Die Preise, die ich rief
Die Zahl der Hungernden steigt weltweit. So hungern nach jüngsten Schätzungen der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) heute etwa 937 Millionen Menschen. Verantwortlich für diesen Anstieg sind in erster Linie die höheren Lebensmittelpreise. Zeit für globalisierungskritische und entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen, ihre Forderungen nach höheren Weltmarktpreisen für Agrarprodukte zu überdenken.
Kampf dem Dumping
Rückblick. Seit den achtziger Jahren sieht sich die Agrar- und Handelspolitik der Industriestaaten, allen voran die der USA, heftiger Kritik durch Nichtregierungsorganisationen ausgesetzt. Zentraler Kritikpunkt war und ist, dass diese Staaten eine Überproduktion auf den heimischen Märkten fördern und die so entstehenden Überschüsse zu nicht kostendeckenden Preisen auf den Weltmarkt werfen. Durch dieses Preisdumping schaffen sie eine unfaire Konkurrenz für die Landwirte, vor allem für Kleinbauern in Entwicklungsländern. Auch Nahrungsmittelhilfe, die primär der Überschussbeseitigung dient, zeitigt ähnliche Folgen. Die durch Strukturanpassungsmaßnahmen von IWF und Weltbank sowie – in geringerem Ausmaß – durch WTO-Abkommen erzwungene Öffnung der Entwicklungsländermärkte für diese „gedumpten“ Agrarprodukte verschärft das Problem noch. Zugleich schotten die Industriestaaten ihre Märkte für wichtige Erzeugnisse ab und berauben damit die Entwicklungsländer lukrativer Absatzmärkte. Die Kombination dieser drei Faktoren trägt zu niedrigen Preisen für Lebensmittel auf den Weltmärkten und noch stärker auf den nationalen Märkten der Entwicklungsländer bei.
Aus dieser Analyse folgte die Forderung nach einer grundlegenden Reform der Agrarpolitik der Industriestaaten. Maßnahmen, die zu Überproduktion und Dumping führen, insbesondere direkt an den Export gekoppelte Subventionen, sollten abgebaut werden. Eine Förderung der Landwirtschaft in Industriestaaten sollte nur noch zulässig sein, wenn damit umwelt- und regionalpolitische Ziele verfolgt und produktionssteigernde Effekte vermieden oder zumindest kontrolliert werden – von der ökologischen Landwirtschaft über die Erhaltung landschaftlich wertvoller und artenreicher Kulturlandschaften wie Streuobstwiesen. Weitgehende Einigkeit bestand auch darin, dass Entwicklungsländer in die Lage versetzt werden müssen, ihre kleinbäuerliche Landwirtschaft gegen billige Importe schützen zu können, weshalb eine bedingungslose Marktöffnung für sie nicht angemessen ist.
Letztlich zielten die Forderungen auf ein Ende des jahrzehntelangen Trends zu sinkenden Agrarpreisen auf den Welt und den nationalen Märkten der Entwicklungsländer ab. Da die Mehrzahl der Armen und Unterernährten weltweit auf dem Land lebt und ihren Lebensunterhalt als Kleinbauern verdient, wurden höhere Preise als effektive Umverteilung zugunsten der kleinbäuerlichen und meist armen Produzenten von Grundnahrungsmitteln angesehen, und damit als wichtiger Beitrag zur Armutsbekämpfung. Die Mehrzahl der entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen plädierte zumindest implizit für eine stärkere Liberalisierung der Weltagrarmärkte: Industriestaaten sollten schädliche Eingriffe abbauen, die Kleinbauern in den Entwicklungsländern sollten durch Subventions-, Zoll- und Preispolitik gezielt geschützt und unterstützt werden.
Einen anderen Schwerpunkt setzte und setzt das Konzept der „Ernährungssouveränität“, das vom internationalen Kleinbauernverband „La Via Campesina“ propagiert wird. Die Mitglieder des Verbands, hauptsächlich Organisationen aus Entwicklungsländern, sehen gleichfalls Dumping und nicht kostendeckende Agrarpreise als zentrale Probleme an, betrachten aber auch die Orientierung an Weltmarkt und Export mit Skepsis. „La Via Campesina“ hinterfragt die Rolle von Agrarkonzernen, lehnt industrielle Methoden der Landwirtschaft ab und plädiert für eine stärkere Rolle der Politik. Ziele und Instrumente sollen an den Interessen der kleinbäuerlichen Produzenten und Konsumenten ausgerichtet werden. Autarkie in der Nahrungsproduktion wird nicht ausdrücklich propagiert, regionale Produktion und Wirtschaftskreisläufe werden aber bevorzugt.
Passt auf, was ihr euch wünscht …
Die jahrelangen Forderungen nach höheren Agrarpreisen sind seit Mitte 2007 sehr viel schneller und weitgehender als erwartet in Erfüllung gegangen. Die Weltmarktpreise für wichtige Getreidesorten haben sich innerhalb weniger Monate verdoppelt bis verdreifacht. Während über die Gründe noch kontrovers diskutiert wird, sind die ersten Auswirkungen bereits sichtbar. So hat der starke Anstieg der Lebenshaltungskosten, durch die hohen Energiepreise noch verschärft, in vielen Entwicklungsländern zu öffentlichen Protesten geführt und in Haiti sogar zum Sturz der Regierung beigetragen. Betroffen sind aber nicht nur die städtischen Konsumenten, die in der Regel politisch aktiver und einflussreicher sind als die Landbevölkerung. Auch auf dem Land richten die hohen Lebensmittelpreise großen Schaden an, etwa bei den ärmsten bäuerlichen Haushalten, deren Produktion für die Selbstversorgung oft nicht ausreicht. Diese Nettokonsumenten von Nahrungsmitteln müssen ihr Einkommen durch den Verkauf von Obst und Gemüse, Nutztieren oder Kunsthandwerk aufbessern oder zusätzlich einer Lohnarbeit nachgehen. Da die Preise und Löhne insgesamt weniger stark steigen als die Lebensmittelpreise, verschlechtert sich die Versorgungssituation dieser Haushalte. Natürlich gibt es auch Kleinbauern, die von den höheren Preisen profitieren. So verfügen Reisbauern in Westafrika über höhere Einkommen, und für Baumwollbauern, die unter subventionierten US-Exporten litten, gibt es nun mit dem Getreideanbau eine lohnende Alternative. Insgesamt scheinen die negativen Effekte aber zumindest kurzfristig zu überwiegen.
Viele Nichtregierungsorganisationen haben dieser Problematik keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Notwendigkeit, Kleinbauern zu unterstützen, war zwar regelmäßig Teil der Forderungskataloge, von Landreformen über die Ausbildung in nachhaltigeren Anbaumethoden bis hin zur Umwidmung eines Teiles der abzubauenden Agrarsubventionen der Industrieländer für Entwicklungshilfe. Im Vordergrund stand aber meist der Kampf gegen Dumping und niedrige Preise. Nun wird allerdings deutlich, dass eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen notwendig ist, damit die Mehrheit der ländlichen Armen von TOBIAS REICHERT ist Referent für Welthandel und Ernährungbei der Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch höheren Preisen profitiert und die Ärmsten zumindest nicht allzu sehr darunter leiden. Das betrifft etwa den auch auf Regierungsseite intensiv diskutierten Aufbau sozialer Netze, der direkte Transfers von Einkommen und notfalls auch von Lebensmitteln an bedürftige Haushalte ermöglicht. Die Entwicklungshilfe für die Landwirtschaft muss nicht nur erhöht, sondern auch so eingesetzt werden, dass mehr Kleinbauern von Nettokonsumenten zu Nettoproduzenten werden. Intensivierung und Produktionssteigerung müssen mit nachhaltigen Methoden erfolgen, die nicht zur Degradation von Ressourcen wie Böden und Wasser führen.All das zwingt die Nichtregierungsorganisationen, die Gewichtung ihrer Forderungen von der Handels- zur Entwicklungspolitik zu verschieben.
Neue Balance
Daneben gilt es, die handelspolitischen Positionen auf ihre Brauchbarkeit abzuklopfen. Sinnvoll bleibt die Forderung nach einer Abschaffung der Exportsubventionen. Denn sie dämpfen schnelle Preisanstiege nicht, da sie ausgesetzt werden, sobald die Weltmarktpreise über das interne Niveau des Exportlands steigen. Gehen die Preise zurück, können sie wieder eingeführt werden und verstärken so den Rückgang. Exportsubventionen erhöhen also die Instabilität auf den Weltagrarmärkten. Das führt zu Unsicherheit und verringert die Anreize, in die Landwirtschaft in Entwicklungsländern zu investieren. Dazu kommen die Exportbeschränkungen durch wichtige Produzentenländer. Hier gilt es, die richtige Balance zu finden zwischen dem legitimen Anspruch, vor einem Export die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu sichern, und den Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit in importabhängigen Ländern. Gerade Länder mit einem großen Weltmarktanteil tragen hier auch eine globale Verantwortung.
Zudem erfordern häufigere Wetterextreme mehr Katastrophenhilfe, einschließlich Nahrungsmittelhilfe. Dafür müssen ausreichend kurzfristig zu mobilisierende Lagerbestände vorhanden sein, auf die auch bei hohen Weltmarktpreisen zugegriffen werden kann. Denkbar sind hier globale und regionale Abkommen zur öffentlichen Lagerhaltung. Das Welternährungsprogramm hat jüngst entsprechende Pläne verkündet. Ob die Lagerhaltung zur Krisenreaktion auch eine Rolle bei der Stabilisierung der Weltmarktpreise spielen kann und sollte, bedarf hingegen noch intensiver Diskussion. In jedem Fall ist darüber nachzudenken, mit welchen Instrumenten starke Preisausschläge auf dem Weltmarkt gedämpft werden können. Zu fragen ist, ob sich eine weitgehende Öffnung der Industrieländermärkte für Grundnahrungsmittel durch die zusätzliche Nachfrage nicht weiter steigernd auf die Weltmarktpreise auswirken würde. Ein System, das in Industrieländern Anreize schafft, den Eigenbedarf aus eigener Produktion zu decken und zugleich effektiv verhindert, dass Überschüsse entstehen und auf den Weltmarkt gedumpt werden, hätte eine stärker stabilisierende Wirkung zur Folge.
Der dramatische Preisanstieg und die sich zwangsläufig erhöhenden Produktions- und Preisschwankungen rechtfertigen eine stärkere Intervention der Regierungen in die Märkte auch der Industriestaaten, als das viele Nichtregierungsorganisationen in der Vergangenheit gefordert haben. Aus denselben Gründen muss eine auf Ernährungssouveränität und vorwiegend regionale Versorgung ausgerichtete Strategie um starke Elemente der öffentlichen Lagerhaltung und internationalen Solidarität ergänzt werden. An der Debatte über den richtigen Politikmix sollten sich die Nichtregierungsorganisationen intensiv beteiligen.
TOBIAS REICHERT ist Referent für Welthandel und Ernährung bei der Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch.
Internationale Politik 11, November 2008, S. 65 - 67