Die Sicherheitspolitik der EU im Werden
Noch vor einem Jahr sah es so aus, als stünden die Staaten der Europäischen Union vor einem Scherbenhaufen; der Irak-Krieg hatte EU und NATO tief gespalten; die Vereinten Nationen schienen völlig marginalisiert. Ein Jahr später bietet sich ein ganz anderes Bild: Die großen Drei der EU – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – arbeiten enger zusammen als jemals zuvor, die NATO erscheint lebendiger denn je, und die UN haben an Gewicht gewonnen. Hans-Georg Ehrhart sieht beträchtliche Erfolge bei der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Vor gut einem Jahr standen die EU-Staaten vor einem Scherbenhaufen. Der Irak-Krieg hatte EU und NATO tief gespalten, die Vereinten Nationen schienen völlig marginalisiert. Nicht wenige Kommentatoren und Experten beklagten bereits das Ende der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP).1 Andere sahen die Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit gekommen und Europa auf dem Weg der Emanzipation von einem neokonservativ geprägten Amerika, das dabei ist, den Pfad des internationalen Rechts und gemeinsamer Werte zu verlassen.2
Ein Jahr später kann der verdutzte Beobachter nicht umhin, sich erstaunt die Augen zu reiben. Die großen Drei in der EU – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – arbeiten enger zusammen als zuvor, die NATO ist lebendiger denn je und die UN hat an Gewicht gewonnen. Die GASP/ESVP schreitet voran, wie die Verabschiedung einer europäischen Sicherheitsstrategie, die Formulierung einer gemeinsamen Nichtverbreitungspolitik, der autonome Militäreinsatz in Kongo, die noch in diesem Jahr vorgesehene Gründung einer europäischen Rüstungsagentur, die absehbare Übernahme der SFOR-Mission durch die Europäische Union und die Gründung einer operativen zivil-militärischen Planungszelle im Militärstab der EU zeigen.
Das heißt natürlich nicht, dass wir in der besten aller Welten leben, denn die anstehenden internationalen Herausforderungen sind immens und das Risiko neuer Rückschläge groß. Dennoch: Die EU ist aus vergangenen Rückschlägen letztlich immer gestärkt hervorgegangen. So führten die Lehren aus dem Bosnien-Konflikt z.B. zur Installierung des Amtes des Hohen Repräsentanten für die GASP und zur Überführung der WEU-Funktionen und der Petersberg-Aufgaben in die EU. Der Kosovo-Konflikt war die Initialzündung für den Aufbau neuer sicherheitspolitischer Institutionen innerhalb der EU sowie für die Ausarbeitung und Umsetzung militärischer und ziviler Fähigkeitsziele. Der Irak-Konflikt hat die Sensibilität in den europäischen Hauptstädten dafür erhöht, das sicherheitspolitische Profil der EU zu schärfen und ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.
Was für ein Akteur ist die EU?
Von der Entwicklung einer Sicherheitspolitik der EU zu sprechen ist allerdings nicht unproblematisch. So könnte gefragt werden, wer dieser sicherheitspolitische Akteur EU eigentlich ist. Die übliche Antwort darauf lautet, dass es sich um einen Akteur sui generis handelt. Die EU ist weder ein Staat noch eine internationale Organisation, weniger als eine Föderation, aber mehr als eine Konföderation. Sie ist als erste wirklich postmoderne Einheit in den internationalen Beziehungen bezeichnet worden oder als komplexes Mehrebenen-System. Alle diese Beschreibungsversuche weisen darauf hin, dass die EU kein einheitlicher, sondern ein „zusammengesetzter“ und deshalb schwerfälligerer Akteur ist.
Das trifft insbesondere auf den Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu, in dem die Mitgliedstaaten eifersüchtig ihre Prärogative hüten und nur zu oft ihre nationalen Egoismen pflegen, obwohl sie wissen müssten, dass ihr sicherheitspolitisches Gewicht im Verbund ungleich größer wäre. Daran anknüpfend lautet ein Einwand, vergangene Fehlschläge wie das Desaster im Vorfeld des Irak-Kriegs oder das vorläufige Scheitern des europäischen Verfassungsentwurfs belegten die bremsende, wenn nicht destruktive Rolle nationaler Egoismen und zeigten, dass sich die EU letztlich nicht zu einem veritablen sicherheitspolitischen Akteur entwickeln könne.
Zweifellos hat die GASP/ESVP durch die widerstreitenden europäischen Positionen wegen des Irak-Kriegs vorübergehend Schaden genommen. Allerdings sollte ein langfristig angelegtes politisches Projekt nicht aufgrund von Momentaufnahmen beurteilt werden. Auch wenn die Auflösung des Widerspruchs zwischen sicherheitspolitischer Integrationsnotwendigkeit und der Beharrungskraft nationaler Souveränitätsträume noch dauern dürfte, so erscheint die sicherheitspolitische Entwicklung der EU in einem insgesamt positiven Licht, wenn sie mit der Lage vor Einführung der GASP/ESVP verglichen wird. Die EU-Mitglieder haben in dieser Zeit Erfahrungen gesammelt, die ausgewertet und zur Grundlage der weiteren Entwicklung gemacht werden. Verschiedene Realitäten wirken in diesem Prozess als Triebkräfte.
Die erste Realität ergibt sich aus den veränderten Risiken und Bedrohungen für Europa im 21. Jahrhundert. Auf absehbare Zeit droht keine militärische Aggression wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts. Die heutigen Kernrisiken entstehen – abgesehen von globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Pandemien und Armut – vor allem aus Prozessen des Staatszerfalls, aus terroristischen Aktivitäten und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Aus diesen Risiken ergeben sich Konsequenzen für die künftige Sicherheitspolitik: a) die Staaten der EU sind mehr denn je auf internationale Zusammenarbeit abgewiesen, wenn sie ihre Sicherheit gewährleisten wollen; b) militärische Mittel spielen bei der langfristigen Auseinandersetzung mit diesen Risiken eine untergeordnete Rolle; c) es wird immer wichtiger, die verschiedenen Instrumente zur Konfliktbearbeitung Ressort übergreifend zu vernetzen, und zwar auf nationaler wie auf europäischer Ebene.
Die zweite Realität ist, dass sich die EU künftig zunehmend selbst um die Sicherheitsbelange des Kontinents und seiner Ränder kümmern muss. Die Option, sich herauszuhalten, existiert angesichts der geographischen Gegebenheiten und der zunehmenden Interdependenzen nicht. Die EU muss folglich ihre Kohäsion so stärken, dass sie in der Lage ist, das öffentliche Gut Sicherheit zu garantieren. Dabei ist sie mit einer einfachen Gleichung konfrontiert: Entweder es gelingt ihr, Stabilität jenseits ihrer Grenzen zu exportieren, oder sie wird gezwungen sein, Instabilität zu importieren.
Die dritte Realität ist, dass die europäischen Verteidigungshaushalte im Verlauf des letzten Jahrzehnts gesunken sind und auf absehbare Zeit auch nicht signifikant steigen werden. Das eigentliche Problem liegt allerdings nicht in der Höhe der Ausgaben, sondern in der Art und Weise, wie Gelder ausgegeben werden. Zum einen wird noch immer mehr in traditionelle militärische Sicherheitsvorsorge investiert als in zivile und vorbeugende Maßnahmen. Zum anderen fließt auch innerhalb der Verteidigungsbudgets zu viel Geld in den Erhalt überdimensionierter und dabei letztlich unbrauchbarer Strukturen. Zu allem Überfluss leisten sich die europäischen Staaten auch noch den Luxus rein nationaler Verteidigungsapparate, anstatt ihre knappen Ressourcen zu bündeln und Kapazitäten zu poolen.
Die vierte Realität ist, dass die EU auch auf globaler Ebene verstärkt als sicherheitspolitischer Akteur gefragt wird, wobei sie unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden muss. Sie reichen im militärischen Bereich von deeskalierenden Maßnahmen über stabilisierende Fähigkeiten bis hin zu Einsätzen mit hoher Intensität. Drei Szenarien sind denkbar: a) die EU agiert autonom und auf der Grundlage eines Mandats des UN-Sicherheitsrats in kleineren Einsätzen zu humanitären Zwecken; b) die EU handelt im Rahmen von größeren, längerfristig ausgerichteten Friedens- missionen entweder autonom oder gleichberechtigt mit anderen Partnern; c) europäische Streitkräfte beteiligen sich als Juniorpartner an kurzen, hochintensiven Kampfoperationen der USA. Gegenwärtig verfügt die EU nicht über die erforderlichen Fähigkeiten und Mittel, um allen daraus resultierenden Anforderungen entsprechen zu können.3 Die von Frankreich, Großbritannien und Deutschland ergriffene Initiative des „Battlegroup Concepts“ wird dazu beitragen, diese Defizit zu reduzieren.4
Hinsichtlich der Planungsfähigkeiten eröffnet der im Dezember 2003 zwischen den „Großen Drei“ gefundene Kompromiss mehrere Möglichkeiten: 1. Die Operation findet im Rahmen der Berlin-Plus-Vereinbarungen unter Rückgriff auf Ressourcen der NATO statt. Die Übernahme der Bosnien-Mission wird der erste große Test dieser Option sein. 2. Die Operation wird von der EU autonom unter Rückgriff auf nationale Hauptquartiere geführt, wie erstmalig bei der kleinen Operation „Artemis“ im Kongo geschehen. Die Option einer größeren Stabilisierungsoperation ist gegenwärtig allerdings weder absehbar noch machbar, sollte aber als nächster Schritt vorbereitet werden. 3. Die Operation wird durch den Militärstab der EU autonom geführt, wenn zivil-militärische Aspekte eine größere Rolle spielen. Eine entsprechende zivil-militärische Planungszelle wird gegenwärtig aufgebaut.
Beziehungen in der Krise?
Ein traditionelles Argument gegen die ESVP verweist auf die Gefahren für die NATO und die Bindung der USA an Europa. Solche Befürchtungen sind unbegründet; die transatlantischen Bindungen werden, wie jüngste Meinungsumfragen belegen, eher durch amerikanischen Manichäismus und Unilateralismus untergraben.5 Ein sicherheitspolitisch handlungsfähiges Europa würde die USA vielmehr entlasten und das Bündnis insgesamt stärken. Natürlich geht es auch um mehr europäischen Einfluss. Allerdings setzt dies „Bündnisfähigkeit“ voraus, d.h. die Europäer müssen in der Lage sein, mit den USA zu operieren. Das wiederum erfordert angesichts des Ressourcenmangels eine engere europäische Zusammenarbeit, die zu einer weiteren Verschränkung von Interesse und Macht innerhalb der EU führen würde. Ein Mehr an europäischer Kooperation brächte die EU deshalb militärisch noch lange nicht auf Augenhöhe mit den USA, was im Übrigen weder möglich noch erforderlich ist. Allerdings erzeugt Zusammenarbeit auch stets ihre eigene Dynamik und bringt die sicherheitspolitischen Identität Europas weiter voran.
Die transatlantischen Beziehungen sind eines der tragenden Elemente des internationalen Systems. Die sich abzeichnende Globalisierung der NATO könnte diese Funktion verstärken, wenn sich die Ziele und Interessen von NATO und EU ergänzen. Beide Organisationen haben nach langem Ringen 2003 eine Vereinbarung getroffen, in der die transatlantische Zusammenarbeit bei der militärischen Krisenbearbeitung institutionalisiert und der Zugriff der EU auf Fähigkeiten und Mittel der NATO geregelt worden sind. Die Übernahme der NATO-Friedensmission in Mazedonien durch die EU im April 2003 war der erste kleinere Testfall für diese Zusammenarbeit. Es bleibt abzuwarten, wie die Übernahme der SFOR in Bosnien in diesem Jahr verläuft. Auch wenn die bislang gemachten Erfahrungen positiv sind, bleibt es ungewiss, wie die Kooperation zwischen NATO und EU in der Praxis funktioniert, wenn in Washington und Brüssel oder innerhalb der EU unterschiedliche Prioritäten gesetzt werden.
Dieser Befund gilt auch für die neue NATO. Welche Rolle kann eine auf 26 Länder erweiterte und nach dem Konsensprinzip agierende NATO überhaupt spielen? Die zugespitzte Alternative lautet: „OSZE-isierung“ und schwerfällige Beschlussfassung oder Flexibilisierung und Reduktion auf die Funktion eines Werkzeugkastens für die amerikanische Weltpolitik. Die Regierung von Präsident George W. Bush befürwortet den letztgenannten Weg, weil er ihren Handlungsspielraum erhöht. Damit einher gehen die Verlagerung der Militärpräsenz nach Osteuropa und in außereuropäische Regionen, die Renationalisierung der NATO und die Differenzierung der Verbündeten nach deren Nutzen für die strategischen Ziele der USA. Da für die EU weder die eine noch die andere Option akzeptabel ist, muss sie ihr sicherheitspolitisches Gewicht stärken.
Die erweiterte EU steht vor der Aufgabe, angesichts latenter interner Spannungen in der Frage der Gestaltung des transatlantischen Verhältnisses eine außen- und sicherheitspolitische Identität zu entwickeln, die nur aus einer eigenständigen Rolle als internationaler Akteur hervorgehen kann. Eigenständigkeit bedeutet nicht, dass diese Identität notwendigerweise im Aufbau einer Gegenposition oder eines Gegengewichts zu den USA bestehen muss. Aber sie schließt die Möglichkeit ein, gegebenenfalls eine abweichende Haltung einzunehmen. Diese in anderen Politikbereichen durchaus nicht unüblichen Kontroversen – man denke nur an die vielen Handelskonflikte, die Umweltpolitik, die Völkerrechtspolitik oder die Menschenrechtspolitik – haben auch in der Sicherheitspolitik zugenommen, insbesondere im Bereich Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Der Irak-Krieg war bislang der Höhepunkt einer divergierenden Entwicklung, die jetzt in positive Bahnen gelenkt werden müsste.6 Die Übernahme des Kommandos der ISAF in Afghanistan durch die NATO und im Spätsommer 2004 vielleicht durch das Eurokorps könnte ebenso ein Schritt in diese Richtung sein wie die Ausdehnung des Aktionsraums durch regionale Wiederaufbauteams (PRT). Ein größeres Engagement der NATO in Irak ist nicht auszuschließen.
Die EU hat ein überragendes Interesse an der Stabilisierung der Region. Deshalb engagiert sie sich in Irak im humanitären Bereich und beteiligt sich am Wiederaufbau. Sie tut dies nicht als Anhängsel der USA, sondern als autonomer Akteur und in enger Zusammenarbeit mit den UN. Sie trägt damit zur Entlastung der für das Land Verantwortung tragenden Kriegskoalition bei, ohne den Irak-Krieg nachträglich zu legitimieren. Die USA sind zwar für die Stabilisierung der Region unverzichtbar, aber auch auf Unterstützung durch die EU und die UN angewiesen. Washington wird wiederum von den EU-Staaten als strategischer Partner bei der Bewältigung regionaler und globaler Sicherheitsprobleme angesehen.
Was läge also näher als ein konzertiertes Vorgehen, wie es beispielsweise auf dem Balkan praktiziert wird? Die im Vorfeld des G-8-Gipfels diskutierte transatlantische Initiative für den Nahen- und Mittleren Osten könnte ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein. Sie sollte die EU allerdings nicht davon abhalten, eine eigene Strategie für diese Region zu formulieren.7
Welche Politik?
Angesichts einer sich entwickelnden ESVP wird insbesondere im linken politischen Spektrum vor einer Militarisierung der EU gewarnt. In diesem Zusammenhang wird auf die Notwendigkeit präventiver ziviler Krisenbearbeitung verwiesen und darauf, dass mit militärischen Mitteln keine politischen Konflikte gelöst werden können. Beides ist zweifellos richtig. Nur ist ebenso richtig, dass Prävention fehlschlagen kann und militärische Mittel präventive Funktionen erfüllen können. Natürlich kann das Militär keinen politischen Konflikt lösen; vielmehr ist es bei Krisenoperationen primär dazu da, ein „secure environment“ herzustellen und so die sicherheitspolitische Mindestvoraussetzung für die Erarbeitung und Umsetzung einer politischen Konfliktregelung zu schaffen.
Es ist offensichtlich, dass darüber hinaus noch andere Instrumente zum Einsatz kommen müssen. Die heutigen Konflikte haben einen anderen Charakter als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts. Sie sind komplexer und diffuser, wirken eher indirekt und schleichend, haben aber letztlich doch einen zersetzenden Einfluss auf die internationale Ordnung. Die Antwort darauf muss differenziert ausfallen und ein neues Kooperationsverhältnis sowohl zwischen Militär, Polizei und zivilen Akteuren als auch zwischen den internationalen Organisationen begründen.
Angesichts dieser Lage ist grundsätzlich zu klären, von welcher Art Sicherheitspolitik eigentlich gesprochen wird. Auf der einen Seite besteht innerhalb der EU Übereinstimmung, von einem erweiterten Sicherheitsbegriff auszugehen. Auf der anderen Seite ist noch nicht ausbuchstabiert, was das konkret heißt. Im Prinzip verfügt die EU über einen breiten Fächer von diplomatischen, entwicklungs-, handels- und wirtschaftspolitischen sowie humanitären, polizeilichen und militärischen Instrumenten, die in eine ganzheitliche Sicherheitsstrategie eingebunden werden müssten.
Allerdings ist die EU noch weit davon entfernt, die funktionale Verknüpfung der verschiedenen Instrumente zu gewährleisten. Die Gründe dafür sind vielfältig; sie reichen von unklarer Kompetenzverteilung und mangelhafter Koordinierung der beteiligten Institutionen über unterschiedliche Entscheidungsprozesse und Finanzierungsansätze bis hin zu differierenden politischen Interventionskulturen der Europäischen Kommission, des Hohen Repräsentanten und der Mitgliedstaaten.8 Nur wenn es gelingt, diese Hürden zu überwinden, kann die Union als eigenständiger, über einen eindeutigen komparativen Vorteil verfügender und effizienter sicherheitspolitischer Akteur handeln.
Die im Dezember 2003 vom Europäischen Rat angenommene EU-Sicherheitsstrategie ist eine wichtige Etappe in diesem Prozess. Allerdings lässt sie noch manche Fragen offen: Welche Rolle wird der völkerrechtlichen Legitimation für einen Gewaltmitteleinsatz durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats beigemessen? Welchen Stellenwert sollen militärische Instrumente künftig in der Krisenbearbeitung spielten? Wie viel Autonomie von den USA kann und soll angestrebt werden? Ist es möglich, europäische Interessen zu formulieren, die auf einer gemeinsamen Vision von der Rolle Europas in der Welt beruhen?9
Die in der EU-Strategie enthaltene multilaterale Vision steht im Gegensatz zu den strategischen Vorstellungen der Regierung Bush, die auf unanfechtbarer militärischer Überlegenheit und uneingeschränkter nationaler Handlungsfreiheit beruhen. Auch die Feststellung, dass keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Art sei und sie mit militärischen Mitteln allein nicht bearbeitet werden könnten, sondern nur mit einem Instrumentenmix, lässt einen originären europäischen Ansatz der Konfliktbearbeitung erkennen. Darum ist zu begrüßen, dass der in der früheren Version enthaltene missverständliche Begriff des „präemptiven Engagements“ aus der im Dezember 2003 verabschiedeten Sicherheitsstrategie gestrichen worden ist.10 Angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist nicht präemptives militärisches Engagement gefordert, sondern präventive Sicherheitspolitik, die durch ein frühes, nachhaltiges und umfassendes Engagement gekennzeichnet ist.
Welche Perspektiven?
Trotz aller Unzulänglichkeiten ist die EU ein sicherheitspolitischer Akteur im Werden: Erstens hat sie das Ziel selbst definiert. So bestimmt Artikel 11 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), dass „die Union eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (erarbeitet und verwirklicht), die sich auf alle Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt“, und Artikel 17 EUV legt fest, dass dazu „auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik (...) gehört, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte“.11
Zweitens hat sich die EU mittlerweile im Rahmen der GASP/ESVP Institutionen, Verfahren und Instrumente zugelegt, die es ihr ermöglichen, als sicherheitspolitischer Akteur auf der internationalen Bühne zu agieren. Die innerhalb des Ratssekretariats geschaffenen politisch-militärischen Strukturen, die durch den Amsterdamer Vertrag eingeführte Institution des Hohen Vertreters für die GASP oder das vorgesehene Amt eines europäischen Außenministers zeugen ebenso davon wie etwa das Verfahren der „Gemeinsamen Strategie“ oder die neuen diplomatischen, polizeilichen und militärischen Instrumente.
Drittens hat sie in verschiedenen Fällen bewiesen, dass sie als sicherheitspolitischer Akteur handeln kann. Angefangen vom stabilitätspolitischen Engagement in und um Europa (z.B. Erweiterung, Nachbarschaftspolitik) über gezielte diplomatische Initiativen zur Krisenbearbeitung (z.B. Mazedonien, Iran) und internationale Polizeieinsätze (z.B. Bosnien-Herzegowina, Mazedonien) bis hin zu militärisch gestützten humanitären (Demokratische Republik Kongo) und Stabilisierungseinsätzen (Mazedonien, Bosnien-Herzegowina).
Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lassen ihr auch keine andere Wahl. Perspektivisch wird sich mit der Erweiterung das wirtschaftliche und politische Gewicht der Union vergrößern. Zugleich rückt sie geographisch näher an Krisengebiete im Osten und Süden heran; das Interesse an deren Stabilisierung wird zunehmen. Die globalen Unsicherheiten und Dynamiken drängen nach differenzierten Ansätzen und Strategien, um sie im Rahmen eines umfassenden Sicherheitsansatzes möglichst präventiv und kooperativ zu bearbeiten.
Vor diesem Hintergrund ist es vernünftig, wenn eine Gruppe von Mitgliedstaaten bei der ESVP vorangeht. Dieses Verfahren „vordefinierter verstärkter Zusammenarbeit“ ist nicht neu, wie etwa das Schengen-Abkommen, die Währungspolitik oder die verschiedenen Ansätze zur Rüstungskooperation gezeigt haben.12 Wichtig ist, dass ein solches Vorgehen der Integration dient und nicht der Spaltung. Die Klagen, die wegen der in jüngster Zeit erfolgten engeren Abstimmung zwischen den „Großen Drei“ laut wurden, sind eher politisch-psychologischer Natur. Der Verfassungsentwurf enthält schließlich verschiedene, allen offen stehende Möglichkeiten spezifischer Gruppenbildung: 1. Die EU kann eine Gruppe von Staaten mit der Durchführung einer Mission betrauen. 2. Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Militäroperationen durchführen können, dürfen eine „permanente strukturierte Zusammenarbeit“ begründen. 3. Auf dem Gebiet der GASP ist auch eine „verstärkte Zusammenarbeit“ möglich.13 Dieser komplizierte Kompromiss hat die vielbeschworene Kohärenz der EU gewiss nicht gestärkt. Offen bleibt auch, ob das nach wie vor existierende einzelstaatliche Vetorecht bei Beschlüssen über Missionen die durch die neuen Regelungen erzielte Flexibilisierung in einer konkreten Krise wieder konterkariert. Doch war die einfachste Möglichkeit – die von Frankreich und Deutschland vorgeschlagene Ausdehnung der verstärkten Zusammenarbeit auf die ESVP – nicht konsensfähig.14
Interessengegensätze
Jenseits institutioneller Regelungen und militärischer sowie ziviler Fähigkeiten bleibt ein gemeinsamer politischer Wille zum Aufbau einer Sicherheits- und Verteidigungsunion unverzichtbar. Diese setzt wiederum eine wirklich gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik voraus. Der Irak-Krieg hat die Brüche innerhalb der EU nicht verursacht; er hat vielmehr grundsätzliche Interessengegensätze verdeutlicht, die seit den neunziger Jahren durch wohlklingende Kommuniqués übertüncht wurden. Die Mitglieder der EU müssen erkennen, dass nationale Interessen im 21. Jahrhundert nur dann geltend gemacht werden können, wenn sie europäisch definiert werden. Eine europäischen Verteidigung lässt sich nur dann verwirklichen, wenn auch die Sicherheitspolitik stärker integriert und letztlich vergemeinschaftet wird.15 Sicherheitspolitische Integration heißt Souveränitätsteilung im Rahmen gemeinsamer Institutionen mit dem Ziel, komplexe Sicherheitsprobleme zu bewältigen. Gerade angesichts einer erweiterten Europäischen Union führt an einer temporären Avantgarde der Integrationswilligen kein Weg vorbei. Deutschland, Frankreich und – wenn immer möglich – Großbritannien müssen zusammen mit Gleichgesinnten voranschreiten und sich mehr denn je als Motor sicherheitspolitischer Integration verstehen.
Anmerkungen
1 Vgl. z.B. Karl Feldmeyer, Mitten durch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 26.2.2003; Arnaud Leparmentier, L’Irak révèle les factures de l’Europe, in: Le Monde, 2.3.2003.
2 Vgl. etwa Jacques Derrida/Jürgen Habermas, Die Wiedergeburt Europas, in: FAZ, 31. 5. 2003, S. 33.
3 Vgl. Julian Lindley-French, Plugging the Expanded Petersberg Tasks Gap? Europes Capabilities and the European Capabilities Action Plan, in: Hans-Georg Ehrhart/Burkard Schmitt (Hrsg.), Die Sicherheitspolitik der EU im Werden. Bedrohungen, Aktivitäten, Fähigkeiten, Baden-Baden 2004 (i.E.).
4 Ausgehend von der Erfahrung der Operation Artemis im Kongo sieht dieses Konzept die Aufstellung von schnellen Einsatzkräften in der Stärke von jeweils 1500 Soldaten vor, die insbesondere – aber nicht ausschließlich – auf Anforderung der UN zu autonomen Einsätzen unter Kapitel VII, UN-Charta fähig sind.
5 Vgl. Meg Bortin, European Distrust of U.S. Role Sharpens, in: International Herald Tribune, 17.3 2003.
6 Vgl. Gustav Lindstrom (Hrsg.), Shift or Rift. Assessing US-EU relations after Iraq, Paris 2003.
7 Vgl. Marc Otte, Towards an EU Strategy for the Middle East, in: World Security Network Newsletter, 12.3.2004.
8 Vgl. Reinhardt Rummel, Soft Power EU – Interventionspolitik mit zivilen Mitteln, in: Ehrhart/Burkard Schmitt (Hrsg.), Die Sicherheitspolitik der EU im Werden, a.a.O. (i.E.).
9 Vgl. Ehrhart, What Model for CFSP?, Chaillot Papers 55, Paris 2002.
10 European Council, A secure Europe in a better world. European security strategy, Brüssel 2003.
11 Rudolf Geiger, EUV/EGV, 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, München 2000; Europäischer Konvent, Entwurf: Vertrag über eine Verfassung für Europa, Luxemburg 2003.
12 Christian Deubner, Differenzierte Integration: Übergangserscheinung oder Strukturmerkmal der künftigen Europäischen Union?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B1–2/2003, S. 29.
13 Vgl. Peter Schmidt, Kerneuropa der Sicherheitspolitik. Integration oder Spaltung der EU?, in: Erich Reiter (Hrsg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik, Hamburg 2003, S. 241–256.
14 Vgl. Martin Koopmann, Notwendige Fortschritte, verpasste Chancen: die ESVP im Verfassungsvertrag des Europäischen Konvents, in: Ehrhart/Burkard Schmitt (Hrsg.), Die Sicherheitspolitik der EU im Werden, a.a.O. (i.E.).
15 Dies ist auch die Schlussfolgerung eines elfseitigen Papiers aus dem Führungsstab der Streitkräfte des deutschen Verteidigungsministeriums, in dem der Weg zu einer europäischen Armee bis 2014 vorgezeichnet wird.
Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 33-41