IP

01. Juli 2012

Die USA von A bis Z

Ausbildung und Arbeitslosigkeit
Digitale Medien
Fertigungsindustrie
Gesundheitssystem
Gewerkschaften
Filmindustrie
Landwirtschaft
Migration und Bevölkerung
Militär und Rüstung
Raumfahrt
Soziale Mobilität und Einkommensgleichheit
Steuern
Strafjustiz
Wirtschaftswissenschaften

 

Ausbildung und Arbeitslosigkeit

Die gute Nachricht: Die Erwerbslosenquote ist im Mai dieses Jahres auf 8,0 Prozent gesunken – den niedrigsten Stand seit über drei Jahren. Die schlechte Nachricht: Eine Arbeitslosenquote in einer solchen Höhe über einen solch langen Zeitraum hatte es zuletzt Ende der dreißiger Jahre gegeben. Noch nie wurde ein US-Präsident wiedergewählt, wenn die Quote auf einem derartig niedrigen Stand war. Einige Experten sehen die Arbeitslosigkeit in den USA inzwischen als strukturelles und nicht mehr nur konjunkturelles Problem. Hinzu kommt, dass gerade die Jugendarbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch ist. Nach Angaben des Bureau of Labor Statistics entspricht die Quote bei den 25- bis 34-Jährigen mit 9 Prozent in etwa der landesweiten Erwerbslosenquote, doch unter den 20- bis 24-Jährigen sind 13 Prozent ohne Job, und unter den 16- bis 19-Jährigen ist es fast jeder Vierte (23 Prozent).

Das hat auch mit der Qualität des Ausbildungssystems zu tun. Vorbei die Zeiten, in denen der Bildungsstand der Amerikaner von Generation zu Generation stieg. Während ein Mitte der fünfziger Jahre geborener Baby-Boomer im Schnitt eine zwei Jahre längere Schulausbildung genossen hat als seine Eltern, waren Amerikaner des Jahrgangs 1980 nur rund acht Monate länger in der Schule als ihre Eltern. Und von den um 1975 geborenen Amerikanern hatten 13 Prozent der Frauen und 18 Prozent der Männer sogar weniger Schuljahre vorzuweisen als die Generation zuvor.

Bei den Absolventen von High Schools oder vergleichbaren Einrichtungen liegen laut OECD derzeit nicht weniger als 20 Länder vor den USA. Einer von fünf Neuntklässlern in den USA verlässt die Schule ohne Abschlusszeugnis. Auch die Quote der Studienabbrecher ist besorgniserregend. Fast jeder zweite der Studenten (43 Prozent), die sich 2002 für ein vierjähriges College-Programm angemeldet haben, hatte nach Angaben des US-Bildungsministeriums auch sechs Jahre danach noch keinen Abschluss. Lagen die Vereinigten Staaten noch vor 30 Jahren bei den 25- bis 34-Jährigen, die eine mindestens zweijährige weiterführende Ausbildung genossen hatten, mit Kanada und Israel an der Weltspitze, so hinkten sie im Jahr 2009 laut OECD ganzen 14 Industrieländern hinterher. Heute verfügen rund 30 Prozent der erwachsenen Amerikaner über eine vierjährige College-Ausbildung.

Und Bildung kostet in Amerika – nicht nur an Elite-Universitäten wie Harvard, Yale oder Princeton. Zwar gibt es ein Beihilfesystem, das Unterstützung durch Regierungen oder Colleges ermöglicht. Doch dieses System ist so kompliziert, dass viele potenzielle Studenten dadurch abgeschreckt werden. Wer nicht in den Genuss eines Stipendiums gelangt, findet die Aussicht, mit einem beträchtlichen Schuldenberg ins Berufsleben zu starten, nicht sonderlich verlockend. Allein von den Studierenden an den öffentlichen – und noch vergleichsweise preiswerten – vierjährigen Colleges verließ jeder Zweite (56 Prozent) in den Jahren 2009 und 2010 seine Schule mit Schulden; Verbindlichkeiten, die sich nach Angaben des College Board im Schnitt auf 22 000 Dollar beliefen (siehe auch: Soziale Mobilität).
Eine Entwicklung mit gravierenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: Im April dieses Jahres hatten nach Angaben des US-Arbeitsministeriums nur 55 Prozent der High-School-Absolventen über 25 Jahre eine feste Beschäftigung. Unter den College-Absolventen gingen im Schnitt 64 Prozent einer geregelten Arbeit nach, je nach Qualität des Abschlusses waren es bis zu 73 Prozent. Das Angebot an gut ausgebildeten Arbeitskräften steigt weitaus langsamer an als der Bedarf. Werden die Amerikaner nicht besser ausgebildet, so befürchten Experten, wird es immer schwieriger, gut bezahlte Arbeitsplätze anzubieten. Das gilt gerade für die Branchen, in denen Amerika international vorne liegt: Güter und Dienstleistungen (siehe auch: Fertigungsindustrie).

Digitale Medien

Als „Brutkasten“ vieler der weltweit im Bereich digitaler Medien führenden Unternehmen sind die USA – und vor allem der Großraum San Francisco – weiterhin Weltspitze im Bereich Innovation und Wachstum von Internet-Technologien. Facebook, das jüngste Vorzeigekind der „social media“-Industrie, ist das beste Beispiel. Wenngleich der Börsengang des Unternehmens reichlich holprig war, kann Facebook auf die Rekordzahl von 900 Millionen aktiven Nutzern verweisen, deren Zahl weiter steigt.

In den vergangenen Jahren hat eine kleine Anzahl von Technologieriesen versucht, die eigene Marktmacht zu festigen. Google, Amazon, Facebook, Apple und einige andere setzen alles daran, vom Mobiltelefon über Betriebssysteme und Webbrowser bis hin zu sozialen Netzwerken alles in der eigenen Hand zu halten, indem sie Patente und Startup-Unternehmen aufkaufen. Allein in den letzten fünf Monaten vor dem Börsengang hat Facebook nicht weniger als fünf kleinere Firmen akquiriert, darunter Tagtile, eine App zur Kundenbindung, und Instagram, eine mit einer Milliarde Dollar bewertete App zum Austausch von Fotos unter den Nutzern. Andere interessante, im Aufstieg befindliche Startups, die bisher noch nicht aufgekauft wurden, sind Dropbox, das Benutzern den Austausch von großen Datenpaketen und Datensynchronisierung erlaubt, und Zynga, das Spiele für soziale Netzwerke ent­wickelt. Welche Umsätze solche Firmen erwirtschaften können, beruht derzeit zum überwiegenden Teil auf Schätzungen. Nach Angaben von Gartner, einem führenden Marktforschungsunternehmen im Technologiebereich, soll der weltweite Erlös von „social media“-Netzwerken bis 2015 einen Wert von 29 Milliarden Dollar erreichen.

Während der Bereich digitale Medien wächst, befinden sich viele „alte“ (Druck-)Medien dagegen im Niedergang. Laut „State of the Media 2012“, einem Bericht, den das Pew Research Center jährlich herausgibt, ist die tägliche Auflagenhöhe amerikanischer Zeitungen zwischen 1990 und 2010 von 62,3 auf 43,3 Millionen Exemplare gesunken – ein stetiger Niedergang um 30 Prozent. Dass die Werbeeinnahmen allein zwischen 2006 und 2010 um 48 Prozent einbrachen, hat die Sorgen der Printmedien noch verstärkt, die mit der Entlassung von Journalisten, den Verkleinerungen von Redaktionen und der Erhöhung von Abonnementpreisen reagiert haben; manche Zeitungen wurden sogar ganz eingestellt. Auch wenn die Zeitungsleserschaft online wächst – 2011 um 7,4 Prozent – haben Zeitungen Schwierigkeiten, einen Weg zu finden, wie sie daraus mehr Einnahmen generieren können. „Es heißt, dass jeder Dollar, den eine Zeitung für Werbung in der gedruckten Ausgabe bekommt, nur zehn Cent in der Onlineversion entspricht“, so Professor Neil Henry, Dekan der Journalismus-Fakultät an der University of California, Berkeley. Rechnet man die sinkenden Werbeeinnahmen ein, so ist der Pressesektor seit 2000 um 43 Prozent geschrumpft. Einige Zeitungen, wie das Wall Street Journal oder die New York Times, haben sich allerdings mit einigem Erfolg gegen den Trend gestemmt. Sie konnten 2011 ihre Bilanz verbessern, nachdem sie den größten Teil ihres Inhalts online nur noch Abonnenten oder gegen Bezahlung zugänglich gemacht hatten.

Die gesellschaftlichen Auswirkungen absteigender Print- und aufsteigender Online-Medien sind vielfältig. Der Pulitzer-Preisträger Chris Hedges meint, dass die Kostensenkungen und die etwaigen Schließungen von Zeitungen den Journalismus – und die Demokratie – in den USA gefährden könnten. Sheryl Sandberg, Geschäftsführerin von Facebook, wiederum glaubt, dass soziale Medien eine „corollary of caring“ (ungefähr: eine „logische Konsequenz des Kümmerns“) befördern werden: „In dem Maße, in dem wir die Menge sozialer Informationen im Internet vergrößern, werden auch unsere Reaktionen auf diese Informationen in Wort und Tat zunehmen.“

Die US-Regierung und vor allem das Außenministerium sind am Potenzial digitaler Medien als wichtige zukünftige Komponente der „Staatskunst im 21. Jahrhundert“, wie Außenministerin Hillary Clinton es nennt, sehr interessiert. Clinton hat im Oktober 2010 einen wesentlichen Aspekt der neuen Technologien aufgezeigt: „Es sind nicht die Technologien selbst, die sich auf eine der Seiten im Kampf um Freiheit und Forschritt stellen, sondern die USA. Wir setzen uns für ein einziges Internet ein, in dem die gesamte Menschheit gleichberechtigten Zugang zu Wissen und Ideen hat.“ Die Regierung Obama hat sich zum Ziel gesetzt, zukünftig 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung im Technologiebereich zu investieren.

Fertigungsindustrie

Mehr als hundert Jahre lang waren die USA die führende Nation im Sektor „Herstellung“. Jetzt verlieren sie ihre Spitzenstellung an China, „die Werkbank der Welt“. Ein Teil dieses Prozesses ist der Globalisierung und der Verlagerung großer Teile amerikanischer Produktion in die Niedriglohnländer geschuldet. Dass die USA aber nicht mehr Produzent Nummer eins sind, hat auch mit der wachsenden Popularität einer Wirtschaftsphilosophie zu tun: Für eine moderne, auf dem Know-how ihrer Gesellschaft aufbauende und zukunftsträchtige Ökonomie seien nicht mehr Herstellung und Produktion, sondern der Bereich „Dienstleistungen“ ausschlaggebend.

Zwischen 2000 und 2009 gingen 31,9 Prozent der Jobs in der Fertigungs­industrie verloren; die Anzahl der in diesem Sektor Beschäftigten fiel von 13,1 auf 9,1 Prozent. Mit ganz anderen Folgen, als die Theorie es vorsah: Nicht nur wurden die in der Produktion verlorenen Jobs nur sehr bedingt im Dienstleistungssektor wettgemacht. „Der Niedergang dieses Sektors“, so Susan Berger vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in einer jüngst veröffentlichten Studie für die Washingtoner Brookings Institution, ist „für das enorme Handelsdefizit verantwortlich.“ Wer weniger herstellt, kann schließlich weniger exportieren. Mit dem Verlust der Arbeitsplätze gehen auch wesentliche Qualifikationen verloren: Kleinere, aber nicht unwesentliche Innovationen finden oft im Arbeitsprozess selbst statt, zudem erfordern ständig erneuerte Produktionstechniken eine ebenso permanente Weiterqualifizierung, die aber durch längere Zeiten der Arbeitslosigkeit unterbrochen wird. Ausländische Firmen, die einen Teil ihrer Produktion in die USA verlegt haben, beklagen häufig, erst Fortbildungsprogramme für ihre Angestellten auflegen zu müssen. Arbeitsplätze in der herstellenden Industrie sind zudem im Durchschnitt besser bezahlt als im Bereich Dienstleistungen: Spitzenreiter sind Raffinerien mit einem wöchentlichen Durchschnittslohn von 742 Dollar, gefolgt von der Luftfahrttechnik (701 Dollar) und der Tabakindustrie (696 Dollar). Der wöchentliche Durchschnittslohn in der herstellenden Industrie liegt bei 605 Dollar, während er im Sektor Dienstleistungen bei nur 558 Dollar liegt.

Und nicht zuletzt: Ein Großteil der privaten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung wird ebenfalls im Bereich Herstellung getätigt, nämlich immerhin 68 Prozent – obwohl der Anteil des Sektors „Produktion“ am Brutto­inlandsprodukt von 14,2 auf nur 11 Prozent fiel.
Düstere Zeiten also für „Made in USA“? Nicht ganz: Mit nur einem Zehntel der Arbeitskräfte, die China einsetzt, produziert die amerikanische Industrie so viel an Wert wie der asiatische Konkurrent. Auch hat die Politik den lange vernachlässigten Sektor „heimische Produktion“ wiederentdeckt. Barack Obamas Initiative der „Advanced Manufacturing Partnership“ bringt gezielt Unternehmer und Universitäten wie das MIT zusammen, um Wachstum und Innovationen vor allem in stark wettbewerbsorientierten Bereichen wie grüne Energien oder saubere Technologien zu fördern.

Besteht damit eine Chance, die abgewanderten Jobs wieder zurückzuholen? Nicht, wenn es sich um die klassischen „blue collar jobs“ handelt. „Die Fabrikhallen sind häufig leer, aber dafür sind die Büros gut besetzt mit Managern, Entwicklern, Marketingstrategen oder IT-Spezialisten, die alle zum Produktionsprozess beitragen“, beobachtete jüngst der Economist. Arbeiter im Blaumann werden also auch zukünftig weniger gefragt sein, vor allem, weil sich Produktionstechnologien radikal verändern. Nanotechnologie oder das „3-D-Printing“, das den dreidimensionalen, am Rechner hergestellten „Ausdruck“ eines Produkts ermöglicht, dürften die Fabrikhalle zum Relikt einer vergangenen Welt machen. Materialforschung dagegen könnte zum Boomgeschäft werden. Die Grenzen zwischen Dienstleistung und Herstellung werden weiter verschwimmen – aber der Erfolg beider Sektoren ist von einer wesentlichen Voraussetzung abhängig: Qualifikation und Know-how ihrer Arbeitskräfte.


Gesundheitssystem

Die hitzige Debatte um Barack Obamas Gesundheitsreform hat eine bemerkenswerte Tatsache erneut ins Bewusstsein gerufen: Die USA sind das einzige große industrialisierte Land der Welt, in dem es keine allgemeine Krankenversicherung gibt. Nicht weniger als 49,9 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner verfügen über keinen Versicherungsschutz im Krankheitsfalle. Dass das Gesundheitswesen mit einem Anteil von rund einem Sechstel am Bruttoinlandsprodukt einer der größten Wirtschaftssektoren ist, steht dazu nur scheinbar im Widerspruch. Denn es waren gerade diejenigen, die vom bisherigen Gesundheitssystem profitierten, die durch Wahlkampfspenden und andere Mittel der Politikbeeinflussung grundlegende Reformen bislang verhindert haben.

Wie alle anderen demokratischen Präsidentschaftskandidaten vor ihm hatte sich auch Barack Obama eine Reform des Gesundheitswesens vorgenommen. Im Mittelpunkt des 2010 vom Kongress verabschiedeten Gesetzes zur „Patientensicherheit und bezahlbaren Pflege“ (Patient Protection and Affordable Care Act) stehen die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht und die Ausweitung von „Medicaid“, der staatlichen Versicherung für Sozialhilfeempfänger. Nun wäre allerdings eine entsprechende Versicherung für einkommensschwache Haushalte nicht finanzierbar. Deshalb sollen alle Bürger, gewissermaßen in einer Art Umlage, verpflichtend wenigstens eine Basisversicherung abschließen.

Daneben sieht das Gesetz einen Vertragszwang für Versicherungskonzerne vor: Anders als bislang üblich, dürften sie niemanden mehr aufgrund bestimmter Vorerkrankungen abweisen. Auch der Praxis rückwirkender Kündigungen von Policen nach dem Auftreten einer Erkrankung soll ein Riegel vorgeschoben werden. Der Entzug des Versicherungsschutzes im Krankheitsfall kann für die Betroffenen den finanziellen Ruin bedeuten. Privat zu tragende Behandlungskosten waren bis zur Hypothekenkrise die Hauptursache für Privatinsolvenzen in den USA.

Die heftigste Kritik an der Gesundheitsreform wird erwartungsgemäß von der politisch Rechten vorgetragen. Sie reiben sich vor allem an einem Punkt von „Obamacare“, wie das Gesetz mittlerweile genannt wird: dem „individuellen Mandat“, das Bürger bei Androhung einer Geldstrafe zum Abschluss eines Versicherungsvertrags zwingt. Dieser Passus wird von der Rechten als „Angriff auf die Freiheit“ empfunden. Doch nicht nur die Rechte hat Schwierigkeiten mit „Obamacare“. Von den hohen Zustimmungswerten, die dieses umfassende Reformvorhaben anfänglich in weiten Teilen der Bevölkerung genoss, ist nicht mehr viel übrig.

Im Frühjahr 2012 beschäftigte der Streit über das Gesetz den höchsten Gerichtshof, den Supreme Court. 26 Bundesstaaten hatten Klage gegen das Reformwerk eingereicht. Ihre Begründung: Das „individuelle Mandat“ verstoße gegen die in der Verfassung garantierte Entscheidungsfreiheit. Sein Urteil wollte der Supreme Court im Juni verkünden. Wie immer die Entscheidung ausfällt: Im Vergleich zum ursprünglich Geplanten wird nur eine stark geschrumpfte Version von „Obamacare“ übrig bleiben. Gegen die „Public Option“ etwa – die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung als Konkurrenz zu den privaten Unternehmen – hatten sich die Lobbyisten der großen Versicherungskonzerne mit Erfolg zur Wehr gesetzt. Und noch eins steht fest: Die Gesundheitskosten in den USA werden weiter steigen. Für eine vierköpfige Familie werden sie sich im laufenden Jahr auf rund 20 000 Dollar belaufen – 7 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Vor zehn Jahren betrug die Summe nur 9235 Dollar.


Gewerkschaften

Mitglied in einer amerikanischen Gewerkschaft zu sein, kann sich aus finanzieller Sicht durchaus lohnen. Berücksichtigt man individuelle, arbeits- oder sektorspezifische Faktoren, so verdienen gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer 10 bis 30 Prozent mehr als ihre nichtorganisierten Kollegen. Dennoch wird vielfach der Niedergang der Gewerkschaften diagnostiziert und dabei, neben anderem, auf den erheblichen Mitgliederschwund verwiesen: Waren 1954 noch 28,3 Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, lag dieser Wert 2011 nur noch bei 11,8 Prozent.

Der Entstehungskontext der Gewerkschaften in den USA war ein anderer als in Europa. Eine Umgestaltung der Gesellschaft war nicht Ziel, vielmehr ging es darum, das Bestmögliche für die Arbeiter herauszuholen. Dies betraf nicht nur den Lohn, sondern auch die Arbeitsstandards. Kennzeichnend war dabei eine starke Segmentierung der Gewerkschaften nach dem Einwanderungshintergrund ihrer Mitglieder: Arbeitnehmer – nach Herkunft organisiert – konkurrierten um Arbeitsplätze und versuchten, sich selbst Vorteile zu sichern und sich gegen den Wettbewerb anderer Gruppen zu schützen.

Differenzen innerhalb der US-Gewerkschaften zeigen sich, wenn man die Zusammensetzung der Mitglieder betrachtet: Es ist wahrscheinlicher, dass Gewerkschaftsmitglieder männlich, weiß und in mittlerem Alter sind, einen Universitätsabschluss haben und im privaten Sektor arbeiten. Dabei sind die Unterschiede in manchen Bereichen geringer geworden: Die Zahlen männlicher und weiblicher Gewerkschaftsmitglieder beispielsweise haben sich stark angenähert. Hingegen bestehen weiterhin Unterschiede nach Bundesstaaten und danach, ob es sich um einen öffentlichen oder privaten Sektor handelt. Beschäftigte im öffentlichen Sektor wie Lehrer, Polizisten oder Feuerwehrleute sind stärker gewerkschaftlich organisiert, machen aber nur einen kleinen Teil der Gesamtbeschäftigung aus. Die National Education Association (NEA) etwa ist mit drei Millionen Mitgliedern aus dem Bildungssektor eine der mitgliederstärksten Gewerkschaften. Doch auch wenn man die anderen Gewerkschaften hinzurechnet, die im Bildungsbereich tätig sind: Die Mehrheit der Arbeitnehmer ist, wie in den anderen Sektoren der Wirtschaft, nicht gewerkschaftlich organisiert.

Viele Arbeitgeber akzeptieren Gewerkschaften nicht als gleichberechtigte Partner, sondern versuchen, deren Einfluss einzuschränken. Dabei verweisen Unternehmen auf den steigenden Wettbewerbsdruck und die notwendige Flexibilität in einer globalisierten Weltwirtschaft, der die Gewerkschaften im Wege stünden. In dem Versuch, die Gewerkschaften zurückzudrängen, nutzen Arbeitgeber auch den unterschiedlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in den jeweiligen Bundesstaaten. Manche ausländische Autohersteller produzieren inzwischen im Süden der USA, wo – im Gegensatz zum Norden – weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind und Gewerkschaften generell skeptisch betrachtet werden. Ebenso versuchen einige (meist republikanisch regierte) Bundesstaaten, die Rolle der Gewerkschaften im öffentlichen Sektor zu beschneiden, indem sie ihre Angestellten daran hindern, sich zu organisieren und kollektiv zu verhandeln.

Die sinkenden Mitgliederzahlen und die bislang verfolgten Strategien im Umgang mit Arbeitgebern, die Gewerkschaften als Verhandlungspartner ablehnen, haben im Dachverband der Gewerkschaften, der American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO) – in dem aber nicht alle Gewerkschaften organisiert sind – zu Grundsatzdiskussionen geführt. Der Richtungsstreit führte 2005 dazu, dass sich die „Change-to-Win“-Koalition von der AFL-CIO abspaltete. Heute bringt die AFL-CIO 56 Gewerkschaften mit zwölf Millionen Mitgliedern zusammen, und die „Change-to-Win“-Koalition verbindet vier Gewerkschaften mit insgesamt 5,5 Millionen Mitgliedern. Ob die Gewerkschaften den Mitgliederschwund stoppen oder den Trend sogar umkehren können, ist fraglich. Doch ist Mitgliederstärke nicht der einzige Faktor für Erfolg und Einfluss. Entscheidend wird sein, wie die Gewerkschaften mit den Widerständen aus Teilen von Wirtschaft und Politik umgehen.
    


Filmindustrie

Die Filmindustrie ist ein wichtiger Exportsektor für die Wirtschaft. Nach Angaben der Motion Picture Association of America (MPAA) erzielten die USA im Bereich „audiovisueller Dienstleistungen“, wozu „Hollywood“ gehört, zuletzt einen Handelsüberschuss von zwölf Milliarden Dollar. Dies ist vor allem dem wachsenden „Kinohunger“ außerhalb der Vereinigten Staaten geschuldet. Zwischen 2007 und 2011 stiegen die Einnahmen, die die US-Filmwirtschaft an den Kinokassen in den USA und Kanada einspielte, nur um 6 Prozent, während sie in der übrigen Welt um 35 Prozent zunahmen. Die Gewinnspannen stiegen wegen der Schwäche des Dollar, aber auch wegen der immer weiteren Verbreitung digitaler 3D-Technik, die höhere Eintrittspreise rechtfertigt. 67 Prozent der „box office“-Einnahmen Hollywoods stammen heute aus dem Ausland, und in einer internationalen Filmindustrie, deren Umsatzvolumen die New York Times für 2014 auf 1,7 Billionen Dollar schätzt, sind die großen Studios gezwungen, sich immer stärker anzupassen, um den „globalen Kinogänger“ anzusprechen. Auf die wachsende Bedeutung des Auslandsmarkts für die Studios deuten auch die immer größere Dimensionen annehmenden globalen Werbekampagnen hin, bei denen amerikanische Filmstars rund um die Welt auf Promotionstour geschickt werden.

Die Internationalisierung des Filmgeschäfts stellt Hollywood vor neue Herausforderungen. Amerikanische Filme finden weiterhin schwer in einige der am schnellsten wachsenden Märkte. China, wo derzeit laut Economist täglich ein neues Kino eröffnet wird und das zuletzt Frankreich als zweitgrößten nationalen Filmmarkt überholte, erlaubt nur den Vertrieb von 20 nichtchinesischen Filmen pro Jahr. Während in den USA in der Regel die Hälfte der Kinoeinnahmen via eigener Vertriebsunternehmen an Hollywood fließen, muss die amerikanische Filmindustrie chinesische Vertriebe einschalten und kann deshalb nur rund 15 Prozent der Einspielergebnisse einnehmen. In einer im Februar 2012 erzielten Einigung, die Walt Disney-Chef Robert Iger als „bedeutende Chance“ bezeichnete, erlaubt China den Import von 14 „Premiumformat­filmen“ (IMAX/3D) zusätzlich zur bisherigen Quote von 20 Filmen und verspricht den US-Studios für diese einen Anteil von 25 Prozent an den Einnahmen.

Im übrigen Asien, wo heimische Filme immer mehr Zulauf finden, hat die US-Filmindustrie Marktanteile verloren. Zwischen 2002 und 2010 büßte Hollywood 25 Prozent am Anteil der gesamten Einspielergebnisse in Japan ein. Die indische Filmindustrie „Bollywood“, die nun mehr Filme jährlich produziert als Hollywood, dominiert den heimischen Markt mit einem Anteil von 90 Prozent. Um dieser Entwicklung zu begegnen, produzieren US-Studios heute mehr Filme mit Schauspielern, Schauplätzen oder in Sprachen, die in den Zielländern gut bekannt oder verbreitet sind.

Die größte Herausforderung für Hollywood aber ist wohl die Copyright-Piraterie. Im Internet-Zeitalter kann ein neuer Film binnen Stunden nach Erscheinen raubkopiert und digital verbreitet werden. Als Konsequenz sind viele Studios heute gezwungen, Filme fast zeitgleich in vielen Ländern in die Kinos zu bringen. Von Piraterie sind laut MPAA-Präsident Robert Pisano insbesondere die 115 000 kleinen bis mittleren Film- und TV-Unternehmen bedroht, die sich über alle 50 Bundesstaaten verteilen. Die MPAA und deren sehr aktiver Vorsitzender, der frühere Senator Chris Dodd, haben sich für die Ausweitung der Rechte amerikanischer Behörden eingesetzt, die illegale Online-Verbreitung von Copyright-geschütztem geistigem Eigentum und von Imitationen zu bekämpfen. Im Januar 2012 stellten sie den Stop Online Piracy Act (SOPA) vor, der nach vielen Protesten derzeit im Justizausschuss des Repräsentantenhauses feststeckt. Der Ausschuss will „eine Lösung für das Problem von Online-Piraterie finden, die Amerikas geistiges Eigentum und Innovationen schützt“.


Landwirtschaft

In vielen Bereichen weisen die USA Handelsbilanzdefizite auf – die Landwirtschaft allerdings erwirtschaftet schon seit Beginn der sechziger Jahre Überschüsse. Im ersten Quartal 2012 betrug der Wert der Exporte knapp 35 Milliarden Dollar und der Wert der Importe etwa 26,7 Milliarden Dollar. Schon aus diesem Grund hat die Landwirtschaft in der US-Ökonomie Gewicht. Zwar sind nur gut 1,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in dem Sektor tätig, doch gibt es derzeit über zwei Millionen landwirtschaftliche Betriebe – Tendenz steigend. Betriebe, die neu gegründet werden, sind allerdings generell kleiner als die bereits bestehenden, ihre Eigentümer sind jünger und haben neben der Landwirtschaft noch ein weiteres Standbein; nur knapp die Hälfte der landwirtschaftlichen Unternehmen erzielt ein ausreichendes Einkommen, die restlichen 1,2 Millionen Betriebe sind auf zusätzliche Einnahmequellen angewiesen.

Der Agrarsektor hat laut einer Studie des Department of Agriculture die wirtschaftliche Krise der vergangenen Jahre vergleichsweise gut überstanden, auch wenn die Exporte zwischenzeitlich rückläufig waren. 2011 stiegen sie wieder auf einen Wert von rund 136 Milliarden Dollar an. Als Absatzmärkte sind dabei nicht so sehr andere industrialisierte Länder, sondern vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer wichtig: 60 Prozent aller Exporte gehen heute dorthin, 1970 waren es nur 26 Prozent. Von dem vergleichsweise starken Wachstum in diesen Ländern dürfte die US-Landwirtschaft auch in nächster Zeit profitieren.

Deutschland und andere europäische Länder verlieren hingegen in ihrer Bedeutung als Absatzmärkte für US-Agrarprodukte. Das liegt wohl auch daran, dass eine Mehrheit der europäischen Verbraucher gentechnisch veränderte Lebensmittel ablehnt. Seit 1996 werden in den USA gentechnisch veränderte Pflanzen – vor allem Sojabohnen, Mais und Baumwolle – angebaut. Unternehmen und Landwirte heben die Vorteile hervor. So seien Unkraut- und Schädlingsbekämpfung seltener notwendig, was die Kosten senke. Zudem trügen die gesteigerten Erträge zur Bekämpfung weltweiter Nahrungsmittelkrisen bei.

Kritisch wird international auch ein anderer Bereich der amerikanischen Landwirtschaft gesehen: die Ethanol- bzw. Biokraftstoffproduktion. Sie wird für die jüngste Verschärfung globaler Lebensmittelkrisen mitverantwortlich gemacht. Die Weltbank sieht den Ausbau von Biokraftstoffen beispielsweise in einem Zusammenhang mit steigenden und stark schwankenden Lebensmittelpreisen. Die Ethanolindustrie in den USA bestreitet dies und betont, dass die Pflanzenarten – hauptsächlich Mais – , die für die Produktion angebaut werden, üblicherweise als Tierfutter, aber nicht als Nahrungsmittel für Menschen dienen.

Die USA sind bei weitem der weltweit größte Ethanolproduzent und -konsument. OECD und FAO erwarten in ihrem „Agricultural Outlook 2011–2020“, dass Ethanol als Treibstoff weiter an Bedeutung gewinnen und bis 2020 einen Anteil von 8,4 Prozent am gesamten Kraftstoffverbrauch in den USA erreichen wird. Die Förderung von Biokraftstoffen hatte bereits die Regierung Bush 2007 in ihrem „Biofuel Plan“ beschlossen. Präsident Obama hat an diesem Plan festgehalten und angekündigt, in Kooperation mit der Privatwirtschaft massiv in Forschung und Entwicklung zu investieren. So sollen nicht nur die Ölabhängigkeit reduziert, sondern gleichzeitig Arbeitsplätze in den USA gesichert werden. Allein im Bundesstaat Iowa, der in erheblichem Maße auf Biokraftstoffe setzt, hängen zehntausende Stellen von diesem Sektor ab.

Ethanol spielt auch noch in anderer Form in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle: Die USA sind mit einem Anteil von 10,6 Prozent am globalen Umsatz (2010) der viertgrößte Weinproduzent der Welt, hinter Italien (17,5 Prozent), Frankreich (16,2 Prozent) und Spanien (13,6 Prozent). Nach schwierigen Jahren ist der Ausblick für die US-Weinindustrie wieder besser: Laut einem Bericht der Silicon Valley Bank können die amerikanischen Weinbauern 2012 auf Umsatzzuwächse von bis zu 11 Prozent hoffen.


Migration und Bevölkerung

Die 3141 Kilometer lange Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ist eine der am strengsten bewachten Grenzen der Welt: Neben den 17 700 Mitarbeitern des Grenzschutzes sollen 1200 Angehörige der Nationalgarde, die normalerweise bei Naturkatastrophen eingesetzt wird, die Grenze sichern und den Schmuggel von Menschen, Drogen, Waffen und Geld unterbinden. Dennoch hat sich an der Tatsache, dass 97 Prozent der illegalen Grenzübertritte in die USA von Mexiko aus erfolgen, kaum etwas geändert.
Elf Millionen Menschen leben nach Schätzungen des Pew Research Center derzeit illegal, also ohne Aufenthaltsgenehmigung, in den USA. Rund 60 Prozent dieser Menschen sollen aus Mexiko stammen. Doch bedeutet das nicht, dass sich ein Großteil der Mexikaner illegal in den USA aufhält. Im Gegenteil: Mit 79 Prozent verfügt die große Mehrheit derer, die mexikanischer Herkunft sind und in den USA leben, über einen legalen Aufenthaltsstatus.

Überhaupt ist das Nachbarland Mexiko in vielen Statistiken zur Migration prominent vertreten: Von den 1 062 040 Menschen, die 2011 eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhielten, stammten 13,5 Prozent aus Mexiko, und die 94 783 Mexikaner, die im selben Jahr eingebürgert wurden, stellten mit 13,7 Prozent das größte nationale Kontingent. Stammten 1910 noch 95 Prozent der im Ausland geborenen US-Einwohner aus Europa und Kanada, so ergibt sich heute ein völlig anderes Bild: In Lateinamerika (53 Prozent) und Asien (28 Prozent) liegen heute die wichtigsten Herkunftsländer.

Zu den üblichen Wegen der Einwanderung kommt noch ein weiterer hinzu, der gleichzeitig eine gewisse Vielfalt der Herkunftsländer gewährleisten soll: die „Green Card“-Lotterie, die jedes Jahr veranstaltet wird. Länder, aus denen bereits viele Menschen in die USA eingewandert sind, werden von dieser Verlosung von Aufenthaltsgenehmigungen ausgeschlossen. 2012 durften deswegen unter anderem Mexiko, China, Indien und Großbritannien nicht teilnehmen. Immer mehr Menschen aus nahezu allen Teilen der Welt beteiligen sich an der Verlosung. Das zeigt, dass die USA, Einwanderungsland par excellence, weltweit weiterhin hoch attraktiv sind. 2012 haben sich 14,8 Millionen Menschen auf die 50 000 zu vergebenden Visa beworben.

Ein Teil der US-Bürger betrachtet Einwanderung, ob legal oder illegal, mit Sorge: Sie fürchten stärkere Konkurrenz um Arbeitsplätze, Belastungen für die öffentlichen Kassen und sehen den „American way of life“ bedroht. Solche Ängste sind nicht immer begründet: Meist konkurrieren Immigranten und US-Arbeitnehmer nicht um dieselben Stellen; vielmehr entstehen zusätzliche Arbeitsplätze, die die bereits bestehenden ergänzen. Die meisten Studien kommen zu dem Schluss, dass Immigranten das Lohnniveau der einheimischen Beschäftigten nicht senken. Nur bei der Gruppe der gering qualifizierten Arbeitnehmer ist dieser Effekt stärker umstritten. Zudem zahlen Immigranten, auch solche, die sich illegal im Land aufhalten, Steuern, beispielsweise wenn sie Lebensmittel oder andere Güter kaufen. Auch bei Zukunftstechnologien leisten Einwanderer viel: Mehr als die Hälfte der Startup-Unternehmen, die im Silicon Valley im Technologiesektor entstehen, werden von Immigranten gegründet. Auch bei Patenten spielen Menschen, die nicht in den Vereinigten Staaten geboren wurden, eine wichtige Rolle: Ein Viertel aller US-Patente beruht auf ihrer Arbeit.

Auch wenn gut ausgebildete Einwanderer in Wissenschaft und Forschung prominent vertreten sind: Längst nicht jeder, der in die USA einwandert, ist hoch qualifiziert. Betrachtet man das Ausbildungsniveau der Immigranten, zeigt sich ein gemischtes Bild: Zwar verfügen sie häufiger als US-Bürger über hohe Bildungsabschlüsse (so haben 1,9 Prozent der Einwanderer einen Doktortitel gegenüber 1,1 Prozent der einheimischen Bevölkerung), doch verfügen sie auch häufiger über geringere Qualifikationen. Im Vergleich zu Kanada, Neuseeland oder Australien ist der Anteil der USA an gering qualifizierten Einwanderern mit 30 Prozent besonders hoch. Eine Begründung dafür lautet, dass die Einwanderungspolitik der USA in den vergangenen Jahren Familienzusammenführungen begünstigt, aber wenig Wert auf das Ausbildungsniveau der Immigranten gelegt hat und darauf, was diese für die US-Wirtschaft leisten können.

Republikanische wie demokratische Politiker fordern inzwischen, die Immigration Hochqualifizierter stärker zu forcieren. In dem Zusammenhang betrachten beide Lager es als problematisch, dass viele ausländische Studenten zwar in den USA ausgebildet werden, aber anschließend keine Arbeitserlaubnis erhalten. Der amerikanische Think-Tank Brookings Institution forderte 2011, diesen Studierenden automatisch eine Green Card zu geben, sofern sie Natur- oder Ingenieurswissenschaften, Mathematik oder ein technologisches Fach abgeschlossen haben. Das Institut will den Sorgen der Bevölkerung durch eine Koppelung der Einwanderungsquoten an ökonomische Indikatoren wie Arbeitslosenquote oder Wachstum des Bruttoinlandsprodukts Rechnung tragen.


Militär und Rüstung

Von den Auswirkungen der globalen Finanzkrise sind auch der Verteidigungsetat und damit die Rüstungsindustrie nicht verschont geblieben. Zwar rangieren die USA laut Berechnungen des Stockholm International Peace Research Institute mit 41 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben auch 2011 unangefochten an der Spitze, und mit 711 Milliarden Dollar gaben die USA zehn Mal mehr für ihr Militär aus als beispielsweise Russland. Angesichts des massiven Haushaltsdefizits musste das Verteidigungsministerium aber innerhalb der nächsten zehn Jahre Einsparungen in Höhe von 487 Milliarden Dollar hinnehmen. Obschon im aktuellen Haushaltsplan für 2012 inklusive der Kosten für den „globalen Krieg gegen den Terror“ die Summe von 645,7 Milliarden Dollar vorgesehen ist – was 20 Prozent aller Bundesausgaben entspricht –, werden die Auswirkungen dieser Sparmaßnahmen nicht ohne Folgen für Wirtschaft und Arbeitnehmer in den USA bleiben.

In welchem Ausmaß die Wirtschaft von der Prosperität des Rüstungskomplexes abhängig ist, verdeutlicht ein Blick auf die Zahlen. Mit schätzungsweise 324 Milliarden Dollar hielt die US-Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie im Jahr 2010 53,9 Prozent des weltweiten Umsatzes in diesem Bereich. Im selben Jahr exportierte die Rüstungsindustrie Waren im Gesamtwert von 90 Milliarden Dollar – 7,0 Prozent der Gesamtexporte. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt war im Jahr davor mit 2,3 Prozent sogar größer als der der Automobil- (2,2 Prozent) oder der Primärmetallindustrie (1,2 Prozent). Rüstungsunternehmen wie General Dynamics, das einen Jahresumsatz von 32 Milliarden Dollar erwirtschaftet und über 95 000 Beschäftigte zählt, sind „big player“ in der Wirtschaft und verfügen über beachtlichen politischen Einfluss. Insgesamt beläuft sich die Zahl der direkt und indirekt Beschäftigten im Verteidigungssektor auf derzeit 3,53 Millionen.

Zugleich werden militärische Belange in immer größerem Umfang an private Auftragnehmer ausgelagert. Mitarbeiter einer Vielzahl privater Sicherheitsfirmen – die demokratische Legitimität ihrer Einsätze gerade im Ausland ist stark umstritten – übernehmen anstelle von regulären Soldaten oder Regierungsbeamten zentrale staatliche Aufgaben. Das Beschäftigungsfeld dieser „private contractors“ reicht von direkten Kampfhandlungen über militärische Ausbildung bis hin zu logistischer Unterstützung. Nach Berechnungen des amerikanischen Kriegs- und Konfliktforschers Peter W. Singer überstieg die Zahl der von der US-Regierung beauftragten „contractors“ in den ersten vier Jahren des Irak-Krieges die Gesamtzahl der Truppen, die Amerikas Verbündete stellten, um das 23-Fache. Trotz Protesten der einflussreichen Gewerkschaft American Federation of Government Employees, dass die Beschäftigung privater Auftragnehmer zu Lasten von Bundesangestellten gehe, dass sie schwerer haftbar zu machen und zudem teurer seien, gab das Verteidigungsministerium 2010 mit 121 Milliarden Dollar fast doppelt so viel für „private contractors“ aus, wie in der ursprünglichen Budgetierung vorgesehen war.

Ob das „outsourcing“ im Militärsektor anhält, bleibt abzuwarten. Zum einen haben die Kosten der Kriege in Afghanistan und im Irak von vorsichtig geschätzt 1,4 Billionen Dollar alle anfänglichen Kalkulationen weit übertroffen und werden zukünftige Regierungen weiter zum Sparen zwingen. Zum anderen drohen dem Verteidigungsministerium ab Januar 2013 aufgrund automatischer Haushaltskürzungen weitere Budgeteinbußen in Höhe von 500 Milliarden Dollar. Die mittel- und langfristigen Auswirkungen auf den Rüstungskomplex und die Wirtschaft im Allgemeinen werden auch davon abhängen, ob und inwieweit es dem Militärsektor gelingt, neue Beschäftigungsfelder zu erschließen. Die von Verteidigungsminister Leon Panetta forcierte „Ökologisierung“ des Verteidigungsapparats könnte sich als erfolgreicher Ansatz erweisen, Kosten zu sparen und durch die Entwicklung neuer Technologien zugleich Arbeitsplätze zu erhalten.


Raumfahrt

Der Umfang des Etats für die Luft- und Raumfahrtbehörde NASA hat sich mit 17,7 Milliarden Dollar für 2013 kaum verändert. Doch es gibt eine Reihe wichtiger struktureller Veränderungen, vor allem im Bereich der Planetenforschung, in dem Einsparungen von 20 Prozent vorgesehen sind: Die Gelder für das traditionsreiche Lunar-Quest-Programm zur Erforschung des Mondes sollen um 56 Prozent und für das Mars-Programm um 38 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gekürzt werden. Deshalb sah sich die NASA bereits gezwungen, aus der Zusammenarbeit mit der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) bei den Mars-Missionen 2016 und 2018 auszusteigen – ohne Zweifel ein Imageschaden für die amerikanische Raumfahrtbehörde, deren Apollo-Programm ganze Generationen faszinierte.

Mit der letzten Landung eines Space Shuttles am 21. Juli 2011 wurde zudem das vorläufige Ende einer vier Jahrzehnte währenden Ära bemannter Raumflüge beschlossen. Zwar verlängerte die Obama-Regierung die Beteiligung an der Internationalen Raumstation (ISS) bis 2020, doch fehlt der NASA nun eine eigene Raumfähre für den Transport von Astronauten ins All. Dass ausgerechnet Russland und China als derzeit einzige Nationen über Programme zur bemannten Raumfahrt verfügen, ist für amerikanische Weltraumpatrioten nur schwer zu akzeptieren.

Laut den 2010 verabschiedeten Richtlinien („National Space Policy“) soll der Weltraum auch für neue, nichtstaatliche Akteure geöffnet werden. Künftig können private Investoren den Weltraum als Geschäftsfeld nutzen und Dienstleistungen für nationale Weltraumbehörden anbieten. Visionäre Geschäftsideen reichen dabei von Logistik über Rohstoffgewinnung bis hin zu Tourismus. So fördert die NASA mit der Finanzierung des Commercial Crew Program die Entwicklung gewerblicher Raumtransportfähigkeiten. Das man sich dabei auf einem guten Weg befindet, zeigt die geglückte Mission zur ISS des privat finanzierten Raumtransporters Dragon. Ein Vertrag zwischen SpaceX, der kalifornischen Herstellerfirma der Raumkapsel, und der NASA sieht vor, dass das Unternehmen für 1,6 Milliarden Dollar zwölf Versorgungsflüge zur ISS gewährleistet und rund 20 Tonnen Material dorthin verfrachtet. Einen ähnlichen Vertrag hat die NASA auch mit der Orbital Space Corporation abgeschlossen, einem in Virginia ansässigen Unternehmen, das sich auf die Herstellung und den Start von Satelliten spezialisiert hat.

Die Einsparungen bei der NASA – der frühere NASA-Chefwissenschaftler Alan Stern bezeichnete die Streichung der Mars-Missionen „als Selbstmord in Zeitlupe“ – werden allerdings auch wegen ihrer womöglich negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft kritisiert. Die amerikanischen Weltraumprogramme insbesondere der sechziger Jahre wirkten als Beschleuniger von Innovation, was sich bis in die Gegenwart fortsetzte. Die NASA spricht von über 1750 „spin-off“-Produkten, die direkt auf die Raumfahrtforschung zurückgehen. Zu ihnen gehören unter anderem schnurlose elektrische Geräte, Antikratz­beschichtungen und GPS. Laut NASA dient das neue partnerschaftliche Verhältnis zur privaten Raumfahrtindustrie dabei vor allem der Steigerung der Innovationsfähigkeit. Astronomen wie Neil deGrasse Tyson (Autor von „Space Chronicles“) weisen allerdings darauf hin, dass der Wert von großen staatlichen Weltraumprogrammen nicht zuletzt darin liegt, eine ganze Nation in den Bann zu ziehen und für Naturwissenschaften zu begeistern. Nur dies schaffe die Voraussetzungen für eine Hightech-Ökonomie mit hochqualifizierten Arbeitsplätzen.


Soziale Mobilität und Einkommensgleichheit

Für viele sind die USA nicht nur ein Land, sondern eine Verheißung, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung zu den Grundrechten eines jeden Menschen beschrieben wird: „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“. Nichts definiert Amerika mehr als der „amerikanische Traum“, die Vorstellung, dass jeder die Möglichkeit hat, durch harte Arbeit zu Wohlstand und Erfolg zu kommen – so lange eine gewisse Chancengleichheit gegeben ist. Nur fragen sich viele Amerikaner angesichts wachsender Ungleichheit und abnehmender sozialer Mobilität, ob der amerikanische Traum noch realisierbar ist.

Eine Studie des Congressional Budget Office vom Oktober 2011 zeigt, wie groß die Kluft im Bereich der Einkommensverteilung geworden ist. Demnach wuchs das Einkommen (nach Steuern) des „obersten 1 Prozent“ zwischen 1979 und 2009 um 275 Prozent, während die Einkommen der „oberen 20 Prozent“ insgesamt nur um 65 Prozent anstiegen. Angehörige der „mittleren 60 Prozent“ konnten nur noch einen Zuwachs von 39 Prozent verbuchen, während für die „unteren 20 Prozent“ nur noch magere 18 Prozent abfielen. Ein jüngstes OECD-Ranking sortierte die USA im Bereich Einkommensgleichheit denn auch auf Platz 31 von 34 ein.

Die ungleichen Einkommenssteigerungen vollziehen sich in Zeiten, in denen die Kosten für den Besuch einer Universität immer weiter steigen. Das führt dazu, dass immer mehr Amerikaner auf Studentendarlehen oder staatliche Ausbildungsförderungsprogramme („pell grants“) angewiesen sind, wenn sie studieren wollen. Dabei decken die „pell grants“ nur 62 Prozent der Kosten des Besuchs einer Fachhochschule („community college“), nur 36 Prozent der Kosten eines Studiums an einer öffentlichen und nur 15 Prozent der Kosten an einer privaten Universität. 1979/80 lagen die Anteile noch bei 99, 77 beziehungsweise 36 Prozent.

 Dieser Trend führt dazu, dass höhere Bildung, insbesondere an den Spitzenuniversitäten, immer mehr zum Privileg der Oberschicht wird. 74 Prozent der Studenten an Universitäten der so genannten „Ivy League“ kommen aus Familien, deren Einkommen im obersten Viertel des Spektrums liegen; nur 3 Prozent aus dem untersten Viertel. Da ein Arbeitnehmer mit Bachelor-Abschluss durchschnittlich 38 Prozent mehr verdient als einer mit bloßem Highschool-Diplom, werden sich die Einkommensunterschiede weiter vertiefen, was wiederum soziale Aufstiege noch schwieriger machen wird. Dazu kommt ein sehr durchlässiges soziales Netz. Die ärmsten Amerikaner haben mit wesentlich schlechteren Ausgangsbedingungen zu kämpfen als Angehörige der einkommensschwachen Schichten in anderen Industrienationen. Eine umfassende Studie des Ökonomieprofessors Miles Corak von der University of Ottawa aus dem Jahr 2006 kam zu dem Schluss, dass die USA und Großbritannien den geringsten Grad an sozialer Mobilität aufweisen. Kanada, Finnland, Norwegen und Dänemark belegen die besten Plätze; Deutschland rangiert im Mittelfeld.

Glauben die Bürger der USA noch an die Möglichkeit, den amerikanischen Traum selbst verwirklichen zu können? Laut Umfrage des Pew Research Centers von 2011 meinen 68 Prozent der Befragten, dass sich ihr eigener amerikanischer Traum entweder bereits erfüllt habe oder sicherlich bald erfüllen werde. 54 Prozent zeigten sich überzeugt, innerhalb der kommenden zehn Jahre über mehr Wohlstand zu verfügen als jetzt. Dass aber eine „Occupy-Bewegung“ mit ihrem Slogan „Wir sind die 99 Prozent“ (versus 1 Prozent ultrareicher Mächtiger) entstanden ist, verweist auf Risse in der Gesellschaft, die durch die wachsende Einkommenskluft entstanden sind. Historisch betrachtet allerdings war der ultimative Traum einer Karriere „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ immer nur auf eine sehr kleine Anzahl wirklich Glücklicher beschränkt.


Steuern

Steuern sind seit langem eine amerikanische Obsession. Die „Boston Tea Party“, die den Unabhängigkeitskrieg auslöste, war eine Reaktion auf eine neue Teesteuer, die die Briten den amerikanischen Kolonialisten auferlegen wollten. „No taxation without representation“ – also keine Besteuerung ohne gewählte politische Vertretung – wurde zum Schlachtruf der Amerikanischen Revolution. Die heutige Tea-Party-Bewegung knüpft an diese Zeiten an: Viele ihrer Anhänger setzen höhere Steuern mit der Beschneidung von Freiheitsrechten gleich.

Die Grundlagen für das Steuersystem wurden mit dem Bürgerkrieg (1861–1865) geschaffen. Zuvor hatte es keine direkten Einkommensteuern gegeben. Stattdessen sicherten Abgaben und Zölle auf bestimmte Produkte die Regierungseinnahmen. Eine bundesweite Einkommensteuer wurde erst 1913 mit der Verabschiedung des 16. Verfassungszusatzes eingeführt. Der Erste und Zweite Weltkrieg, in Kombination mit den „New Deal“-Programmen unter Präsident Franklin D. Roosevelt, ließen die Steuern steigen und den ­Spitzensteuersatz während des Zweiten Weltkriegs auf 94 Prozent klettern. Auch danach blieb der Spitzensteuersatz noch zwei Jahrzehnte lang hoch und lag in den siebziger Jahren, einem von Ölkrise und Stagflation geprägten Jahrzehnt, noch bei 70 Prozent.
Die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten läutete dann eine neue Ära in der Steuerpolitik ein. In seiner ersten Amtszeit kürzte Reagan alle Steuersätze um ein Viertel, in seiner zweiten Amtsperiode senkte er den Spitzensteuersatz von 50 auf 28 Prozent und die Unternehmenssteuer von 50 auf 35 Prozent ab. Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik („supply-side economics“), auch als „Reaganomics“ bekannt, trat ihren Siegeszug an, und diese Wirtschaftsphilosophie dominiert bis heute.

Unter Bill Clinton zogen die Steuersätze leicht an, wurden aber von George W. Bush und Barack Obama wieder zurückgefahren. Während also die Steuerbelastung in den vergangenen drei Jahrzehnten in allen Bereichen abgenommen hat, sind die Staatsausgaben gestiegen. Seit 1980 sind die jährlichen Bundesausgaben von 581 Milliarden auf 3,09 Billionen Dollar und mit den Ausnahmen 1987 und 1993 jedes Jahr gewachsen.

Im Ergebnis steht eine Staatsverschuldung, die heute 15 Billionen Dollar übersteigt. Die Debatte über die Höhe der Verschuldung spielt eine zentrale Rolle in der amerikanischen Politik und spitzte sich im Sommer 2011 dramatisch zu, als die Republikaner im Kongress eine weitere Anhebung der Schuldengrenze ablehnten, falls Obama und die Demokraten nicht gleichzeitig Haushaltseinschnitten zustimmten. Ein Kompromiss sollte auf der Grundlage zustandekommen, dass die Republikaner ihrerseits einigen Steuererhöhungen zustimmten (das Volumen von Einsparungen gegenüber Steuererhöhungen lag im Verhältnis von 3:1), aber die republikanischen Kongressabgeordneten, die fast einstimmig Steuererhöhungen unter allen Umständen ablehnen, schreckten am Ende vor einer Zustimmung zurück. Beide Seiten einigten sich schließlich, die Kompromissfindung einem „Superausschuss“ zu überlassen (der aber am Ende zu keiner Einigung kam). Die Funktionsstörung des politischen Systems, die in dieser Konfrontation offenkundig wurde, hatte gewichtige Folgen für die Kreditwürdigkeit der USA: Die Ratingagentur Standard & Poor’s entzog ihr den „Triple-A“-Status.

Diese krisenhafte politische Zuspitzung in Sachen Schuldengrenze mochte den Finanzmärkten einen kurzen Schock versetzen; danach aber sanken die Zinsen für amerikanische Staatsanleihen. Vielen internationalen Anlegern gelten die USA weiterhin als verhältnismäßig sichere Anlage, gerade in Zeiten, in denen Europa weiterhin krisengeplagt ist. Dass sich die Kontroverse um die Erhöhung der Schuldengrenze ökonomisch nicht stärker negativ ausgewirkt hat, könnte Auswirkungen für das ohnehin politisch geladene Wahlkampfjahr 2012 haben: Die Polarisierung, die schon zur Abwertung der Kreditwürdigkeit der USA führte, könnte sich noch weiter vertiefen.

Dabei steht den Amerikanern die nächste große, vermutlich noch heftiger geführte Auseinandersetzung über das Thema Steuern Ende 2012 ins Haus, wenn die von George W. Bush verabschiedeten (und von Obama 2010 in einer Kompromisslösung eher widerstrebend verlängerten) Steuersenkungen auslaufen. Die republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus wollen eine Abstimmung über eine weitere Verlängerung noch vor den Präsidentschaftswahlen im November 2012, um die Demokraten als „Partei der hohen Steuern“ brandmarken zu können. Die Demokraten argumentieren, die USA seien auf höhere Steuereinnahmen angewiesen. Barack Obama hat bereits angekündigt, die Steuersenkungen zumindest für diejenigen nicht zu verlängern, deren Jahreseinkommen 250 000 Dollar übersteigt. Sollten beide Seiten keine Einigung erreichen, werden die Einkommensteuern für alle Anfang 2013 wieder erhöht. Obama will zudem die Steuergesetzgebung reformieren, Schlupflöcher stopfen und die Steuersätze neu justieren, insbesondere für höhere Einkommen. Allerdings glauben viele Amerikaner, dass sich in diesem Bereich nicht viel ändern wird, selbst wenn Obama wiedergewählt würde.


Strafjustiz

Immer härtere, immer längere Strafen bestimmten in den vergangenen 30 Jahren Amerikas Strafjustiz – eine Entwicklung, die nicht nur damit zu tun hat, dass das Prinzip der Vergeltung und der Schutz der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten traditionell eine größere Rolle spielen als in Europa, sondern auch damit, dass man Law and Order seit der Verbrechenswelle in den achtziger Jahren als Wahlkampfthema entdeckt hat. Saßen noch 1980 139 von 100 000 Bürgern in Haft, so stieg ihre Zahl bis 2010 um das Fünffache, auf 743. Damit liegen die USA vor Russland und Ruanda an der Weltspitze.

23 Prozent aller weltweit Inhaftierten sitzen in den USA ein – und das, obwohl das Land nur knapp 5 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht. Die Haftbedingungen gelten als die härtesten in der westlichen Welt. Was die Zustände etwa in den so genannten „Supermax“-Gefängnissen (kurz für „supermaximum security“) angeht, so kamen die Autoren einer Studie der amerikanischen ­Juristenvereinigung New York Bar Association zum Schluss, sie kämen dem gleich, was man im internationalen Recht als Folter bezeichne. Amerikas Gefängnisse sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor: als Billiglohnfabriken, als Jugendheime – allerdings auch, in steigendem Maße, als Pflegeanstalten. Beinahe jeder zehnte Verurteilte sitzt lebenslang ein. Nach Angaben von Human Rights Watch sind 124 400 Häftlinge über 55 Jahre alt, eine Steigerung um 282 Prozent gegenüber 1995. Krankheiten wie Depressionen, Aids, Diabetes und Alzheimer sind bei ihnen überdurchschnittlich verbreitet.

Besonders dramatisch ist die Lage im Bundesstaat Louisiana, wo statistisch gesehen 1619 von 100 000 Einwohnern im Gefängnis sitzen (der Durchschnittswert für die USA liegt bei 730 Gefangenen pro 100 000 Einwohner, in Russland sind es 524, im Iran 333). Dieser hohe Anteil erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die zu einem beachtlichen Teil privatisierte Gefangenenverwahrung in Louisiana ein einträgliches Geschäft ist. Laut einem Bericht der in New Orleans erscheinenden Zeitung The Times-Picayune sitzen in Louisiana 50 Prozent der Verurteilten in „lokalen“, privatwirtschaftlich geführten Gefängnissen ein (der nationale Durchschnitt liegt bei 5 Prozent). Bei der Privatisierung in den neunziger Jahren kamen vor allem örtliche Sheriffs zum Zug, die sich auf diese Weise als Nebenunternehmer zusätzliche Einkommen sicherten. Als Aufseher wurden oft einheimische Landwirte angeworben, deren Betriebe zuvor aufgrund fallender Getreidepreise Pleite gemacht hatten. Die wirtschaftlichen Anreize, die sich aus diesem Arrangement ergeben, scheinen in Louisianas Strafjustizsystem durch: Der Bundesstaat bestraft auch „nicht gewalttätige“ Verbrechen mit harten und langen Gefängnisstrafen, Aus- und Weiterbildung oder Resozialisierungsmaßnahmen finden in „lokalen“ Gefängnissen nicht statt, entsprechend hoch ist die Rückfallrate.

Als Reaktion auf diese und andere Folgen des exzessiven Wegsperrens ist derzeit allerdings eine gewisse Trendwende zu beobachten. Die Zahl der Gefängnisinsassen geht zurück, auch und gerade in den Supermax-Gefängnissen von Staaten wie Colorado, Illinois und Washington. Hatten lange Zeit private Firmen wie die Corrections Corporation of America von überfüllten Staatsgefängnissen und einer verschärften Einwanderungspolitik profitiert, so geht ihre Rechnung inzwischen nicht mehr immer auf – oft bleiben die Insassen aus, die das Geschäft erst profitabel machen.

Auch von der Todesstrafe rückt das Land allmählich ab. Zwar befürworten fast zwei Drittel der US-Bürger (61 Prozent) sie heute noch – das ist aber die niedrigste Quote seit 39 Jahren. Nicht weniger als 90 Prozent der Kriminologen bezweifeln, dass die Strafe der Abschreckung dient. Wurden im Jahre 1999 nach Angaben des Bureau of Justice Statistics noch 98 Todesurteile vollstreckt, so ist die Rate seither auf 43 im vergangenen Jahr gesunken. Noch stärker zurückgegangen ist die Zahl neuer Verurteilungen: von 312 im Jahre 1995 auf 78 im Jahre 2011. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: die internationalen Proteste, die vielen nachträglich durch DNA-Analyse nachgewiesenen Fehlurteile, die immer langwierigeren Prüfungen, Berufungsverfahren und Revisionen und schließlich die Kosten – der finanzielle Aufwand für ein Todesurteil ist wesentlich höher als der für lebenslange Haft, zum Teil beträgt er das Dreifache.


Wirtschaftswissenschaften

Großbritanniens viktorianischer Historiker Thomas Carlyle nannte sie einmal die „trostlose Wissenschaft“ („a dismal science“). Doch spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2008 bestimmen widerstreitende volkswirtschaftliche Konzepte das öffentliche Bewusstsein und die politischen Debatten – gerade in den USA, die in Sachen Wirtschaftswissenschaften seit Ende des Zweiten Weltkriegs unumstrittener globaler Spitzenreiter sind. Alle bedeutenden neuen Ideen in diesem Feld, einschließlich Paul Samuelsons „positive economics“ und Milton Freedmans „permanenter Einkommens­hypothese“, stammen aus den USA.

Die Führerschaft in Wirtschaftswissenschaften unterstreicht auch die Tatsache, dass der 1969 gestiftete Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für „herausragende Beiträge“ in diesem Feld, der jedes Jahr an bis zu drei Wissenschaftler vergeben wird, bislang in 49 Fällen an amerikanische Staatsbürger ging – was einem Anteil von 70 Prozent entspricht. Amerikas Dominanz ist dabei in den vergangenen Jahren noch gewachsen: Seit 1999 war jedes Jahr unter den Preisträgern mindestens ein Amerikaner. Wie ist dies zu erklären?

Die Anziehungskraft der amerikanischen politischen und sozialen Kultur auf führende ökonomische Denker ist traditionell groß. Von den 49 amerikanischen Nobelpreisträgern wurden 12 außerhalb der USA geboren. Großzügige Stipendien für Forschung und Studium, die führende US-Stiftungen vergeben, lockten einige begabte angehende Ökonomen nach Amerika. Andere wie Wassily Leontief (Nobelpreisträger von 1973), der 1931 in die USA auswanderte, kamen, weil amerikanische Einrichtungen für Ausländer offenstehen. Leontief nahm seinerzeit das Angebot an, einen wichtigen Posten im US National Bureau of Economic Research anzutreten.

Viele internationale Wirtschaftswissenschaftler reizt bis heute eine Beschäftigung in der immer noch größten und dynamischsten Volkswirtschaft der Welt, die im 20. Jahrhundert vielfach Zufluchtsort vor diktatorischen Regimen war, die abweichende (wirtschafts-)politische Ansichten unterdrückten und Ökonomen keine freien, der Kreativität zuträglichen Umgebungen erlaubten; dies galt insbesondere für deutsche, italienische und osteuropäische Wissenschaftler. So wie bis zur Nazi-Ära deutsche Universitätsstädte weltweit führende naturwissenschaftliche Zentren waren, unterfüttern heute die amerikanischen Wirtschaftswissenschaften die amerikanische Führungsrolle.

Das hohe Prestige der führenden amerikanischen Universitäten wirkt sich heute auf die Volkswirtschaftslehre in zweifacher Weise aus. Zum einen liefern die US-Universitäten grundlegende oder bahnbrechende Forschungsergebnisse; zum anderen ziehen sie die Besten der Welt an. Die Spitzenposition wird mit hohen Ausgaben untermauert. Nach Berechnungen der OECD gaben die USA 2011 knapp unter 30 000 Dollar für jeden Studierenden im Hochschulbereich aus – deutlich mehr als alle anderen OECD-Mitglieder; die Schweiz liegt mit Ausgaben von 22 000 Dollar mit einigem Abstand auf Rang zwei. Auch gemessen an BIP-Anteil geben die USA mit 2,7 Prozent mehr aus als jedes andere OECD-Land.
 

 

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 2, Juli/ Augist 2012, S. 32-57

Teilen