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01. Nov. 2004

Die Türken vor Brüssel

Eine amerikanische Sicht der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU

Die Entscheidung der EU, ob sie mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufnehmen wird oder
nicht, hat nicht nur für die Türkei, sondern auch für die EU und die USA strategische Bedeutung. F. Stephen Larrabee
von RAND plädiert entschieden dafür, der Türkei im Interesse des gesamten Westens und im Interesse
gedeihlicher Beziehungen zu der muslimischen Welt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
zur EU anzubieten.

Die Entscheidung der Europäischen Union, ob sie Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnimmt, wird wichtige Konsequenzen nicht nur für die EU oder die Türkei haben, sondern auch für die transatlantischen Beziehungen. Zwar sind die Vereinigten Staaten kein Mitglied der Europäischen Union, doch unterhalten sie enge Beziehungen zur Türkei und treten seit langem energisch für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU ein. Washington sieht die bevorstehende Entscheidung über den Beitritt als eine strategische Wahl, die die künftige politische Orientierung der Türkei und der EU genauso berührt wie die strategischen Interessen Amerikas im weiteren Mittleren Osten und in der Schwarzmeer-Region.

Für die Türkei ist die Entscheidung der EU lebenswichtig. Die Regierung unter Recep Tayyip Erdogan hat der EU-Mitgliedschaft oberste strategische Priorität eingeräumt und beträchtliches politisches Kapital in die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen investiert. Falls man der Türkei kein Datum dafür nennt, wird es dort wahrscheinlich sehr negative politische Reaktionen geben. Die politischen Folgen eines solchen Ausgangs könnten für die politische Zukunft der Türkei sowie für die Erdogan-Regierung, die ganz auf die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen gesetzt hat, schwerwiegend sein. Die Entscheidung der EU könnte außerdem leicht eine neue Runde gegenseitiger Vorwürfe zwischen den USA und der EU eröffnen und die seit dem Irak-Krieg bestehenden Spannungen verschärfen.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU werden in Washington vorrangig im Licht der breiteren strategischen Interessen Amerikas gesehen. Während des Kalten Krieges diente die Türkei als Bollwerk gegen eine sowjetische Expansion in Richtung Naher Osten oder Mittelmeer. Sie band etwa 24 Sowjetdivisionen, die ansonsten vielleicht an der Hauptfront stationiert worden wären. Die Türkei stellte auch wichtige Einrichtungen bereit, um die Einhaltung der Rüstungskontrollverträge durch die Sowjets zu überwachen.

Das Ende des Kalten Krieges verringerte die strategische Bedeutung der Türkei nicht. Sie hat aus der Sicht Washingtons sogar noch zugenommen. Die Türkei ist ein Eckpfeiler in der amerikanischen Strategie für den Nahen und Mittleren Osten und für den Persischen Golf.

Hinzu kommt, dass nach dem 11. September 2001 und nach dem Wahlsieg der Islamischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) unter Ministerpräsident Erdogan die Rolle der Türkei als einer säkularen muslimischen Demokratie für die amerikanische Politik zunehmend wichtig wird. Für viele in der Regierung von George W. Bush, besonders für Neokonservative, ist die Türkei das Vorbild für die Verbreitung der Demokratie im Nahen und Mittleren Osten, dem andere Länder der Region folgen sollen.

Der türkische Weg der politischen Entwicklung jedoch ist einzigartig und nicht leicht nachzuahmen. Im Mittleren Osten ist kein neuer Kemal Atatürk zu sehen, der bereit wäre, für Demokratie und Säkularismus einzutreten und ihnen strategische Priorität einzuräumen. Darüber hinaus verwerfen viele Türken, ganz besonders das verwestlichte politische Establishment, die Idee, die Türkei solle Vorbild für die Demokratisierung des Mittleren Ostens sein. Sie haben nämlich Angst, dass die Türkei tiefer in den Mittleren Osten hineingezogen werden könnte und dadurch die Bindungen der Türkei an den Westen geschwächt werden könnten. Sie fürchten auch, die Bedeutung des Islams und der Islamisten für die türkische Politik könnte so zunehmen.

Schließlich sehen viele Länder im Nahen und Mittleren Osten die Türkei überhaupt nicht als Vorbild an. In ihren Augen ist die Türkei ein abtrünniges, häretisches Land, das sich an den Westen „verkauft“ hat. Dazu kommt die Abneigung gegen die imperiale Macht der osmanischen Zeit wie auch gegen die aktuellen engen Beziehungen der Türkei zu Israel. Erst als sich in jüngster Zeit das Parlament weigerte, die Stationierung amerikanischer Streitkräfte auf türkischem Boden für eine zweite Front in Irak zu gestatten, und als Erdogan die israelische Politik kritisierte, hat sich das Image der Türkei dort verbessert.

Die „Kurdenfrage“

Die Vereinigten Staaten haben die Kurdenfrage in der Türkei im Großen und Ganzen als terroristische Angelegenheit gesehen. Diese Tendenz hat sich nach dem 11. September und nach dem „globalen Krieg gegen den Terrorismus“ von Präsident Bush noch verstärkt. Deshalb haben die USA im Allgemeinen das Vorgehen der türkischen Regierungen gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und ihre Nachfolgeorganisation Kongra-Gel unterstützt. Im Gegensatz dazu haben die Europäer die Kurdenfrage eher als eine Menschenrechtsfrage betrachtet und dementsprechend die türkische Regierung auch kritisiert.

Die amerikanische Invasion Iraks hat aber die amerikanisch-türkischen Beziehungen komplizierter gemacht und der Kurdenfrage eine neue Dimension verliehen. Die USA müssen nun auf einem schmalen Grat zwischen den Wünschen der irakischen Kurden nach Autonomie einerseits und dem Interesse an guten Beziehungen zur Türkei andererseits balancieren. Das türkische Establishment bleibt den Zielen der amerikanischen Politik in Irak gegenüber misstrauisch. Es befürchtet, dass die amerikanische Politik letztlich zur Schaffung eines unabhängigen kurdischen Staates an der türkischen Grenze führen könnte. Die seit 2003 in Irak herrschende Unsicherheit hat diese Befürchtungen noch verstärkt.

Die Türken halten kurdischen Separatismus für eine ernste Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit. Sie haben überdeutlich klar gemacht, dass sie keine kurdischen Separatisten tolerieren werden, die Nordirak als ein geschütztes Gebiet nutzen, um von dort aus Angriffe gegen die Türkei zu führen. Sie haben erheblichen Druck auf die amerikanische und die irakische Regierung ausgeübt, damit diese kurdische Aufständische in Nordirak unschädlich machen. Wenn die Kurdenfrage nicht zufrieden stellend gelöst wird, könnte es zu einer ernsthaften Verschlechterung der Beziehungen der Türkei mit Washington und Bagdad kommen, was wiederum die Türkei veranlassen könnte, unilateral zu handeln, bis hin zu Militäreinsätzen in Nordirak. Derartige Aktionen könnten dann wiederum die Bereitschaft der EU verringern, über den Beitritt Ankaras zu verhandeln.

Doch es gibt erste Anzeichen dafür, dass die Türkei vielleicht anfängt, ihre Politik gegenüber den Kurden in Nordirak zu überdenken. In jüngster Zeit ist der türkische Widerstand gegen eine föderale Lösung in Irak schwächer. Einige Türken beginnen anzuerkennen, dass die Türkei mit den Kurden in Nordirak das gemeinsame Interesse hat, einen schiitisch dominierten und eng mit Iran verbündeten Irak zu verhindern. Falls sich das türkische Denken weiter in diese Richtung entwickelt, könnte dies die türkische und amerikanische Irak-Politik in engere Übereinstimmung bringen.

Zentralasien, Kaukasus

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat aus amerikanischer Sicht die Rolle der Türkei auch in Zentralasien und im Kaukasus an Bedeutung gewonnen, als strategischer Verbündeter und als nützliches Gegengewicht zu Russland. Das war das Motiv hinter der amerikanischen Unterstützung für die Erdölleitung von Baku über Tiflis bis zum türkischen Mittelmeer-Hafen Ceyhan, die ein bedeutendes strategisches Ziel mehrerer aufeinander folgender türkischer Regierungen war und ist.

Jedoch hat es sich herausgestellt, dass die Ausweitung des türkischen Einflusses in Zentralasien schwieriger ist als ursprünglich von Amerikanern und Türken erwartet. Viele der sowjetischer Herrschaft entronnenen Staaten dachten nicht daran, einen großen Bruder durch einen anderen zu ersetzen. Die Türkei hatte auch das Wirtschaftspotenzial vieler mittelasiatischer Länder überschätzt. Drittens zeigten die postkommunistischen autoritären Führer wenig Interesse am türkischen Modell einer muslimischen Demokratie, das ihre eigene Macht untergraben hätte. Und schließlich erwies sich der russische Einfluss stärker als angenommen.

Dementsprechend hat die anfängliche Euphorie unter Turgut Özal einem realistischeren Ansatz Platz gemacht. Ohnehin haben die Vereinigten Staaten nach dem 11. September eine eigene militärische Präsenz in Zentralasien geschaffen und brauchen keine Stellvertreter mehr. Doch die amerikanischen und die türkischen Interessen in Zentralasien stimmen im Großen und Ganzen nach wie vor überein, und Washington hat die Bereitschaft der Türkei begrüßt, dort eine aktivere Rolle zu spielen. Ankara und Washington teilen auch das Interesse an einer Stabilisierung des Südkaukasus und an einer Verringerung des russischen Einflusses in dieser Region. Daher treten beide Länder nachdrücklich für eine Verstärkung der Beziehungen der NATO zu Georgien und Aserbaidschan ein, beide unterstützen das Bemühen Georgiens um Mitgliedschaft in der NATO.

Die Achillesferse der Türkei im Südkaukasus sind die Beziehungen zu Armenien. Die USA haben auf Ankara Druck ausgeübt, die Beziehungen zu Jerewan auch mit kleinen Schritten zu verbessern, etwa durch die Öffnung der Grenze zu Armenien, die seit dem Ausbruch des Konflikts um Berg-Karabach Anfang der neunziger Jahre geschlossen ist, oder durch die Verstärkung der Handelsbeziehungen. Das Fortbestehen des Konflikts um Berg-Karabach bleibt jedoch ein großes Hindernis für eine ernsthafte Verbesserung der türkisch-armenischen Beziehungen. Die Türkei will nicht Gefahr laufen, durch eine zu rasche Verbesserung der Beziehungen zu Jerewan ohne vorherige Lösung des Konflikts um Berg-Karabach die Beziehungen zu Aserbaidschan zu verschlechtern, wo nach wie vor alle Schritte in Richtung türkisch-armenische Annäherung misstrauisch beobachtet werden.

Eine Lösung des Konflikts um Berg-Karabach hätte drei wichtige positive Ergebnisse: Erstens wäre sie die Grundlage für eine Verbesserung der türkisch-armenischen Beziehungen. Zweitens würde sie Armenien erlauben, seine Abhängigkeit von Russland zu verringern (was ein Grund dafür ist, dass Russland bisher wenig echtes Interesse daran gezeigt hat). Drittens wäre sie die Grundlage dafür, Armenien in weitere regionale Energie- und Sicherheitsstrukturen zu integrieren.

An der Lösung dieses Konflikts sind Washington und Ankara gleichermaßen interessiert. Die Aussichten dafür in naher Zukunft sind jedoch recht gering. Weder Aserbaidschan noch Armenien sind bereit, die notwendigen Kompromisse einzugehen. Somit bleibt eine weit reichende Annäherung zwischen der Türkei und Armenien vorerst unwahrscheinlich.

Amerikanische Ansicht

Die amerikanische Elite ist von der geostrategischen Bedeutung der Türkei überzeugt, und sie befürwortet einheitlich den Wunsch der Türkei nach Mitgliedschaft in der EU. Dieser Konsens wird von Republikanern und Demokraten gleichermaßen geteilt. Es bestehen jedoch feine Unterschiede zwischen bestimmten Gruppen und auch den verschiedenen Ministerien.

So liegt vielen Neokonservativen die strategische Rolle der Türkei im Mittleren Osten viel mehr am Herzen als deren Beziehungen zu Europa. Sie glauben, dass die Türkei Europa weniger Aufmerksamkeit schenken und stattdessen ihre Beziehungen zu den USA und zu Israel verstärken sollte. Viele von ihnen wären gar nicht unglücklich, wenn sich die EU weigern würde, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, weil das die Türkei zwingen würde, sich enger an die USA und Israel zu binden.

Auch ethnische Faktoren spielen in der amerikanischen Türkei-Politik eine Rolle. Die armenische Lobby hat regelmäßig Gesetze eingebracht, um die Türkei wegen Genozids zu verurteilen. Das hat etwa im Jahr 2000 die Spannungen mit Ankara verschärft. Der Streit konnte erst entschärft werden, als es der Clinton-Regierung gelang, den Resolutionsentwurf in letzter Sekunde zurückziehen zu lassen.

Die griechische Lobby hat im vergangenen Jahrzehnt das Zypern-Problem als Hebel genutzt, um Druck des Kongresses auf die Türkei zu mobilisieren. Deshalb hat der Kongress eine Reihe von Waffenverkäufen an die Türkei entweder ganz gestoppt oder zumindest verzögert, was wiederum in der Türkei beträchtlichen Ärger verursacht und Ankara veranlasst hat, seine Abhängigkeit von amerikanischen Waffen zu verringern. Jedoch hat das Entgegenkommen der Erdogan-Regierung in der Zypern-Frage, zusammen mit der allgemeinen Verbesserung der griechisch-türkischen Beziehungen in letzter Zeit die Bedeutung der Zypern-Frage vermindert.

Die türkisch-amerikanische Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten ist mit ihren etwa 350000 Angehörigen recht klein im Vergleich zu den griechischen oder armenischen Amerikanern und besitzt auch nur wenig politischen Einfluss. Andererseits gibt es innerhalb der amerikanischen Regierung eine starke „türkische Lobby“, ganz besonders im Pentagon, das ein starkes strategisches Interesse an engen Beziehungen zur Türkei hat.

Die Einschätzungen der Legislative und der Exekutive unterscheiden sich jedoch oft voneinander. Die Exekutive räumt in den Beziehungen zur Türkei strategischen Überlegungen Vorrang ein. Im Kongress spielen oftmals ethnische Faktoren und Menschenrechte eine größere Rolle.

Zypern, Kurden, Inçirlik

Zwar sehen die Vereinigten Staaten die Türkei als einen immer wichtiger werdenden Verbündeten in ihrer Strategie für den Mittleren Osten und die Schwarzmeer-Region, doch die Beziehungen zwischen Washington und Ankara waren nur selten ohne Probleme, selbst in der Spätphase des Kalten Krieges.

Große Probleme waren der Zypern-Konflikt und das Verhältnis zu Griechenland. Aber auch der Zugang zu türkischen Militärbasen, besonders zum Luftwaffenstützpunkt Inçirlik, waren eine die Beziehungen belastende Streitfrage zwischen den USA und der Türkei. Die Bereitschaft des damaligen Staatspräsidenten Turgut Özal, den USA im Golf-Krieg 1991 die Benutzung türkischer Einrichtungen für Luftangriffe in Irak zu gestatten, war die Ausnahme, nicht die Regel. Im Allgemeinen waren die Türken sehr zögerlich, wenn es darum ging, türkische Einrichtungen für Einsätze außerhalb der NATO zu nutzen. Die Operation „Northern Watch“ – die Überwachung der Flugverbotszone über dem nördlichen Irak – musste alle sechs Monate vom türkischen Parlament verlängert werden, was oft erst nach Debatten und mit Verzögerungen geschah.

Die Türken haben amerikanischen Einsätzen von Inçirlik aus zunehmend Beschränkungen auferlegt. Besonders empfindlich ist man bei Kampfeinsätzen im Mittleren Osten und am Persischen Golf. Deshalb können die Vereinigten Staaten nicht automatisch voraussetzen, Inçirlik für Zwecke nutzen zu können, die über das Abkommen über Zusammenarbeit und Wirtschaft (DECA) von 1980 hinausgehen. Die Bush-Regierung hat etwa die Option geprüft, im Rahmen der Umstrukturierung der US-Streitkräfte 48 F-16-Kampfflugzeuge in Inçirlik zu stationieren. Die Türkei bestand jedoch darauf, dass deren Einsatz eng mit dem türkischen Militär abgestimmt wird und nur im Rahmen der NATO möglich ist. Die Türken lehnen eine dauerhafte Stationierung amerikanischer Streitkräfte auf türkischem Boden ab.

Zuletzt verfolgen die USA und die Türkei keine identische Mittelost-Politik. Die Türkei hat großes Interesse an freundschaftlichen Beziehungen zu Iran und Syrien. Diese drei Staaten eint das Anliegen, einen unabhängigen Kurdenstaat zu verhindern. Auch angesichts ihres steigenden Energiebedarfs hat die Türkei ein großes Interesse an guten Beziehungen zu Iran. Damit steht die Türkei im Gegensatz zu den USA. Die jüngste Annäherung der Türkei an Iran und Syrien hat in Washingtoner Kreisen ebenso Bestürzung hervorgerufen wie die jüngste Kritik Erdogans an Israel. In der Tat steht die Türkei in vielen Fragen den Europäern näher als Washington.

Dennoch besitzen die USA nach wie vor ein strategisches Interesse an einer stabilen, demokratischen und säkularen Türkei, die eng an den Westen gebunden ist. Dieses übergeordnete strategische Anliegen wird wahrscheinlich die Haupttriebkraft der amerikanischen Politik bleiben, trotz aller Meinungsverschiedenheiten mit Ankara in einzelnen Fragen.

Die drei Optionen

Die USA unterstützen nachdrücklich Ankaras Streben nach EU-Mitgliedschaft und seine Forderung nach Eröffnung von Beitrittsverhandlungen. Die finanziellen Kosten einer türkischen Mitgliedschaft und deren Auswirkung auf die EU-Institutionen werden dabei – zu Recht oder zu Unrecht – als sekundär angesehen.

Das Eintreten der USA für eine türkische Mitgliedschaft ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Ankara begrüßt es, aber in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten stößt es als ungebührliche Einmischung in innere Angelegenheiten der EU oft auf Ablehnung. Deshalb ist der amerikanische Druck in manchen Fällen vielleicht kontraproduktiv. Er könnte die Chancen der Türkei sogar verringern. Das heißt nicht, die Vereinigten Staaten sollten aufhören, für eine Mitgliedschaft der Türkei einzutreten. Sie sollen vielmehr Takt und Fingerspitzengefühl dabei zeigen. Zugleich wird die Reaktion der EU nicht nur auf die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU Auswirkungen haben, sondern auch auf die Beziehungen zwischen den USA und der EU. Dabei sind drei Szenarien mit sehr verschiedenen Konsequenzen möglich:

1. Bedingungsloses Ja: In diesem Szenario würde die EU sich bereit erklären, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen ohne jede Einschränkung zu eröffnen. Eine derartige Entscheidung würde von den USA begrüßt und von Washington als Bestätigung dafür angesehen werden, dass die EU die größeren strategischen Interessen versteht, die eine festere Verankerung der Türkei im Westen verlangen. Die Gefahr, dass die Türkei zu einem Spannungsherd für die amerikanisch-europäischen Beziehungen werden würde, wäre damit wesentlich gebannt.

2. Ja, aber: In diesem Szenario würde die EU im Prinzip der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Ankara zustimmen, würde aber den Prozess verzögern mit dem Argument, dass bestimmte Bedingungen noch erfüllt werden müssten. Eine solche Entscheidung würde in Washington gemischte Gefühle hervorrufen. Die Vereinigten Staaten würden die Entscheidung, Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, zwar begrüßen, aber über das Unvermögen der EU enttäuscht sein, rechtzeitig „das einzig Richtige“ zu tun. Unter den Neokonservativen wäre die Kritik besonders laut, weil man in der Ansicht bestätigt würde, dass Europa wieder einmal darin versagt habe, eine strategische Vision zu entwickeln. Die USA würden auf die EU Druck ausüben, Beitrittsverhandlungen so rasch wie möglich zu eröffnen, während die EU zunehmend ablehnend gegenüber amerikanischem Druck werden würde.

3. Offene Ablehnung: In diesem Szenario würde die EU die türkische Forderung offen ablehnen und Ankara stattdessen eine breit angelegte „Sonderbeziehung“ anbieten, die allerdings nicht den Mitgliedstatus erreichen würde. Eine derartige Handlungsweise würde von vielen in Washington als ein Schlag in das Gesicht der Türkei angesehen werden und als Beweis dafür, dass der EU jede strategische Vision abgehe. Sie würde lautstarke Kritik hervorrufen und würde die bereits bestehenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa noch verschärfen.

In der Türkei könnte dieses Vorgehen weit verbreiteten Groll hervorrufen und ein Überdenken mancher Aspekte der türkischen Politik auslösen. Zwar würde die Türkei Europa nicht wirklich die kalte Schulter zeigen, doch würde sich Ankara wahrscheinlich um engere Bindungen zu Washington und Israel bemühen. Islamisten würden versuchen, die Verbindungen zur muslimischen Welt zu intensivieren. Die Position Erdogans würde geschwächt. Nationalisten und Islamisten würden behaupten, dass der Beschluss der EU ein Beweis dafür sei, dass es ein strategischer Fehler und eine Illusion gewesen sei, sich auf Europa zu verlassen. Der Schwung der inneren Reformen würde verlangsamt, wenn auch wahrscheinlich nicht ganz angehalten. Die Türkei würde wahrscheinlich durch eine Zeit innerer Unruhe gehen, während sie versuchen würde, ihre innen- und außenpolitischen Prioritäten neu zu ordnen.

Gegenwärtig ist nicht vorherzusagen, für welche dieser drei Möglichkeiten sich die EU entscheidet. Europa scheint bei der Frage der türkischen Mitgliedschaft gespalten zu sein. Zwar haben eine Reihe entscheidend wichtiger Regierungen wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland ihre Unterstützung erklärt, doch die öffentliche Meinung in großen Teilen Europas ist gegen eine Mitgliedschaft der Türkei. Daher wird es vielleicht starken Druck dahingehend geben, eine Entscheidung aufzuschieben. Das würde Zeit schinden, aber es würde auch bedeuten, dass die Frage der Türkei ein Zankapfel in den europäisch-amerikanischen Beziehungen bliebe.

Doch selbst wenn der Türkei ein Datum für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen angeboten wird, wird es viele Jahre dauern – vielleicht ein Jahrzehnt oder sogar noch länger –, bevor die Türkei bereit sein wird, der EU beizutreten. Diese lange Übergangszeit würde der EU Zeit geben, viele der institutionellen Anpassungen durchzuführen, die notwendig sind, um eine türkische Mitgliedschaft zu verkraften. Während dieser Übergangszeit würde der Prozess der „Europäisierung“ der türkischen Institutionen und Kultur weiter gehen und sich sogar noch verstärken, was einige der vorhandenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Unterschiede zwischen der Türkei und dem Rest der EU verringern würde. Andererseits könnte die Verweigerung eines Beitrittsdatums dazu führen, dass die Türkei nationalistischer und unsicherer wird und sich ihrer politischen Orientierung weniger gewiss und als Partner weniger verlässlich sein wird – nicht nur für Europa, sondern auch für die Vereinigten Staaten. Sie könnte dann eher geneigt sein, unilateral zu handeln, besonders in der Nähe ihrer Grenzen wie in Irak. Europa muss sich fragen, ob eine derartige Entwicklung wirklich in seinem Interesse liegt.

Zugleich müssen die USA anerkennen, dass die türkische Mitgliedschaft in der EU den Charakter der amerikanisch-türkischen Beziehungen verändern wird. Eine in die EU integrierte Türkei wird „europäischer“ sein – und wird ihre Politik enger mit Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten abstimmen müssen als in der Vergangenheit. Dies wird das Wesen der amerikanisch-türkischen Beziehungen verändern, besonders der Militärbeziehungen. Die USA sind auf diesem Gebiet der größte Lieferant von Waren und Dienstleistungen an die Türkei. Die meisten türkischen Offiziere sind in den USA ausgebildet worden. Wenn die Türkei einmal in der EU ist, wird sie zunehmend unter Druck geraten, europäische Güter zu kaufen – genau so, wie es vielen der neuen mittelosteuropäischen Mitglieder der EU ergangen ist. Deshalb wird die Türkei wahrscheinlich ganz allmählich ihre Verteidigungsbeziehungen zu anderen europäischen Lieferanten ausweiten.

Die amerikanisch-türkischen Beziehungen werden sich künftig wahrscheinlich größer werdenden Herausforderungen gegenüber sehen. Das wird Anpassungen auf Seiten der amerikanischen Politik erforderlich machen. Künftig wird die Türkei auf vielen Gebieten einen unabhängigeren Weg verfolgen und eigenwilliger agieren, besonders im Nahen und Mittleren Osten. Die amerikanische Invasion Iraks hat das politische Spiel im Mittleren Osten neu gemischt. Die türkischen Sicherheitsinteressen sind nun direkt betroffen. Das gilt besonders für die Möglichkeit der USA, türkische Militäreinrichtungen zu nutzen.

Veränderungen

Die Modernisierung der türkischen Gesellschaft wird ebenfalls bedeutende Herausforderungen aufwerfen. Der Demokratisierungsprozess der letzten Jahrzehnte hat in der Türkei neuen Gruppen, darunter auch islamischen, Gelegenheiten eröffnet, die politische Arena zu betreten. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten der traditionellen kemalistischen Elite beschnitten, die türkische Außenpolitik zu bestimmen. Heute findet in der Türkei eine viel offenere und vielfältigere politische Auseinandersetzung statt, als es vor 20 oder 30 Jahren der Fall war.

Dazu steht die Türkei vor einem wichtigen Generationenwechsel der politischen Führungskräfte. Die ältere Generation, die die türkische Politik während fast des ganzen Kalten Krieges lenkte – wie etwa Süleyman Demirel oder Bülent Ecevit – verschwindet von der politischen Szene. Daher müssen sich amerikanische Politiker um eine neue Generation türkischer Politiker bemühen, deren Weltanschauungen – und deren Ansichten über die USA – recht verschieden sind von denen ihrer Vorgänger.

Zu guter Letzt verändert sich auch die Rolle des türkischen Militärs. Über die vergangenen siebzig Jahre hinweg hat das Militär als „Wächter der türkischen Demokratie“ agiert, wobei es hinter der Szene energisch eine politische Rolle spielte und intervenierte, wenn seiner Meinung nach Demokratie und Säkularismus bedroht waren. Doch die demokratischen Reformen des vergangenen Jahrzehnts, besonders diejenigen der Erdogan-Regierung, haben die Macht der Militärs verringert. Diese Macht wird wahrscheinlich immer schwächer, solange der Demokratisierungsprozess weiter geht. Daher werden sich die USA nicht mehr vorwiegend auf ihre Verbindungen zum türkischen Militär verlassen können. Sie müssen vielmehr ihre Kommunikationskanäle zu anderen Teilen des türkischen politischen Spektrums verstärken.

Diese Veränderungen werden Washington vor neue Herausforderungen stellen und Anpassungen in der amerikanischen Politik erzwingen, unabhängig davon, ob die Türkei ein EU-Mitglied wird oder nicht. Im Interesse guter transatlantischer Beziehungen sowie im strategischen Interessen der Vereinigten Staaten wie auch Europas im Nahen Osten wäre allerdings die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen die beste Lösung.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11-12, November/Dezember 2004, S. 125‑133

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