Die Realität ist schmerzhaft, aber zumutbar
Was vermutlich nicht im Koalitionsvertrag stehen wird, obwohl es dringend drinstehen müsste.
Kann der Koalitionsvertrag, der in den kommenden Monaten entstehen wird, verhindern, dass deutsche Außenpolitik wieder – zum wievielten Mal eigentlich? – an der Realität zerschellt? Kann er verhindern, dass man wieder so katastrophal fehlgeht wie in der Russland-Politik, mit der man denjenigen, der einen zerstören will, reich und salonfähig gemacht hat? Wie in der Energiepolitik, bei der man kindlich naiv jede geopolitische Bewandtnis geleugnet und damit die größte anzunehmende Menge an Vertrauen verspielt hat? Wie in der Verteidigungspolitik, bei der es Deutschland in fein sublimierter Autoaggression darum ging, die Welt vor Deutschland sicher zu machen und nicht andersherum?
Oder wie in der China-Politik, die wir tatsächlich in dem Glauben betreiben, Peking wolle uns nicht zum abhängigen Vasallen machen, dessen Produkte wir zu kaufen und dessen politische Vorgaben wir umzusetzen haben? Oder wie beim Euro, bei dem wir noch immer glauben, dass Deutschland als sein größter Profiteur am Ende nicht für die konstruktionsbedingten Ungleichgewichte wird bezahlen müssen?
Nein, der Koalitionsvertrag allein wird die deutsche Außenpolitik nicht retten – eine Politik, deren Bilanz der vergangenen drei Jahrzehnte im Grunde verheerend ist und die einen gewichtigen Beitrag zur Schwächung der freiheitlichen Demokratien, also des Westens, geleistet hat. Im harten Gegenlicht der „Zeitenwende“ wird dieses Versagen nun sichtbar. Sein Hauptmerkmal ist die Realitätsverweigerung. Sein Deckmäntelchen ist der Idealismus. Sein innerer Antrieb ist die grassierende Angst vor sich selbst.
Der Hauptgrund, weswegen der kommende Koalitionsvertrag die Außenpolitik nicht wird retten können, ist, dass er ein Hausaufgabenheft wird, in dem man Projekte und Vorhaben verzeichnet, die man in den kommenden vier Jahren gemeinsam „umsetzen“ möchte. Hauptziel des Koalitionsvertrags ist dabei nicht gute Politik, sondern das Überleben der Regierung, die aus Parteien zusammengesetzt sein wird, die sich gegenseitig misstrauen.
Wer sich nicht vertraut, aber trotzdem zusammenarbeiten will, muss detailliert aufschreiben, was gemeinsam erledigt werden soll. Nicht so sehr, um dann auch alles ganz genau so zu machen, sondern vor allem, um die eigenen Leute – die Basis, die Kernwählerschaft, die Klientel – ruhig zu stellen. Ihnen müssen die Trophäen präsentiert werden, welche die Zugeständnisse rechtfertigen, die man dem neuen Koalitionspartner gemacht hat. Denn gegen den hatte man im Wahlkampf gerade noch mit Gusto Schmähreden gehalten.
Im Koalitionsvertrag werden also viele wichtige und richtige Dinge stehen. Aber die Gefahr besteht, dass sie ohne Unterbau bleiben. Dass sie am Symptom herumlaborieren, ohne den Kern des Problems anzugehen. Paradebeispiel ist der tragische Fall der „Strategiefähigkeit“, die es 2017 in den Koalitionsvertrag der vierten Merkel-Amtszeit schaffte. Sie sollte durch die Förderung von Thinktanks und den „Ausbau des außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Sachverstands“ gefördert werden. Es sind dann auch Gelder geflossen und so manche Konsultation wurde abgehalten.
Doch der Nettoertrag war nahe null, in den Ukraine-Krieg ist man blind hineingelaufen, Nord Stream hat man bis zum bitteren Ende verteidigt, das 2-Prozent-Ziel wurde unermüdlich als kriegstreiberisch diffamiert und die Ausstattung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen so lange mit vorgeschobenen – und noch dazu falschen – ethischen Argumenten hintertrieben, wie es nur ging. Um nur einige Beispiele zu nennen. Das Einfügen eines schönen – und richtigen – Wortes in den Koalitionsvertrag hat zur Gewinnung von Realitätssinn nicht ein Jota beigetragen.
Die eigentliche Arbeit zur Rettung der deutschen Außenpolitik kann nicht in einen Waschzettel namens Koalitionsvertrag hineingeschrieben werden. Denn die eigentliche Arbeit ist ein kollektives Umdenken der politischen Klasse in Sachen Außenpolitik – ein fundamental aufklärerischer Schritt, der wie jede Abkehr vom Mythos hin zur Empirie enorm schmerzhaft sein wird. Denn dabei geht es zuvorderst um drei Dinge: den unverstellten Blick auf die Realität, die Überwindung der Angst und die Akzeptanz der Kosten.
Der Blick auf die Welt, wie sie ist
Der Wechsel weg von den deutschen Traumvorstellungen über die Welt hin zu einer wirklichkeitsnahen Betrachtung, der weniger in der Bevölkerung, dafür umso mehr von der politischen Blase vollzogen werden muss, sollte nicht allzu schwer sein. Denn genau die rücksichtslose Machtpolitik, von der die deutschen Politiker nicht so recht glauben wollen, dass sie in der Welt da draußen die Norm ist, praktizieren sie daheim in Parteien und Parlamenten ja mit Leidenschaft und großem Geschick. So wie innerparteilich jeden Tag rohe Macht ausgeübt wird, um Mehrheiten zu sichern, Konkurrenten auszubooten, Parteifreunde von Posten fernzuhalten und Geld in die eigenen Wahlkreise umzuleiten, so geht es auch international zu. So agieren, im Prinzip, auch Putin und Xi, um ihren Machtbereich auf Kosten anderer auszuweiten. So agieren Kim und die Ajatollahs, um an der Macht zu bleiben. So werden in den Vereinten Nationen und in der EU Deals gemacht.
Die eigentliche Arbeit ist ein kollektives Umdenken der politischen Klasse in Sachen Außenpolitik
Es stimmt natürlich, dass im demokratischen Rechtsstaat Macht noch leidlich von Gesetzen und Gepflogenheiten eingehegt wird; doch das Grundprinzip von Machtgewinn, Machtausübung und Machterhalt ist immer das gleiche. Zu verdrängen, dass das, was da draußen in der Welt ohne Durchsetzungsinstanz ganz unverhohlen praktiziert wird, ist die wohl bemerkenswerteste außenpolitische Leistung der deutschen politischen Klasse. Sie glaubt noch immer, grosso modo, dass nur weil es das Völkerrecht gibt, es auch greift, dass es ausreicht, übelwollender Macht nicht auch mit der eigenen Fähigkeit zur Machtausübung, sondern mit Kooperationsangeboten und Dialogbereitschaft zu begegnen. Und dass die eigene militärische Wehrhaftigkeit die Ausgeburt des Bösen ist statt, wie in Wahrheit, die Voraussetzung für Frieden und Freiheit.
Und wo solche Naivität schon abgelegt wurde, reicht es oft immer noch zum Zynismus: Ja, die Welt ist gefährlich, aber daran beteiligen wir uns nicht, wir wollen nur Handel treiben und hegen gegen niemanden Groll, da haben wir doch ein Recht auf In-Ruhe-gelassen-werden. Und falls das mal verletzt wird, gibt es ja noch die Amerikaner, die lieben doch das Grobe und können uns dann doch auch gleich mitbeschützen, oder?
Natürlich ist dies eine polemische Überspitzung. Aber diese Sicht auf Deutschland ist vielen unserer Nachbarn und Verbündeten gar nicht unplausibel und das Misstrauen, dass sich Deutschland halb unbedarft, halb abgefeimt zurückhält, um anderen das „heavy lifting“ zu überlassen, ist groß. Auch das gehört zur Wahrnehmung der Welt, wie sie ist.
Wer auch immer in der künftigen Regierung Verantwortung für Außen- und Sicherheitspolitik tragen wird, muss das tun, was Olaf Scholz nach seiner Ausrufung der Zeitenwende nach Kräften vermieden hat, um seine ohnehin schon maximal erregte Partei nicht weiter aufzubringen: von vorne zu führen und die notwendigen Entscheidungen aus der existenziellen Bedrohung Deutschlands, der Brutalität des globalen Machtspiels und dem Übelwollen fremder Mächte heraus zu erklären – und das nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder.
Die Überwindung der Angst
Die zweite große „weiche“ Führungsaufgabe, die jenseits von Policy von der nächsten Bundesregierung erbracht werden muss, ist die, den Deutschen die Angst vor sich selbst zu nehmen. Die heute hauptsächlich wirksame Spätfolge der deutschen Naziverbrechen ist weniger das Gefühl von Schuld oder Scham (obwohl auch sie weiter eine Rolle spielen), sondern die der Angst vor den eigenen guten Absichten. Die historische Erfahrung, seine ganze eigene Kraft verblendet in den Dienst des größten Menschheitsverbrechens gestellt zu haben, hat die Überzeugung, am Ende des Tages auch wirklich zu den Guten zu gehören, nachhaltig erschüttert. Die beinahe zwanghafte Moralisierung aller Außenpolitik, die sich so lähmend auf deutsche Handlungsfähigkeit auswirkt, hat hier ihren Ursprung.
Wer aber seinen eigenen guten Absichten nicht vertrauen kann, der vermag es auch nicht, in eine selbstbewusste Akteursrolle hineinzufinden, wie sie heute für Deutschland in der europäischen Sicherheitspolitik erforderlich ist. Der wird sich stattdessen bevorzugt hinter anderen verstecken und genau die Passivität pflegen, die man Deutschland seit 30 Jahren zum Vorwurf macht, und die von der Nachkriegstugend, die dem Land gut zu Gesicht stand, zu einem Grund für Misstrauen und Vorwürfe geworden ist. Der wird eine Zeitenwende ausrufen und sie dann nicht mit Leben füllen.
Neben den Realitätssinn muss also das Selbstvertrauen treten – das Vertrauen, dass man sich außenpolitisch exponieren kann, ohne gleich wieder Gefahr zu laufen, falsch abzubiegen oder moralisch zu versagen. Das Vertrauen, dass man auch Fehler machen kann, ohne deshalb gleich das Totalversagen fürchten zu müssen. Das Zutrauen, das Handlungsfähigkeit auch in der moralischen Grauzone erlaubt, wenn man in Abwägungsfragen keine guten Optionen mehr hat, sondern nurmehr schlechte und noch schlechtere.
Deutschland trägt als größte Volkswirtschaft Europas größere strategische Verantwortung als andere
Ermöglichen soll die Angstfreiheit (die nicht mit Leichtsinn oder Rücksichtslosigkeit verwechselt werden darf) die Annahme eines aktiven Rollenverständnisses – die Rolle Deutschlands als Akteur, der mit seinem Handeln Resultate hervorbringt, statt nur prozessbegleitend zu wirken. Der für sich und mit seinen Partnern Ziele festlegt und diese dann auch aktiv, mit Zug zum Ergebnis, verfolgt. Wie beispielsweise bei Russlands Krieg gegen die Ukraine, in dem es strategisch und historisch geboten ist, dass Moskau ihn verliert – und Deutschland sich sowohl zu diesem Ziel bekennen als auch tatkräftig darauf hinwirken muss, statt mit einer strategisch falsch begründeten Halbposition weder der Ukraine noch der europäischen Friedensordnung noch letztlich sich selbst zu dienen.
Vielen in Deutschland gilt eine solche aktive Rolle als unstatthaft und unklug. Nicht nur komme sie Deutschland historisch nicht zu, Deutschland sei als Nichtatommacht auch zu schwach, sich robust zu positionieren und eine solche Rolle auch durchzuhalten.
Doch beide Erklärungen greifen zu kurz. Aus Deutschlands Geschichte lässt sich eben nicht nur eine gebotene Zurückhaltung ableiten, sondern gerade die Pflicht zum robusten Auftritt gegen die Bedrohung der Freiheit. Und es ist zwar richtig, dass Deutschland weniger strategische Tiefe hat als das mit eigener nuklearer Abschreckungsfähigkeit ausgestattete Großbritannien oder Frankreich. Aber es hat als größte Volkswirtschaft Europas eben auch mehr Kraft und Reserven als fast alle anderen und trägt deshalb auch größere strategische Verantwortung als andere.
Die neue Regierung muss die Deutschen, die Berliner Blase und sich selbst darauf vorbereiten, dass Deutschland das wird, was unvermeidbar ist, wenn Europa aus eigener Kraft sicher und stabil sein will: dass Deutschland zur europäischen Führungsmacht wird, diplomatisch und militärisch, und dass es sich mit seiner Kraft in den Dienst der Freiheit und der Demokratie stellt. Denn eines versteht sich von selbst: Deutschland muss diese Rolle nicht aus Abenteuerlust oder zur Mehrung von Prestige und vaterländischem Ruhm einnehmen, sondern für die Sicherung aufgeklärter Eigeninteressen, der freiheitlichen, regelbasierten Ordnung und der Geltung des Rechts.
Die Akzeptanz der Kosten
Natürlich wird der Lernprozess, der zur Annahme dieser Rolle führt, erheblich dadurch erschwert, dass das alles sehr, sehr teuer wird. Für ein Land, dessen Wirtschaft im Grunde seit fünf Jahren nicht wächst, dessen Investitionsrückstand nach einem ungenutzt verstrichenen Niedrigzinsjahrzehnt gigantisch ist und dessen Demografie als alles verstärkender Negativfaktor im Hintergrund wirkt, ist das eine schlechte Nachricht.
Nicht umsonst hat Friedrich Merz im Wahlkampf seine ansonsten ambitionierten außenpolitischen Ziele gleich mit dem Dämpfer garniert, dass die Verteidigungsausgaben dauerhaft bei 2 Prozent gehalten werden sollten, einer Zielgröße, die sowohl politisch als auch militärisch längst überholt ist. Er hat eben die Zahlen gesehen und verstanden, dass es fiskalisch sehr, sehr eng wird. Und dennoch: Es mag taktisch klug sein, vor Verhandlungen mit Donald Trump über neue Ausgabenziele nicht zu weit vorzupreschen. Im Sinne einer strategischen Ausweitung der eigenen politischen Handlungsfähigkeit ist es hingegen nicht besonders zielführend, den Deutschen weiszumachen, sie könnten sich hier mit einem schmalen Obolus aus der Affäre ziehen.
Wer auch immer Bundeskanzler sein wird, wird im Verlauf der nächsten Jahre dramatische Haushaltsentscheidungen treffen und rechtfertigen müssen
Wer auch immer im Mai oder Juni Bundeskanzler sein wird, wird irgendwann im Verlaufe der nächsten vier Jahre (vermutlich eher früher als später) dramatische Haushaltsentscheidungen treffen und rechtfertigen müssen. Das ist auch allen Beteiligten klar; nur dass niemand vor der Wahl dabei erwischt werden möchte, die Wahrheit zu sagen. Die Wiederherstellung der eigenen militärischen Abschreckungsfähigkeit (die ja gerade erst begonnen hat), die dauerhafte Unterstützung der Ukraine (egal ob im Krieg oder nach einem dann abzusichernden Friedensschluss), die Erfüllung der NATO-Planungsziele, die womöglich drohende Kompensation der von Trump abgezogenen amerikanischen Fähigkeiten in Europa – all das wird enorme Summen kosten.
Ohne eine Reform (oder erneute Umgehung) der Schuldenbremse wird es nicht gehen, zumal ja ähnliche Finanzbedarfe auch in anderen Politikfeldern bestehen, siehe exemplarisch die Bereiche Infrastruktur und Digitalisierung. Und ohne eine Wirtschaft, die wieder wächst, wird es erst recht nichts. Auf neue Schulden aber muss man konservative Wähler, auf schmerzhafte Strukturreformen linke Wähler gezielt vorbereiten, sonst drohen Widerstand und Blockade. Das Fiskalische ist strategisch, und wer die deutsche Außenpolitik vor erneutem Scheitern an der Realität bewahren will, der muss das Land auf harte Jahre bei der Umverteilung von Haushaltsmitteln einstellen – eine Führungsaufgabe, die schwieriger und politisch heikler kaum sein könnte.
Im Koalitionsvertrag werden sehr wahrscheinlich viele gute Projekte aufgelistet werden. Doch die eigentliche Aufgabe der kommenden Regierung wird es sein, den Mentalitätswandel, die Zeitenwende in den Köpfen zu verankern, während man gleichzeitig aufgrund des massiv gestiegenen geopolitischen Drucks zu manch unerhörter Entscheidung gezwungen sein wird.
Es bleibt die Hoffnung, dass dies ein sich gegenseitig stützender Prozess wird, und nicht einer, bei dem die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik mal wieder an ihrer Realitätsverweigerung scheitert.
Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 18-23