingt mit der ukrainischen Regierung diskutieren –, unter welchen Bedingungen ein Waffenstillstandsabkommen für Kiew überhaupt vorstellbar wäre: Wann könnte eine ukrainische Regierung ein Ende der Kämpfe akzeptieren, auch wenn vorübergehend Gebiete russisch besetzt blieben? Und wie soll sie das als Erfolg (oder zumindest nicht als Niederlage) erklären, wo doch offensichtlich wäre, dass Russland sich mit seiner militärischen Logik durchsetzen konnte.

Souveränität und Wohlstand, abgesichert durch die Verankerung in euro-atlantische Strukturen – ein solches Paket bietet der Westen bislang nicht an

Drei Kriterien sind vorstellbar: Politisch wäre bereits das Überleben der Ukraine als souveräner und demokratischer Staat ein Erfolg – denn Russland wollte ihn vernichten. Wirtschaftlich geht es um den gesicherten Wiederaufbau, eine unumkehrbare Integration in die EU und damit die Aussicht auf Prosperität. Drittens könnte sicherheitspolitisch die Ukraine durch einen NATO-Beitritt oder bi- und multilaterale Sicherheitsgarantien, die einer Rückversicherung gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags gleichwertig sind, die Abschreckung und Verteidigung vor Russland gewährleisten. Dies sollte durch die Stationierung westlicher Truppen, möglichst der Nuklearmächte, verdeutlicht werden. Die bereits unterzeichneten Sicherheitsabkommen mit G7-Staaten bieten diese Verteidigungsleistung nicht an. Diese Garantien würden erst nach einem Waffenstillstand greifen; aber die Zusage sollte vorher erfolgen, um die Verhandlungsposition der Ukraine zu stärken.

Kurz: Souveränität und Wohlstand, abgesichert durch die unumkehrbare Verankerung in euro-atlantische Strukturen, könnte für Kiew eine Möglichkeit sein, den Krieg unter Bedingungen einzustellen, die bislang inakzeptabel schienen. Gleichzeitig muss klar sein, dass die Annexion der besetzten Gebiete nicht anerkannt wird.

Wie auf den Verlauf des Krieges haben die westlichen Partner auch hier maßgeblichen Einfluss. Denn sie haben die In­strumente, um Souveränität, Sicherheit und Wohlstand durch NATO- und EU-Beitritt, Wiederaufbau und bilaterale Zusammenarbeit zu ermöglichen und damit zu verdeutlichen, dass Russland bei der Erreichung seiner zentralen Ziele gescheitert ist. Doch bislang bieten die westlichen Staaten ein solches Paket nicht glaubwürdig an: NATO- und EU-Beitritt sind zwar in Aussicht gestellt, aber liegen in weiter Ferne. Natürlich sind die Beitritte eines Landes, dessen Staatsgebiet zu einem Fünftel besetzt ist, mit großen finanziellen, juristischen und sicherheitspolitischen Risiken verbunden. Die existierenden Überlegungen zu einer „phased ­accession“ in beiden Institutionen sollten daher weiterentwickelt werden, denn die Ukraine braucht tragfähige Übergangslösungen.

Die Frage der Sicherheit ist zentral, solange der politische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine fortbesteht. Ohne sicheren Rahmen gibt es keinen Wiederaufbau, und ohne Sicherheit und Wohlstand drohen die demokratischen Prozesse unter Druck zu geraten. Eine demilitarisierte oder neutrale Ukraine  wäre schutzlos russischen Aggressionen ausgeliefert. Solange Moskau an seinen revisionistischen Zielen festhält, eine unabhängige ukrainische Identität und Staatlichkeit ablehnt und die Mittel hat, diese Ziele militärisch zu verfolgen, so lange bleibt die Existenz der unabhängigen Ukraine bedroht. Jede Kampfpause droht dann lediglich eine Regenerationspause für die russischen Streitkräfte zu sein.

Zu Recht hat die Ukraine wenig Vertrauen in russische Zusagen, da Moskau diese in der Vergangenheit gebrochen hat. Sollte Kiew also einen Waffenstillstand oder vergleichbare Abkommen akzeptieren, käme auf die westlichen Staaten die Verantwortung zu, die Umsetzung dieser Abkommen und die Souveränität der Ukraine zu sichern. Dies hieße nicht weniger Unterstützung für die Ukraine, sondern mehr, anders und langfristiger angelegt als heute.


Gravierende Folgen

Ohne westliche Hilfe würde es die Ukraine als eigenständigen Staat heute nicht mehr geben. Aber der Ansatz, Moskau durch militärischen Druck zu Zugeständnissen am Verhandlungstisch zu zwingen, wurde nicht konsequent umgesetzt. Die Ukraine hat nicht die militärische Unterstützung erhalten, die sie gebraucht hätte. Und leider spricht wenig dafür, dass sich dies auf absehbare Zeit ändert. Im Fall einer republikanischen Machtübernahme in Washington könnte sich die Lage dramatisch verschlechtern. Die Ukraine könnte gezwungen sein, ein Kampfende zu russischen Bedingungen zu akzeptieren. Die westlichen Unterstützer sollten sich gemeinsam mit Kiew auf ein solches Szenario vorbereiten, um eine vollständige ukrai­nische Niederlage abzuwenden.

Vor allem für die Ukraine, aber auch für Europa hätte ein totales Scheitern gravierende Folgen: EU und NATO würden aus dem Krieg geschwächt hervorgehen. Sie müssten noch mehr in ihren eigenen Schutz investieren. Aus einer zerstörten und in Teilen russisch besetzten Ukraine kämen Millionen Flüchtlinge nach Westeuropa. Russlands Führung sähe sich bestätigt – auch in der Überzeugung, dass Kriegführen nicht nur legitim, sondern auch effizient ist. Andere Länder könnten schlussfolgern, dass sie auch durch Krieg ihre Ziele erreichen, Grenzen mit Gewalt verschieben und gegebenenfalls Atomwaffen zur Absicherung von Eroberungskriegen nutzen können. Gerade für ein Land wie Deutschland, das von weltweit funktionierenden Rohstoff-, Waren- und Finanzströmen abhängt, könnte eine Welt, in der das Recht des Stärkeren internationales Recht aushebelt, eine normative und wirtschaftliche Katastrophe werden.

Deshalb muss der Westen dafür sorgen, dass die Ukraine auch dann gestärkt und mit einer positiven Zukunftsvision aus dem Krieg hervorgeht, wenn es ihr nicht gelingen sollte, alle von Russland besetzten Gebiete zu befreien. Neutralität ist für Kiew keine Lösung. Der Westen muss das Land langfristig in die euro-atlantischen Strukturen integrieren, um das Überleben einer selbstbestimmten, prosperierenden und demokratischen Ukraine zu sichern.

Die langfristigen Kosten eines russischen Erfolgs mit Blick auf menschliches Leid, Wiederaufbau und Absicherung der Ukraine, die Verteidigung Europas und der wirtschaftlichen und internationalen Ordnung könnten deutlich höher sein als die erforderliche Unterstützung jetzt. Hinzu kommt der Glaubwürdigkeitsverlust: Die Staaten des Globalen Südens haben das Versprechen des Westens registriert, die Ukraine „so lange wie nötig“ zu unterstützen. Sie werden es mit dem Kriegsende abgleichen und ableiten, wie ernst die Zusagen westlicher Staaten zu nehmen sind.    
 

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Dr. Claudia Major leitet die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft  und Politik (SWP) in Berlin.

Dr. Jana Puglierin ist Senior Policy Fellow und Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR).

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