Die Türkei und der Islam
Hürde auf dem Weg nach Europa?
Zweifelsohne ist die Türkei, spätestens seit der Revolution ihres Gründers Kemal Atatürk, ein säkularer Staat. Es gibt in ihr gleichwohl Strömungen und Bewegungen, die dem politischen Islam zugerechnet werden müssen und die einer engeren Bindung des Landes an die Europäische Union ablehnend gegenüber stehen. Der Verfasser untersucht, welche Bedeutung der Islam für die Türkei auf ihrem Weg in die EU hat.
Bekanntermaßen werden Identität, Selbsteinschätzung und Fähigkeiten definiert oder gestärkt, wenn man auf große Herausforderungen reagieren muss. So ist es auch im Falle Europas, einem funktionalistischen Entwurf par excellence, der mit einer scheinbar minimalistischen Agenda ins Leben gerufen wurde (Kohle und Stahl, Atomenergie, Freihandel) – im festen Glauben, dass dieser Entwurf sich Schritt für Schritt zu etwas völlig Anderem und sehr viel Bedeutenderem entwickeln würde.
Mit Sicherheit erwarteten die Gründungsväter der Gemeinschaft nicht, dass sich die Dinge so entwickeln würden, wie sie es taten, und möglicherweise wären sie nicht nur ein klein wenig zufrieden mit dem bislang erzielten Ergebnis. Und doch ist es so: Europa wurde nicht als gereiftes Staatswesen geboren, in eine Rüstung gekleidet wie Athene, die dem Kopf des Göttervaters Zeus entsprang. Europa hat sich ganz allmählich und unter strengen Einschränkungen entwickelt zu einem Konstrukt eigener Art, das sich in vielerlei Hinsicht einer Definition entzieht.
Die Erweiterung, oder wer eine andere Wortwahl vorzieht: die Definition der äußeren Grenzen der Gemeinschaft – der heutigen Grenzen und, mehr noch, jener, die am Ende dieses Prozesses stehen werden und die wir selbst heute noch nicht in unsere Überlegungen über eine mögliche Ausdehnung Europas einbeziehen – ist eine der größten Herausforderungen, denen sich Europa hat stellen müssen. Die Erweiterung bzw. die aufeinander folgenden Runden von Erweiterungen hatten einen immensen Einfluss auf die Ausgestaltung der europäischen Institutionen und Politik und werden in den kommenden Jahren einen noch viel größeren Einfluss ausüben.
Tatsächlich können wir gerade die Anfänge des Europäischen Konvents miterleben, der den Versuch unternehmen wird, zum ersten Mal eine europäische Verfassung auszuarbeiten. In diesem Zusammenhang werden ganz zweifellos einige der Schlüsselfragen bezüglich der europäischen Identität in den Vordergrund rücken. Um eine Umschreibung zu gebrauchen, die in der Vergangenheit auf Italien angewendet wurde: Europa mag ein geographischer Begriff sein, seine kulturelle und politische Identität zu definieren, ist aber eine sehr viel komplexere Aufgabe. Eine ganz besonders wichtige Debatte wird sich an der Frage entzünden, ob die Definition der europäischen Identität eine religiöse Dimension enthalten sollte: Ist Europa christlich?
Christliches Europa?
Die meisten europäischen Staaten definieren sich in ihren Verfassungen nicht über religiöse Überzeugungen, auch wenn sie anerkennen mögen, dass die Mehrheit ihrer Bevölkerung einer bestimmten Glaubensrichtung anhängt. Die wenigsten Europäer sind dafür bekannt, ihre religiösen Überzeugungen (so sie denn welche haben) mit Hingabe zur Schau zu tragen. Die abnehmende Bedeutung der Ideologie in unserer Wahlkampfpolitik hat zum Verschwinden einiger Parteien geführt, die das Wort „christlich“ in ihrem Namen trugen; auf europäischer Ebene haben sich diese Parteien unter dem allgemeinen Etikett „Volkspartei“ zusammengefunden.
Europa hat schon immer bedeutende Minderheiten umfasst, die nicht christlich waren – zuvörderst die Juden –; Angehörige dieser Minderheiten haben einen unverzichtbaren Beitrag zur europäischen Kultur geleistet. In jüngerer Zeit hat sich die religiöse Landschaft dank der Betonung der Toleranz und der Achtung der Menschenrechte, die wir als Grundpfeiler der europäischen politischen Kultur erachten und international bei jeder Gelegenheit propagieren, erheblich verändert. Faktisch ist der Islam inzwischen ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Kulturlandschaft geworden: aufgrund von Einwanderung, aufgrund einer gewissen Zahl von Glaubenswechseln und weil es europäische Staaten gibt, zum Beispiel Bulgarien, in denen der Islam die Religion einer signifikanten Minderheit darstellt. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass in den derzeit 15 Staaten der Europäischen Union (EU) rund 12 Millionen Menschen muslimischen Glaubens sind, eine Zahl, die die nichtregistrierte Einwanderung unberücksichtigt lässt – die tatsächliche Zahl der Muslime wird sicher beträchtlich höher liegen. So gesehen ist der Islam die zweit- oder drittstärkste Religion in der EU, je nachdem, ob wir das Christentum als Gesamtheit oder den Katholizismus getrennt davon betrachten. Die meisten Regierungen der EU-Mitgliedstaaten erkennen in der einen oder anderen Form das Vorhandensein bedeutender muslimischer Komponenten an und haben in den vergangenen Monaten immer wieder hervorgehoben, dass sie das Konzept eines „Zusammenpralls der Kulturen“ ablehnen.
Die EU verfügt nicht nur über ein einziges Modell der Beziehungen zwischen Staaten und Religionen. Das Subsidiaritätsprinzip hat bislang vielmehr eine Vielzahl von Modellen in einzelnen Mitgliedstaaten hervorgebracht; Gleiches gilt für einige sehr wichtige Aspekte der Beziehungen zwischen den Staaten und ihren Bürgern. Die unterschiedlichen Lösungsmodelle haben in allen Fällen weit in die Geschichte zurückreichende Wurzeln und werden sich so leicht wohl nicht ändern lassen. Von Zeit zu Zeit entstehen in dem einen oder anderen Mitgliedstaat Spannungen, die ausnahmslos zu einer hitzigen Debatte führen. In einigen Fällen sahen einzelne Bürger ihr Recht auf Religionsfreiheit missachtet und brachten ihren Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dies betraf beispielsweise die Türkei wegen der Einschränkungen, mit denen der türkische Staat die öffentliche Ausübung des islamischen Glaubens belegt, etwa die Kleiderordnung. Theoretisch besteht deshalb die Möglichkeit, dass irgendwann in der Zukunft die Frage auftaucht, ein europäisches Modell der Beziehungen zwischen Staat und Religion zu definieren. Es ist dies zwar eine weit entfernt scheinende Möglichkeit, doch könnte sie eine gefährliche Polarisierung innerhalb der Gemeinschaft und einzelner Mitgliedstaaten bewirken.
Es ist nur vernünftig, davon auszugehen, dass es sich als unmöglich erweisen wird, einen breiten Konsens darüber zu erzielen, Europa ausdrücklich als christlich zu definieren – obwohl es jeder historischen und zeitgenössischen Realität widerspräche, zu verneinen, dass das Christentum – seine Lehren, seine unterschiedlichen Ausrichtungen, seine internen ebenso wie seine äußeren Kriege – in der Vergangenheit eine fundamentale Rolle bei der Gestaltung Europas gespielt haben und dies heute immer noch tun. Wie die hieraus ableitbaren Folgen aussehen oder aussehen sollten, wird jedoch immer eine Frage von Diskussionen und wohl auch Meinungsunterschieden bleiben, von denen einige zweifellos bei künftigen Erweiterungsrunden Widerstände gegen einen Beitritt solcher Länder hervorrufen werden, deren wichtigste Religion der Islam ist.
Zweifelsohne ist die Türkei ein säkularer Staat. Sie ist dies ausdrücklich seit der Revolution ihres Gründers Kemal Atatürk – der Säkularismus war einer der wichtigsten Grundsätze der kemalistischen Ideologie, die die politische Kultur des Landes beherrscht (und den die Armee entgegen den bekannten Zweifeln seitens der restlichen Europäer immer dann kraftvoll verteidigt, wenn er in Frage gestellt wird).
Islamische Türkei?
Ein säkularer Staat war sie aber auch in den Jahrhunderten zuvor, denn das osmanische Kalifat war nicht anderes als eine Herrschaft, bei der sich die Religion dem Staat klar unterordnete, eine Säkularisierung der Religion, wie sie hätte auftreten können, wäre Heinrich VIII. König von Rom gewesen. So wie niemand auch nur im Traum die säkulare Natur des Vereinigten Königreichs in Frage stellen würde, weil die Königin gleichzeitig Oberhaupt der Kirche von England ist, war das Osmanische Reich eine Form der Säkularisierung des Islam – und in der Tat nicht die erste in der Geschichte.
Doch haben weder das osmanische noch das kemalistische Modell die problematische Verknüpfung zwischen dem Islam und der Politik auflösen können. Der Islam, so wie wir ihn kennen, lässt eine Unterscheidung zwischen Religion und Staat nicht gelten, er akzeptiert eine Regierung nur dann, wenn sie gerecht, d.h. islamisch ist. Dies ist natürlich nicht die Überzeugung aller Muslime; eine sehr große Zahl von ihnen lebt in Ländern, in denen politische Legitimität auf Gegebenheiten und Grundlagen beruht, die nichts mit Religion zu tun haben. Es wird immer offenkundiger, dass die Aussicht auf eine „islamische Herrschaft“ der Mehrheit der Menschen, die in Ländern leben, in denen der Islam die vorherrschende Religion ist, nicht attraktiv erscheint.
Es trifft aber auch zu, dass die gleiche Unterscheidung zwischen Religion und Politik in Europa nicht leicht akzeptiert wurde, sondern sich über Jahrhunderte hinzog und außerordentliches Blutvergießen mit sich brachte, bevor sie sich schließlich etablieren konnte. „Integrale“ Tendenzen werden auch im politischen Leben Europas immer wieder an die Oberfläche geschwemmt und sind ein Beleg dafür, wie schwierig es ist, persönliche Ethik von politischen Präferenzen zu trennen. Debatten über Abtreibung, Euthanasie, die Grenzen der Medizin und der Wissenschaft – sie werden auch in Europa immer wieder geführt und sind stark bestimmt von religiösen Überzeugungen.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf scheint der Prozess der Verinnerlichung der Trennung von Religion und Staat in muslimischen Staaten im Allgemeinen weniger fortgeschritten zu sein als in Europa. Warum dies so ist, ist offen für zahlreiche Interpretationen. Einige verweisen auf die allgemeine politische Unterentwicklung der meisten dieser Länder, in denen politische Debatten seit vielen Jahrzehnten stark eingeschränkt sind und wohl auch bleiben – den Moscheen wird das Monopol eines oppositionellen politischen Diskurses überlassen. Andere halten daran fest, dass der Islam sich derart von anderen Religionen unterscheide, dass eine Trennung von Religion und Staat nicht akzeptiert werden könne. Die Frage nach dem Warum bleibt offen, und sie ist Anlass zu ernster Sorge. Der politische Islam ist ein gefährliches Phänomen, weil er zu einem fanatischen Verhalten führen kann, das, wie wir alle wissen, zuweilen gekennzeichnet ist durch eine Missachtung des menschlichen Lebens.
Europa können die Entwicklungen in der islamischen Welt nicht gleichgültig sein. Im Gegenteil: Es liegt im ureigensten europäischen Interesse, jene Länder zu unterstützen, die für das Prinzip des Säkularismus eintreten – obwohl gleichzeitig die Mehrheit ihrer Bevölkerung muslimisch ist. Die Türkei findet sich in dieser Kategorie nicht allein, sie ist jedoch mit Sicherheit eines der wichtigsten und sichtbarsten Beispiele. In der Türkei gibt es Strömungen und Bewegungen, die wir als dem politischen Islam zugehörig betrachten, und diese Kräfte sind sicher nicht dafür, dass sich das Land Europa immer stärker annähert und schließlich Mitglied der Europäischen Union wird. Meiner Meinung nach dürfen diese Kräfte nicht unterschätzt werden. Zugleich müssen sie unbedingt überwunden werden – wobei die europäische Perspektive ein entscheidendes Mittel dafür ist.
Fragiler Säkularismus
Mit Sicherheit haben auch jene Menschen in der Türkei, die Europa als Hoffnung für die Zukunft ihres Landes betrachten und geduldig daran arbeiten, schließlich Mitglied der Union zu werden, dieses Ziel im Hinterkopf: Bedingungen zu schaffen, die die Trennung zwischen Religion und Staat festigen.
Die säkulare Natur des türkischen Staates bleibt fragil und möglicherweise umkehrbar, ebenso wie seine demokratischen Institutionen oder die Politik der makrökonomischen Stabilisierung und des zunehmenden Vertrauens in die Kräfte des Marktes bei der Verteilung der Ressourcen. Darin unterscheidet sich die Türkei in nichts von den anderen Kandidatenländern: Sie alle möchten der Union beitreten, einige zu kurzfristig beträchtlichen politischen Kosten, weil sie in der EU den Anker sehen, der ihre noch nicht gefestigten Demokratien und den schwierigen wirtschaftlichen Übergang stärkt. Wäre dies nicht der Fall, würde die Erweiterung viel von ihrer Triebkraft und Dringlichkeit verlieren.
Die proeuropäischen Kräfte in der Türkei wissen sehr wohl, dass ihr Land, würde es vom Rest Europas allein gelassen, Gefahr liefe, seine demokratischen und säkularen Institutionen und seine Wirtschaftspolitik auf den Prüfstand stellen zu müssen. Die EU stößt sich (berechtigterweise) an der Vormundschaft des türkischen Militärs über die staatlichen Institutionen, und doch ist diese Vormundschaft die – unzureichende und kurzfristige – Antwort auf eine ihnen zugrunde liegende Zerbrechlichkeit, die nur dann behoben wird, wenn die Türkei näher an das restliche Europa herangeführt wird. Die vom Islam inspirierten politischen Kräfte in der Türkei stehen engeren Bindungen an die EU ablehnend gegenüber und haben in der Vergangenheit – mit mäßigem Erfolg – versucht, eine Alternative von Bindungen an die arabischen Staaten, Iran und Zentralasien aufzubauen. Diese Strategie mag vielleicht keine besonders attraktive Alternative zur EU sein – als Ergänzung erscheint sie in derTat sehr viel verlockender denn als Alternative –, und doch bleibt sie ein wichtiges Thema in der politischen Diskussion in der Türkei. Die europäische Orientierung ist kein von vornherein feststehendes Endergebnis der türkischen Politik; sie ist eine starke, aber anfällige Strömung, die sowohl der Türkei als auch der EU Anstrengungen und Engagement abverlangt.
Eine Reihe von Problemen muss angegangen und gelöst werden, und der Islam ist eines von ihnen – nicht so sehr auf der Ebene der diplomatischen Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel, denn dort kann sich dieses Themas dank der säkularen Referenzen beider Seiten leicht angenommen werden. In der öffentlichen Meinung jedoch und damit auch in den Debatten der gewählten Volksvertreter wird der Islam noch lange Zeit ein Thema sein. Auch dies ist weder befremdlich noch einzigartig. Vorurteile und Bedenken, die sich aus religiösen, sprachlichen oder geographischen Quellen speisen, sind unter den Europäern reichlich vorhanden. Es ist ein großer Erfolg, dass ein solches gegenseitiges Misstrauen in den meisten Fällen nicht mehr zu Blutvergießen führt, obwohl dies gelegentlich noch immer geschieht – auf tragische Art und Weise auch in jüngster Zeit.
Internationale Politik 3, März 2002, S. 27 - 31.