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18. Dez. 2013

Die Ostpolitik-Illusion

Beim Umgang mit autoritären Staaten macht es sich Berlin zu leicht

Die Ostpolitik war einer der größten strategischen Erfolge der jungen Bundesrepublik. Doch ihr Ziel war nicht etwa die Transformation kommunistischer Staaten, sondern die schrittweise Wiedervereinigung. In einer wiederbelebten Form, die rein auf dem Konzept „Wandel durch Handel“ beruht, taugt sie nicht für das 21. Jahrhundert.

Bis heute hat die Ostpolitik einen bemerkenswerten Einfluss auf die deutsche Außenpolitik. Erst im Juni 2013 sprach Außenminister Guido Westerwelle an der Evangelischen Akademie in Tutzing am Starnberger See – dort, wo Egon Bahr 1963 seine berühmte Rede über den „Wandel durch Annäherung“ hielt – über die Relevanz der Ostpolitik im Zeitalter der Globalisierung. Die Ostpolitik zeige, so Westerwelle, dass Kooperation vor Konfrontation gehen müsse und dass eine „enge wirtschaftliche Vernetzung“ dazu beitragen könne, „die verbleibenden Trennlinien auf unserem Kontinent durchlässiger zu machen und zu überwinden“.1 Der Außenminister deutete an, dass diese Erkenntnis auch die 2012 formulierte Regierungsstrategie im Umgang mit aufstrebenden Mächten, das „Gestaltungsmächtekonzept“, beeinflusst habe. 

Die Ostpolitik, die als maßgeblicher westdeutscher Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges gilt und zu den größten außenpolitischen Erfolgen der Bundesrepublik zählt, prägt Deutschlands Umgang mit autoritären Mächten wie Russland und China. Das außenpolitische Establishment scheint überwiegend, um es mit Stephen F. Szabo zu sagen, aus der Ostpolitik die Lehre gezogen zu haben, dass „Dialog, Diplomatie, gegenseitiges Vertrauen und Multilateralismus im Umgang mit unnachgiebigen Widersachern die besten Methoden sind“.2

Doch ist die deutsche Außenpolitik der Gegenwart wirklich mit der Ostpolitik vergleichbar? Wie relevant ist sie in einer multipolaren und globalisierten Welt überhaupt noch? Kann ein politisches Konzept, das im Kontext der Entspannungspolitik des Kalten Krieges erdacht wurde, im Zeitalter der Globalisierung und der Machtverschiebung von West nach Ost auf aufstrebende Staaten wie China angewandt werden? Dies sind komplizierte Fragen, die in Deutschland offenbar selten gestellt werden. Stattdessen rechtfertigen deutsche Außenpolitiker mit der Ostpolitik-Rhetorik die grob vereinfachte und äußerst gewagte These, dass Handel mit autoritären Staaten beinahe automatisch zu Wandel führe. 

Ein Projekt mit nationalen Zielen

In Deutschland wird die Ostpolitik oft als idealistisches Vorhaben verstanden, wohl weil sie stets eng mit der Friedensrhetorik verbunden wurde. Dabei sollte sie mit Bezug auf die Theorien der Internationalen Beziehungen eher als ein Konzept der „realistischen“ Denkschule gesehen werden – auch wenn in diesem Fall ein halbsouveräner Staat unter den außergewöhnlichen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges operierte. Die Ostpolitik war, so Gordon Craig, eine „anti-ideologische“ Methode, die auf dem Vorsatz beruhte, die internen Charakteristika eines Staates wissentlich zu ignorieren.3 „Interessen sind noch wichtiger als Ideologie“, sagte mir Bahr, als ich ihn im Juni 2013 in Berlin interviewte: „Der Kern [der Ostpolitik] war: Wir haben nicht versucht, ideologische Fragen zu lösen.“

Die „realistische“ Dimension der Ostpolitik drückte sich vor allem in ihrem Verhältnis zu der Détente-Politik aus, die Richard Nixons Sicherheitsberater Henry Kissinger erdacht hatte. Willy Brandts Entspannungspolitik wurde erst durch Kissingers realpolitischen Politikansatz gegenüber der Sowjetunion ermöglicht und ergänzte diesen fortan. „Wenn er abgelehnt hätte, dann wäre das Ganze nicht mehr passiert“, versicherte mir Bahr. Kissinger schreibt in seinen Memoiren, dass er Bahr als einen Politiker verstand, der, so wie Bismarck, „versuchte, die zentrale Lage Deutschlands zur Umsetzung nationaler Ziele zu nutzen“.4 Timothy Garton Ash charakterisiert Bahr und Kissinger als „die zwei Metternichs der Détente“ – in anderen Worten: als Realisten.5

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, sich die Ziele der Ostpolitik in Erinnerung zu rufen. Bahr hatte nicht vor, die Sowjetunion zu transformieren: „Ich bin nicht nach Moskau gefahren, um aus Kommunisten Demokraten zu machen.“ Vielmehr ging es darum, wie er es erstmals in seiner Tutzinger Rede erläuterte, die deutsche Wiedervereinigung als Endprodukt einer langen Reihe „kleiner Schritte“ zu erreichen. Bahr wollte die deutsche Teilung überwinden, indem er sie anerkannte. „Innerdeutsches Judo“ nennt er diese Strategie in seinen Memoiren.6 Obwohl er die Wiedervereinigung für einen langwierigen Prozess hielt, der sich nur mit der Zustimmung anderer Mächte und friedlichen Mitteln umsetzen ließe, handelte es sich bei der Ostpolitik zumindest für Bahr um ein nationales Projekt. Für Kissinger stand ohnehin außer Frage, dass es sich bei Bahr um einen „deutschen Nationalisten“ handelte.7

Bis heute wird lebhaft über die tatsächlichen Erfolge der Ostpolitik debattiert. In seiner Rede in Tutzing erklärte Außenminister Westerwelle, dass sie „die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht“ habe. Doch die Aufrüstung hat beim Ende des Kalten Krieges auch eine Rolle gespielt. Und Kritiker argumentieren außerdem, dass die „realistische“ Strategie, die mit der Ostpolitik begann, unter einem, wie Heinrich August Winkler es kürzlich nannte, „normativen Defizit“ litt.8 In der „zweiten Phase“ der Ostpolitik in den späten siebziger und den achtziger Jahren entwickelten westdeutsche Politiker, vor allem Sozialdemokraten, enge Beziehungen zu kommunistischen Regimen und sahen Demokratiebewegungen, wie zum Beispiel Solidarno´s´c in Polen, als Gefahr für die Stabilität in Europa. Bundespräsident Joachim Gauck sprach in einer Rede im April davon, dass sich „Deutschland und andere westeuropäische Länder mit der offenen Benennung von Menschenrechtsverletzungen im Osten Europas“ schwer täten, „weil sie damit den ‚Wandel durch Annäherung‘ gefährdet sahen“.9

Wirtschaftliche Abhängigkeiten

Unabhängig von ihren Erfolgen wurde die Ostpolitik in einer außergewöhnlichen geopolitischen Situation formuliert. Vor Beginn der Détente war das Handelsvolumen zwischen Ost und West minimal. Die Sowjetunion benötigte Einkünfte in harten Währungen, und so konnte der Westen, allen voran die Vereinigten Staaten und Westdeutschland, den Handel als Druckmittel benutzen, um Zugeständnisse in anderen Bereichen einzufordern, zum Beispiel in Sicherheits- oder Menschenrechtsfragen. Die heutige Situation ist grundlegend anders. Die durch die Globalisierung geschaffenen wirtschaftlichen Abhängigkeiten haben die Beziehungen zwischen autoritären Mächten und dem Westen verändert. Sogar Staaten, die auf dem ideologischen Spektrum weit auseinanderliegen, betreiben heute intensiven Handel miteinander.

Das beste Beispiel ist China. In den vergangenen 30 Jahren, also seit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes, war China sehr erfolgreich darin, wirtschaftliche Liberalisierung mit einem autoritären Regierungssystem zu vereinen. Mithilfe von Exporten in den Westen hat das Land einen riesigen Leistungsbilanzüberschuss erwirtschaftet und verfügt über 3,3 Billionen Dollar in Währungsreserven – schätzungsweise zwei Drittel in Dollar, ein Viertel in Euro. Mit anderen Worten: In China herrscht kein Devisenmangel. Das Land braucht Technologie, aber nicht so sehr, wie Deutschland den chinesischen Markt braucht. Es ist also nur schwer vorstellbar, dass Berlin den Handel mit China als Druckmittel zur politischen Liberalisierung nutzen könnte.

Die Idee, dass die Ostpolitik als Modell für die deutsche Außenpolitik der Gegenwart taugt, basiert also auf falschen Prämissen: Erstens zielte die Ostpolitik darauf ab, Deutschland wiederzuvereinigen – dies ist bereits geschehen. Zweitens war sie nie dazu gedacht, die Sowjetunion zu transformieren. Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass eine ähnliche politische Strategie heute China und Russland verändern könnte. Drittens hat sich die geopolitische Lage stark verändert. Handelsbeziehungen können heute nicht mehr instrumentalisiert werden, um politischen Druck auszuüben. 

Geist der Ostpolitik

Obwohl deutsche Politiker wie Westerwelle nicht müde werden, den Geist der Ostpolitik zu beschwören, unterscheiden sich ihre Strategien im Umgang mit autoritären Staaten doch deutlich von den Methoden Brandts und Bahrs. Es scheint eher so, als würden deutsche Außenpolitiker das Konzept der Ostpolitik immer weiter verzerren, um es der heutigen außenpolitischen Landschaft anzupassen. Bahr wollte die Beziehungen zur Sowjetunion durch das Knüpfen „politischer und kultureller Bande zwischen West- und Ostdeutschland“ entspannen. Doch „Annäherung“ wird in der heutigen deutschen Außenpolitik auf Handelsbeziehungen reduziert. Aus „Wandel durch Annäherung“ ist „Wandel durch Handel“ geworden.

Diese Strategie ist auf Gerhard Schröder zurückzuführen, der, wie in seinen Memoiren beschrieben, hoffte, dass „wirtschaftlicher Austausch“ zu „sozialem Wandel“ führen würde.10  Zeugnis dieser Überzeugung waren Schröders alljährlichen Besuche in China, bei denen er mit Vertretern der Wirtschaft versuchte, die deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen zu vertiefen und den so genannten Rechtsstaatsdialog anzustoßen – ein Versuch, die westlichen „Belehrungen“ Chinas in Menschenrechtsfragen durch einen Dialog zu ersetzen, der sich auf Fragen der öffentlichen Verwaltung konzentrierte; Fragen also, bei denen China ein wirtschaftliches Interesse hatte, von westlichen Erfahrungen zu lernen. Dieser Ansatz unterscheidet sich jedoch deutlich von der Strategie, Handelsbeziehungen als Hebel beispielsweise bei Menschenrechtsfragen einzusetzen. Tatsächlich wird Handel überhaupt nicht mehr als Druckmittel gedacht. Vielmehr geht man davon aus, dass Handel per Definition transformativ sei.

Deutsche Politiker scheinen zu glauben, dass sie durch florierende Handelsbeziehungen zu Staaten wie China Demokratieförderung betreiben. Nicht nur sehen sie keinen Widerspruch zwischen ihren Werten und ihren ökonomischen Interessen. Sie gehen sogar davon aus, dass es keiner anderen Anstrengung bedarf, als Handel zu treiben und abzuwarten, bis sich demokratische Grundsätze schrittweise durchsetzen – ganz so, wie es Westerwelle in seiner Rede in Tutzing ausführte: „Wenn wir im Ausland für deutsche Wirtschaftsinteressen eintreten, dann können verantwortlich investierende deutsche Unternehmen als Mikrokosmos westlicher Werte ein Beispiel setzen. Sie bringen Wohlstandsgewinne und setzen Standards in Schwellenländern. Sie fördern so das Entstehen einer selbstbewussten Mittelschicht, die Rechtsstaatlichkeit und politische Teilhabe einfordert.“ Kurz gesagt bedeutet das wohl: Der Vorsatz, Geschäfte zu machen, schließt den Vorsatz, Gutes zu tun, nicht aus, im Gegenteil – beide Vorsätze stehen im perfekten Einklang. 

Mit dieser Hoffnung stand Deutschland nicht allein. Der so genannten Modernisierungstheorie folgend glaubte man auch anderswo lange, dass wirtschaftliche Integration in Ländern wie China automatisch zu sukzessiver Demokratisierung führen würde. Doch der chinesische Autoritarismus hat sich als ausgesprochen widerstandsfähig entpuppt, und mittlerweile sorgt man sich sogar darum, dass China sein autoritäres Regierungsmodell in Form des „Peking-Konsens“ exportiert. Auch bestand die Hoffnung, dass China durch wachsende wirtschaftliche Abhängigkeiten zu einem Verfechter der liberalen Weltordnung werden würde – zu einem „verantwortungsvollen Teilnehmer“, wie es der ehemalige US-Handelsvertreter und Weltbankpräsident Robert Zoellick nannte. Doch auch diese Hoffnung wurde in den vergangenen Jahren enttäuscht. China verfolgte eine immer aggressivere Außenpolitik und überwarf sich mit beinahe allen seinen Nachbarn. Die Vereinigten Staaten fahren nun eine härtere Linie, die auf den Prinzipien des Engagements und der Balance beruht. Darum geht es im Kern bei der „Hinwendung nach Asien“.

Konzept ohne rote Linien

Im deutschen Denken und besonders im Gestaltungsmächtekonzept spiegeln sich nur wenige Elemente der neuen US-Strategie wider. Die Idee, die dem deutschen Konzept zugrunde liegt, ist, dass kooperative bilaterale Beziehungen zu „Mächten, die Globalisierung gestalten“ wie die BRICS-Staaten und die „Next 11“, als eine Art Sprungbrett für die Stärkung der Weltordnungspolitik fungieren. Es legt nahe, dass Deutschland mit allen aufsteigenden Mächten, ob demokratisch oder autoritär, kooperieren sollte. Was zu tun ist, wenn die Gestaltungsmächte nicht kooperieren wollen, um Globalisierung so zu gestalten, wie Deutschland und andere westliche Mächte sich das wünschen, dazu finden sich nur wenige Ratschläge. Das Gestaltungsmächtekonzept ist ein Konzept ohne rote Linien.

Wie schon an anderer Stelle argumentiert, wird die deutsche Außenpolitik immer mehr von wirtschaftlichen statt strategischen Interessen geleitet.11 Seit die deutsche Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren abhängiger denn je von Exporten geworden ist – mittlerweile beträgt die Exportquote 47 Prozent –, orientiert sich Berlin mehr und mehr an den Interessen der Exporteure. Vor diesem Hintergrund ist die Ostpolitik für deutsche Politiker ein verlockendes Konzept. Es erlaubt ihnen, deutsche Exporte zu fördern und gleichzeitig vorzugeben, dass dies einem höheren Zweck, der Demokratisierung, diene. Dies lässt sich außerordentlich gut mit Deutschlands Identität als „Zivilmacht“ vereinen. Tatsächlich bietet der Slogan „Wandel durch Handel“ jedoch lediglich ein (falsches) Alibi für eine „Business-as-usual“-Politik, die unter fast allen Umständen verfolgt wird.

In der neuen Regierung mit einem SPD-geführten Auswärtigen Amt dürfte der Einfluss von „Ostpolitik-Rhetorik“ weiter wachsen. Doch die Verweise sind nicht förderlich, ja irreführend. Die Politik, die Brandt und Bahr in den siebziger Jahren verfolgten, ist keine Anleitung für den Umgang mit den aufstrebenden Staaten der Gegenwart. Deutsche Politiker sollten die Ostpolitik vergessen und sich stattdessen mit den komplexen Fragen auseinandersetzen, die die Welt des 21. Jahrhunderts aufwirft: Wie können westliche Mächte ihren Werten in einer Welt Geltung verschaffen, in der sich das Machtgefüge von West nach Ost verschiebt? Und welche Optionen bleiben, wenn Mächte wie China und Russland nicht zur Lösung globaler Probleme beitragen?

Hans Kundnani ist Research Director des European Council on Foreign Relations (ECFR) in London.

  • 1„Ostpolitik im Zeitalter der Globalisierung“, Rede von Außenminister Guido Westerwelle vor dem Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing, 29.6.2013.
  • 2Stephen F. Szabo: Can Berlin and Washington Agree on Russia?, Washington Quarterly 4/2009, S. 23–41.
  • 3Gordon A. Craig: Did Ostpolitik Work?, Foreign Affairs 1/1994, S.166.
  • 4Henry Kissinger: Years of Upheaval, Boston 1982, S. 147.
  • 5Timothy Garton Ash: In Europe’s Name. Germany and the Divided Continent, London 1993, S. 75.
  • 6 Egon Bahr: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 156.
  • 7Kissinger: Years of Upheaval, a.a.O. (Anm. 4), S. 147.
  • 8Heinrich August Winkler: Macht, Moral und Menschenrechte. Über Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik, Internationale Politik 4/2013, S. 116–127.
  • 9Rede von Bundespräsident Joachim Gauck vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, 22.4.2013.
  • 10Gerhard Schröder: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2006, S. 141.
  • 11Hans Kundnani: Paradoxon Deutschland, IP 6/2011, S. 62–67.
Bibliografische Angaben

Online Exclusive: Preview IP 1/2014

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