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01. März 2012

Die schwere Wiedergeburt des Irak

Wie Stabilität in einer instabilen Region aufgebaut werden kann

Eigentlich ist Optimismus angesagt: Der Irak besitzt noch mehr Öl als gedacht und damit zusätzliche Einnahmequellen. Die Bevölkerung ist gebildet und schreitet im demokratischen Lernprozess voran. Die Jahre der schlimmsten Gewalt sind vorbei; Ende 2011 zogen die US-Truppen
ab. Doch an seinen Grenzen hat der Irak schwierige Nachbarn.

Politisch gesehen sind neun Jahre keine lange Zeit. Eine Statistik der Weltbank zeigt, dass es 36 Jahre dauert, eine staatliche Institution aufzubauen, 27 Jahre, um Korruption zu beseitigen und 41 Jahre, um einen Rechtsstaat zu etablieren.1 Die Aufmerksamkeitsspanne der internationalen Gemeinschaft dagegen ist wesentlich kürzer; ein Staat, der sich nicht schnell genug neu erfindet (wie Bosnien-Herzegowina oder der Kosovo), verschwindet aus den Nachrichten.

Dem Irak geht es ähnlich: Aus der westlichen Presse durch den „arabischen Frühling“ verdrängt, ringt das Land mit Herkulesaufgaben wie Reform des Sicherheitssektors, demokratische Regierungsführung, Terrorismus und Gewalt zwischen verschiedenen Gruppierungen – all das in einem spannungsreichen regionalen Umfeld, das es in seinem Wiederaufbau nur zögerlich unterstützt oder sogar unterminiert. Dennoch: Die vergangenen Jahre im Irak waren nicht erfolglos.

Die Qual der Wahl

In den 80 Jahren seiner unabhängigen Existenz war der Irak höchstens bruchstückhaft und zeitweise eine Demokratie. Zwischen seiner Unabhängigkeit 1930 und dem Ende der Monarchie 1958 wurden zwar zehn Parlamentswahlen abgehalten – die aber durchgängig manipuliert wurden, um dem sunnitischen Königshaus eine ihm gewogene Volksvertretung zur Seite zu stellen. Unter den sukzessiven Diktaturen fanden Wahlen unregelmäßig und mit fragwürdigem Ausgang statt: So wurde Saddam Hussein 1995 mit 99,96 Prozent, 2002 mit 100 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Die fünf Parlamentswahlen unter seiner Herrschaft erlaubten keinen echten Pluralismus neben der herrschenden Baath-Partei.

Eine wahre Demokratie mit Wahlen und frei rivalisierenden Parteien ist für die Iraker deshalb eine neue Erfahrung. Seit der Invasion 2003 haben die Iraker zwei Mal (2005 und 2010) über die Zusammensetzung ihres Parlaments abgestimmt; ein neu entwickeltes Wahlsystem garantiert Minderheiten und Frauen Parlamentssitze. Parteien formierten sich explosionsartig im ganzen Land. Bei den ersten Wahlen 2005 traten 20 000 Kandidaten und 34 Koalitionen an, und dass die Wahlbeteiligung trotz angespannter Sicherheitslage bei 60 und 70 Prozent lag, galt zu Recht als positiv. Viele Sunniten, die die ersten freien Wahlen aus Unzufriedenheit mit dem neuen politischen System boykottiert hatten, nahmen an den zweiten Wahlen 2010 teil.

Der Übergang zur Demokratie jedoch ist immer schwierig. Es ist die Phase, die am meisten Gewaltpotenzial birgt, vor allem, weil freie Wahlen im unmittelbaren Anschluss an das Ende eines autokratischen Systems die sozialen Spannungen eher verschärfen als reduzieren. Das war und ist im Irak nicht anders. Parteien und Koalitionen bilden sich vor allem entlang ethnisch-konfessioneller Linien. Das führt häufig zu antagonistischer Rhetorik, die sich eher hetzerischer Anschuldigungen bedient, als sich um Politikinhalte zu kümmern. Da arabische Sunniten unter Saddam Hussein bevorzugt wurden, stehen sie nun unter dem Generalverdacht der Kollaboration; vor den Wahlen von 2010 wurden rund 500 meist sunnitische Kandidaten wegen des Verdachts gesperrt, mit der Baath-Partei in irgendeiner Form verbunden gewesen zu sein.

Aus den Wahlen ging dennoch die Koalition Al-Irakija hervor, die säkular-nationalistisch gefärbt ist und sowohl von Sunniten als auch von säkularen Schiiten gewählt wurde, darunter vielen Militäroffizieren. Trotz des Wahlsiegs konnte die Koalition keine Regierung bilden, da der Rest des Parlaments von schiitischen Parteien dominiert wird, von denen manche mehr, manche weniger religiös motiviert sind.

Nach zehn Monaten Verhandlungen wurde schließlich eine große Koalition gebildet, doch der Frieden währte nicht lange. Im Dezember 2011, nur Tage nach dem Abzug der letzten amerikanischen Soldaten, wurde Tarek al-Haschemi, einer der führenden Politiker von Al-Irakija, Sunnit und Mitglied des Präsidentschaftsrats, der Organisation von Terrorattentaten und der Planung eines Staatsstreichs bezichtigt. Haschemi floh in den kurdischen Norden. Auch dies empfinden viele als Teil einer systematischen Abstrafung der Sunniten; den schiitischen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki hält man für den Urheber des Haftbefehls.

Gewaltenteilung, konfessionsunabhängige Parteienbildung und Auf­arbeitung der diktatorischen Vergangenheit sind Themen, bei denen die junge irakische Demokratie noch Aufholbedarf hat. Es besteht jedoch begrenzter Anlass zur Hoffnung: Als einzige konfessionsübergreifende Partei konnte Al-Irakija die meisten Stimmen auf sich vereinen, und auch das schiitische Lager darf man nicht gänzlich als Handlanger des Iran verstehen. So verliert etwa Muktada al-Sadr, der Kopf der schiitischen Mahdi-Milizen, mit dem Abzug der amerikanischen Truppen eines seiner Hauptthemen. Bei aller hetzerischen Rhetorik und dem Mangel an politischer Reife sollte man nicht vergessen, dass dies typische Symptome einer jungen Demokratie sind.

Aus Alt mach Neu: die Armee

Die Auflösung der irakischen Armee im Mai 2003 schuf mehr Probleme als sie löste: Sie setzte nicht nur eine halbe Million waffenerfahrener Männer auf die Straße – sie sah nicht einmal mehr einen Platz in den neuen Sicherheitsstrukturen für sie vor. Jeder, der in irgendeiner Form Teil des Baath-Regimes gewesen war, wurde von der neuen, ursprünglich nur 44 000 Mann starken Armee ausgeschlossen. Diese Pläne mussten die USA bald aufgeben; der Irak brauchte dringend eine Sicherheitsstruktur, die um einiges größer sein musste, um Sicherheit überhaupt gewährleisten zu können.

Die „neue“ irakische Armee ist deswegen in großen Teilen die alte irakische Armee – alle Generäle und 70 Prozent des Offizierskorps haben schon unter Saddam Hussein gedient. Dies macht das Militär vor allem eines: erfahren in Sachen Sicherheit. In nur sechs Jahren gelang es, 200 000 Mann einzustellen, in Terrorbekämpfung zu trainieren und operativ tätig zu werden. Wollte man eine militärische Institution aus dem Nichts schaffen, würde dies mehrere Jahrzehnte dauern.

Die irakische Armee genießt einen guten Ruf in der Bevölkerung. Sie garantierte einen sicheren Ablauf der Wahlen und steht nun vor der Herausforderung, die amerikanischen Truppen zu ersetzen. Das Gewaltniveau hat sich in den vergangenen Jahren stark reduziert, doch nun stellt sich die Frage, ob die irakischen Sicherheitskräfte auch ohne amerikanische Unterstützung in der Lage sein werden, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Denn nicht alles ist rosig in Sachen Militär: 30 Prozent der Offiziersposten sind aus Mangel an qualifiziertem Personal nicht besetzt, und während unter Saddam Hussein eine strenge Dekonfessionalisierungspolitik verfolgt wurde, werden Posten in den Sicherheitskräften nun nach ethnisch-religiöser Zuge­hörigkeit vergeben. Die obersten Ränge verfolgen dabei einen numerischen Proporz, d.h. 20 Prozent arabische Sunniten, 60 Prozent arabische Schiiten und 18 Prozent Kurden, was dem geschätzten Bevölkerungsanteil entspricht.

Das Problem besteht darin, dass politische Einmischung in innermilitärische Angelegenheiten grundsätzlich ungern gesehen wird – umso mehr, wenn eine Organisation, die sich auf das Prinzip der Meritokratie beruft, plötzlich ethnisch-konfessionelle Größen berücksichtigen soll. Im Falle des Irak kommt noch hinzu, dass die neue Quote vor allem die Gruppe bevorteilt, die unter Saddam Hussein benachteiligt war: die arabischen Schiiten. Vor 2003 waren 20 Prozent der irakischen Offiziere Schiiten; weil aber 70 Prozent der aktuellen Offiziere – und damit fast jeder über dem Rang eines Hauptmanns – aus der alten Armee stammen, bedeutet dies, dass die Schiiten bevorzugt befördert wurden. Sie machen auf höchster Ebene 60 Prozent aus. Das missfällt natürlich jenen, die ohnehin mit dem neuen System unzufrieden sind: den arabischen Sunniten.

Verstärkt wird diese Unzufriedenheit durch die Entscheidung, die US-Trainingsmis­sion nur im winzigen Ausmaß von 150 Mann zu akzeptieren (die USA hatten 20 000 vorgeschlagen), und die NATO-Trainingsmission abzubrechen. Dabei hatten irakische Generäle sogar öffentlich zugegeben, dass sie noch bis 2020 Unterstützung bräuchten, um alleine operieren zu können.2

Frustration im Militär birgt immer Gefahrenpoten­zial – vor allem aber in einem Land, in dem das Militär sich über Jahrzehnte an Einfluss in der Politik gewöhnt hat, sektiererische Politik ablehnt und sich selbst als die einzige wahre nationale Institution wahrnimmt. Man darf nicht vergessen, dass das irakische Militär den ersten arabischen Staatsstreich 1936 durchführte und bis zur Machtergreifung 1968 sechs Mal putschte. Tragischerweise war Saddam Hussein der erste irakische Zivilist, dem es gelang, das Militär des Landes unter Kontrolle zu bringen.

Armes reiches Land

Die irakische Wirtschaft hat keine leichten Jahre hinter sich. Der achtjährige Krieg gegen den Iran, der Krieg von 1991, die jahrelangen Sanktionen sowie die Invasion von 2003 bescherten dem Land massiven Schaden an der Infrastruktur, Millionen von Flüchtlingen sowie 130 bis 140 Milliarden Dollar Schulden, wovon der Großteil Auslandsschulden sind. Das Entschuldungsprogramm, das die irakische Regierung vor allem mit den Mitgliedern des Pariser Clubs umgesetzt hat, hat diese auf 92 Milliarden Dollar reduziert – 67 Milliarden hiervon sind Schulden bei Golf-Staaten.

Mit dem Ende des Regimes von Saddam Hussein läutete die Übergangsverwaltung der internationalen Koalition im Irak unter Paul Bremer außerdem ein Ende der Plan- und die Einführung der Marktwirtschaft ein – was bisher jedoch eher stockend vorangeht. Da Übergänge dieser Art wirtschaftlich wie politisch immer schwierig sind, suspendierte das irakische Parlament Bremers Entscheidungen, insbesondere was den Ölsektor betrifft. Andere Bereiche, wie Tourismus und Konsumgüter, haben von der Liberalisierung der Märkte bisher jedoch profitiert. ­Steuern wurden von 45 Prozent auf 15 Prozent gesenkt, die stabilisierte Sicherheitslage erlaubte eine Verlangsamung der Inflation und zog ausländische Investoren an. Ölexporte erreichten 2009 das Niveau von 2002, und die Entdeckung weiterer Ölfelder 2010 verspricht dem Irak noch mehr Einnahmequellen für die kommenden Jahrzehnte.

Ölvorkommen haben sich jedoch in den meisten Staaten als politischer Fluch erwiesen, denn natürliche Ressourcen sind eher der Autokratie als der Demokratie förderlich. Dass auch Ministerpräsident Maliki dazu neigt, viel Macht in seinen Händen zu konzentrieren – er ist derzeit Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Innen- und Verteidigungsminister sowie Minister für Nationale Sicherheit – bestätigt dies. Solange Erdöl 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, wird es die Tendenz geben, Macht autokratisch zu zentrieren, um die Verteilung der Erlöse zu monopolisieren. Hinzu kommt, dass Öl Abhängigkeit von internationalen Märkten und damit eine gewisse Unkalkulierbarkeit mit sich bringt.

Allein unter vielen

Im regionalen Gefüge war der Irak stets ein Paradox. Unbeliebt bei seinen Nachbarn aufgrund seiner panarabischen Rhetorik, die Gamal Abdel Nassers Ägypten Konkurrenz machte, aufgrund seiner Größe, strategischen Lage und seines Ölvorkommens war er jedoch gleichzeitig das Osttor der arabischen Welt und damit das Bollwerk gegen den expansionistischen Iran. Aus diesem Grund unterstützten die meisten seiner Nachbarn (außer Syrien) den Krieg gegen den Iran von 1980 bis 1988 mit Krediten. Als der Irak 1990 Kuwait besetzte, verbündeten sich dieselben Nachbarn (außer Jordanien) mit der internationalen Koalition zur Befreiung des Golf-Staates.

Diese Dualität im regionalen Zusammenspiel hat sich auch nach 2003 nicht geändert. Während die Golf-Staaten den iranischen Einfluss im Irak befürchten, haben sie gleichzeitig keine Maßnahmen ergriffen, um dem Staat eine regionale Alternative zu bieten. Außer Katar, das 2004 die Schulden des Irak erließ, zögern die anderen Golf-Staaten, vor allem Kuwait, dem Land eine Reintegra­tion in den arabischen Raum zu erleichtern. Die Vereinigten Arabischen Emirate erließen erst im Januar 2012 Schulden in Höhe von 8,5 Milliarden Dollar, doch Kuwait und Saudi-Arabien bestehen nach wie vor auf der Rückzahlung der respektive 27 Milliarden und 30 Milliarden Dollar Schulden.

Vor allem die Beziehung mit Kuwait hat dabei politische Konsequenzen: Solange der Irak keine Einigung mit dem Golf-Staat gefunden hat, bleibt er unter Kapitel 7 der UN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen), was ihn nicht nur in seiner staatlichen Souveränität begrenzt, sondern auch wirtschaftlich behindert. Unterstützung kann Bagdad außerdem nicht vom traditionell feindlich gesinnten Syrien erwarten, das seit 2003 Terroristen Durchgang in den Irak gewährte, oder von der Türkei, der die halbautonome Region Kurdistan großes Unbehagen bereitet. Die Annullierung des Gipfels der Arabischen Liga in Bagdad 2011 wurde im Irak gleichfalls als arabische Isolation interpretiert, wenngleich wahrscheinlich Sicherheitsbedenken ausschlaggebend waren. In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, dass der Irak iranische Angebote einer Wirtschafts- und Militärkooperation annimmt und sich mit seinem östlichen Nachbarstaat besser versteht, als dies seinen anderen Anrainerstaaten lieb ist.

Neun Jahre später: die Bilanz

Eigentlich besteht Anlass zu Optimismus: Der Irak besitzt noch mehr Öl als gedacht, seine Bevölkerung ist gebildet, politisch interessiert und schreitet im demokratischen Lernprozess voran. Die schlimmsten Jahre der Gewalt zwischen ethnischen und religiösen Gruppierungen sind vorbei, und die US-Truppen sind Ende 2011 abgezogen. Statistisch gesehen verbessern sich die Chancen des Irak 2013, zehn Jahre nach der Invas­ion,3 die Gewalt­spirale endlich zu verlassen, damit sich die Wirtschaft erholen und der Wiederaufbau in vollen Gang kommen kann.

Doch der regionale Kontext macht es dem Irak nicht einfach: Die internationalen Spannungen mit dem Iran und die Instabilität Syriens werden sich sehr wahrscheinlich auch für den Irak bemerkbar machen, dem aber wenig eigener Gestaltungspielraum zur Verfügung steht. Die Faustregel lautet: Je stabiler der Irak nach innen ist, desto weniger werden sich die regionalen Ereignisse auf ihn auswirken.

Dr. FLORENCE GAUB ist Dozentin in der Nahost- Abteilung des NATO Defense College in Rom.

  • 1The World Bank: World Development Report 2011. Conflict, Security and Development – Overview, Washington DC, 2011, S. 11.
  • 2Iraqi Army not ready to take over until 2020, says country’s top general, The Guardian, August 2010.
  • 3Paul Collier, Anke Hoeffler und Mans Soederbom: Post-Conflict Risks, Center for the Study of African Economics, University of Oxford, August 2006, S. 9, http://economics.ouls.ox.ac. uk/13631/1/uuid83a31fbc-081c-4392-9f96-ab6cdbacc13e-ATTACHMENT01.pdf.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 114-119

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