Die russische Armee in der Krise?
Buchkritik
Die sicherheitspolitische Wende, die die Regierung von Präsident Wladimir Putin nach den Terroranschlägen auf Washington und New York einleitete, hat Russland als Partner an die Seite der Vereinigten Staaten und der NATO geführt. Damit ist die russische Regierung auf dem Feld der internationalen Politik wieder als Akteur vertreten; sie übernimmt somit wieder eine Rolle, die ihr schon durch die geographische Lage zugewiesen wird. Ein Staat, der im Westen EU und NATO zu Nachbarn hat, im Osten China und Japan, im Süden die Krisenregionen Zentralasien und Kaukasus, ist de facto dazu verurteilt, Weltpolitik zu treiben, auch wenn er seit langer Zeit nicht mehr über die Ressourcen dafür verfügt. Allein durch Eintritt in ein leistungsfähiges Bündnis kann Russland dieses außen- und sicherheitspolitische Dilemma letztlich überwinden. Die Annäherung an die westliche Allianz sollte aber Anlass sein, sich erneut einen Überblick über die militärischen und Rüstungsressourcen der Russischen Föderation zu verschaffen und die sicherheitspolitischen Vorstellungen der russischen Eliten zu analysieren.
Einen solchen Versuch hat das US Army War College im Februar 2000 – damals politisch noch unter anderen Vorzeichen – im Rahmen einer Konferenz unternommen, deren Ergebnisse jetzt dokumentiert worden sind. Die Beiträge sind in vier Abschnitte gegliedert. Der erste behandelt den innenpolitischen Rahmen, in dem Militär- und Sicherheitspolitik formuliert wird, der zweite setzt sich mit der Lage innerhalb der Streitkräfte auseinander, der dritte thematisiert die internationale Lage zur Jahrtausendwende, der vierte schließlich wendet sich den Modernisierungsprojekten der russischen Streitkräfte zu. Jeder dieser Abschnitte umfasst fünf bis sechs Einzelbeiträge, die sich etwa mit dem Zustand der Rüstungsindustrie, den Beziehungen zwischen Militär und Politik unter Boris Jelzin oder der Entwicklung der Militärreform im letzten Jahrzehnt befassen.
Zusammengenommen lassen die Beiträge ein facettenreiches Bild von der Lage und den Entwicklungsperspektiven der russischen Streitkräfte entstehen, das allerdings wenig optimistisch stimmt. Wenn Dale Herspring den fortgesetzten Zerfallsprozess des Militärs plastisch darstellt, oder wenn Chris Bluth demonstriert, dass gerade der Verlust konventioneller Stärke ein Motiv ist, an der nuklearen Komponente festzuhalten, dann wird deutlich, wie schwierig und instabil die sicherheitspolitische Lage Russlands ist. Dass die überwiegend konservativen Teilnehmer von der Politik Putins kaum positive Anstöße erwarteten und seine offensive Annäherung an den Westen nicht antizipierten, wird nicht überraschen. Das reiche Faktenmaterial, das in diesem Sammelband ausgebreitet wird, behält trotzdem seinen Wert.
Die zweite Arbeit, die hier vorgestellt werden soll, wurde zwar auch im Jahr 2000 abgeschlossen, aber die Vorgehensweise und der regionale Blickwinkel haben ihren Autor in den Stand versetzt, die innere Entwicklung russischer Sicherheitspolitik ganz zutreffend zu prognostizieren: „While much ideological anti-Westernism still remains among the Russian elite, the fact that Western intentions are analysed in Moscow in a predominantly realistic framework makes cooperation in the future more likely than in Soviet times.“ (S. 91f.) Diese Einsicht gewinnt der finnische Verfasser aus einer sorgfältigen Analyse sowjetischen und russischen sicherheitspolitischen Denkens („strategic culture“) im Verlauf mehrerer Jahrzehnte. Er kann zeigen, wie sich in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs in Politik und Militär ein Denken durchsetzte, das die Offensive in den Mittelpunkt stellte und die sowjetische Sicherheitspolitik bis in die Ära von Michail Gorbatschow hinein dominierte.
Der Kollaps dieses Konzepts Ende der achtziger Jahre löst dann eine fieberhafte Suche nach neuen sicherheitspolitischen Denkansätzen aus. „Liberale“ bzw. „Realisten“ und „Hardliner“ geben hier ganz unterschiedliche Antworten. Doch setzt sich, so Heikka, zunehmend eine strategische Orientierung durch, die in der Offensive keine realistische Option mehr sieht und die EU und NATO zunehmend als Partner begreift. Dies wirkt sich letztlich auch positiv auf die Region Ostsee-Skandinavien aus, obwohl Russland hier immer noch eine Hegemonialstellung zu beanspruchen scheint. Die innerrussischen Gegensätze demonstriert der Autor auch an der Debatte über Multipolarität und kann hier noch einmal deutlich machen, wie sich die Denkmuster insgesamt verändern. Auf der Grundlage dieser Analyse kommt Heikka dann zu seinen zutreffenden Folgerungen, die auch die Ereignisse des 11. September unbeschadet überstanden haben – und die jetzt dabei helfen können, Putins Wende zum Westen richtig zu interpretieren.
Michael H. Crutcher/The United States Army War College; Center for Strategic Leadership (Hrsg.), The Russian Armed Forces at the Dawn of the Millennium. 7–9 February 2000, 400 S. Kostenlos im Internet unter <http://perso.club.internet.fr/koslowsk/books.html>.
Henrikki Heikka, Beyond the Cult of the Offensive. The Evolution of Soviet/Russian Strategic Culture and its Implications for the Nordic-Baltic Region, Helsinki/Berlin/Kauhava: Ulkopoliittinen instituutti/The Finnish Institute of International Affairs/Institut für Europäische Politik 2000 (= Programme on the Northern Dimension of the CFSP, Vol. 10), 148 S. (keine Preisangabe).
Internationale Politik 1, Januar 2002, S. 65 - 66.