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01. Febr. 2006

Die neue OPEC

Wie Russland zur globalen Energie-Supermacht werden will

Enttäuscht vom Westen, wendet sich Moskau dem asiatischen Raum zu und schmiedet neue geostrategische Allianzen. Dabei setzt der Kreml Russlands riesige Energieressourcen gezielt als Instrument ein, um die verlorene Weltmachtstellung wieder zu erobern. Europa und der Westen müssen diese geopolitische Herausforderung sehr ernst nehmen.

Russlands Präsident Wladimir Putin verfolgt zwei große außenpolitische Ziele. Er möchte sein Land wieder als Großmacht auf der weltpolitischen Bühne verankern. Während die kommunistischen Führer die Sowjetunion Mitte des letzten Jahrhunderts über das Militär zur zweiten Supermacht der Erde hochrüsteten, glaubt Putin, Russland im 21. Jahrhundert über die Energieschiene aufrichten zu können. Der Energiekonzern Gasprom wird zusehends zu einem politischen Instrument der gegenwärtigen Kremlführung bei der Durchsetzung ihrer ambitionierten Ziele. Gleichzeitig verfolgt Putin jedoch ein zweites strategisches Ziel, nämlich die Integration Russlands in die globale Weltwirtschaft. Im Jahr 2007 soll Russlands Beitritt zur WTO erfolgen. Um hier Erfolg zu haben, muss Russland allerdings noch einen langwierigen Modernisierungsprozess durchlaufen, der letztendlich mit einer politischen und wirtschaftlichen Liberalisierung verbunden werden muss.

Pünktlich zu Beginn des Jahres 2006 hat Russland den Vorsitz im Club der führenden Industriestaaten der Welt, der G-8, übernommen. Dies war der lang ersehnte Moment, auf den die Kremlführung in den vergangenen Jahren gewartet hat. Dank der günstigen Konjunktur und Preisentwicklung auf dem Energieweltmarkt kann Russland sich als die neue Energie-Supermacht des beginnenden 21. Jahrhunderts präsentieren. In Moskau glaubt man die Kraft zu haben, sowohl die Energiemärkte der EU als auch Asiens an die wachsende russische Exportwirtschaft anzukoppeln. Ob Russland dadurch Großmachtansprüche wirklich stellen kann, wird im Westen allerdings bezweifelt. Experten sehen in einem reinen Rohstoffimperium, als das sich Russland heute darstellt, noch lange keinen internationalen Akteur mit globaler Gestaltungskraft. Auch bemängeln Kritiker gravierende demokratische Defizite in Russland, die eine wirkliche Modernisierung des Riesenlands nach westlichem Vorbild behindern. Trotz größter Bemühungen ist Russland immer noch nicht in die internationale Wirtschaft integriert, es ist weder ein vollwertiges Mitglied der G-8 noch ist das Land der WTO beigetreten.

Das Ende der Schwächeperiode

Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Russland in der sich nach dem 11. September 2001 neu formierenden Weltordnung eine stärkere Rolle zuteil wird, als dies in den neunziger Jahren vermutet werden konnte. Nach einer zehnjährigen Schwächeperiode, die Historiker einmal als Epoche charakterisieren werden, in der Russland „am Tropf des Westens hing“, hat sich das Land in den ersten fünf Jahren des neuen Jahrhunderts erstaunlich schnell regeneriert und politisch konsolidiert. Die Auslandsschulden sind fast abbezahlt. Die alten Abhängigkeiten Russlands vom Westen glaubt Moskau angesichts der steigenden geopolitischen und wirtschaftlichen Bedeutung von Erdöl und Erdgas jetzt sogar umkehren zu können. Manche Experten gehen davon aus, dass fossile Energieträger und ihr Transport auf die Weltmärkte zum alles dominierenden Faktor der Weltpolitik der nächsten Jahre werden. Folglich hat Russland in der Tat eine historische Chance, 15 bis 20 Jahre nach dem Verlust seines Imperiums dieses auf andere Art und Weise wieder zu errichten. Dafür muss Russland allerdings die verlorenen Teile des ehemaligen sowjetischen Energiekomplexes wieder aufsammeln. Ohne die anderen Rohstoffgiganten Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan kann Russland keine Energie-Supermacht werden. An ein Zusammenschweißen der zerbrochenen Sowjetunion ist nicht zu denken, also muss Moskau versuchen, mit den genannten ehemaligen Sowjetrepubliken einen energiepolitischen Verbund einzugehen – eine neue OPEC.

Ressourcen, die die Weltwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten dringend benötigen wird, besitzt Russland in Hülle und Fülle. Und sie liegen näher an der Haustür der westlichen und asiatischen Industriestaaten als die Energievorräte der Staaten des Mittleren Ostens, Afrikas oder Lateinamerikas. In Russland lagern 30 Prozent aller bekannten Gasreserven. Turkmenistan und Usbekistan besitzen zehn Prozent und der südliche Nachbarstaat Iran besitzt 20 Prozent aller Gasreserven der Welt. Nicht umsonst versucht Russland, eine strategische Partnerschaft mit dem Iran zu begründen. Russland, Zentralasien und der Iran hätten rund zwei Drittel aller Gasreserven unter ihrer Kontrolle und könnten durchaus ein mächtiges Gaskartell begründen, das von seiner Bedeutung her der herkömmlichen OPEC, deren Mitgliedsstaaten 40 Prozent der Weltölreserven kontrollieren, gleichwertig wäre.

Skeptiker führen gegen die Etablierung Russlands als künftige Energie-Supermacht an, dass der russische Öl- und Gasexport in zehn Jahren durch die steigende Binnennachfrage einer rasant wachsenden Wirtschaft dramatisch reduziert wird, alte russische Förderanlagen zusammenbrechen würden und die Transportinfrastruktur in miserablem Zustand sei. Außerdem würde die EU ihren Gasimport bald auf LNG (Flüssiggas) umgestellt und aus Angst vor einem unberechenbaren Russland seine Energieimporte radikal diversifiziert haben. Kurzum: Der Westen brauche überhaupt kein russisches Gas.

Andere Experten können über solche Schlussfolgerungen nur den Kopf schütteln. In den nächsten Jahren wird Russland zum Hauptenergieexporteur für China und andere asiatische Tigerstaaten aufsteigen. Die asiatische Nachfrage nach russischen Energieträgern übersteigt die europäische um ein Vielfaches. Das Riesenreich China importiert heute schon 50 Prozent seines Energiebedarfs, der in den letzten zwei Jahren um 25 Prozent anwuchs. Bislang exportieren Russland und die zentralasiatischen Länder Öl nach China per Eisenbahn. Man muss sich nur vorstellen, welchen Exportboom die Verlegung von Pipelines Richtung China bewirken wird.

Die Einnahmen aus dem Energiegeschäft der letzten sechs Jahre haben in Russland und Zentralasien alle Erwartungen weit übertroffen. In fünf Jahren wurde mit 50 Milliarden Dollar an Rücklagen ein Stabilitätsfond gebildet, aus dem Projekte von „strategischem nationalem Interesse“ bezahlt werden sollen. Die russischen Ölkonzerne verbuchten im letzten Jahr eine siebenfache Ertragssteigerung: Ihr Umsatz kletterte von vier Milliarden Dollar im Jahr 2004 auf 27 Milliarden Dollar 2005. In Kasachstan wurde eine moderne eurasische Metropolis, Astana, mit Petrodollars in der Steppe errichtet.

Experten vermuten weitere riesige Energievorkommen in großen Teilen Sibiriens. Diese asiatische Hälfte Russlands ist bislang nur zu einem Zehntel geologisch erforscht worden. Im russischen Teil des Kaspischen Meeres hat die Ölförderung noch gar nicht richtig begonnen. Auch dort könnten Ölvorkommen von gleichem Ausmaß wie in Kasachstan gefunden werden. Moskau sieht sich im Besitz riesiger strategischer Öl- und Gasreserven, die es dann dem Weltmarkt zuführen möchte, wenn anderswo auf der Erde die Energiequellen nicht mehr sprudeln und die Weltmarktpreise so hoch werden, dass sich das Fördern in klimatisch schwer zugänglichen Regionen, wie beispielsweise in der Arktis, wirtschaftlich lohnen wird. Der russische Reichtum an Bodenschätzen wird heute auf 40 Trillionen Dollar geschätzt, sechsmal größer als der des übrigen Europas.

Wo liegt der Unterschied zwischen einem Rohstoffimperium Russland und Saudi-Arabien? Anders als bei den arabischen OPEC-Staaten wird die russische Politik von geopolitischen Überlegungen geleitet. Als der frühere russische Außenminister Ewgenij Primakow Mitte der neunziger Jahre aus Enttäuschung über den Westen von einer Umorientierung Russlands nach Asien sprach und einer „Achse“ Moskau–Peking–Neu Delhi das Wort redete, wurde er nur milde belächelt. Heute ist diese „Achse“ Realität: Russland, China und die Staaten Zentralasiens haben ein strategisches Bündnis geschlossen und sich in der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Coopera-tion Organization, SCO) zu einem Gegenpol zur Weltmacht USA vereinigt. Indien, Pakistan, die Mongolei und der Iran sind dieser Organisation als Beobachter beigetreten.

Geopolitische Umwälzungen

Die EU, die heute wenig Interesse an einer politischen und wirtschaftlichen Verkopplung mit Russland verspürt und Russlands Integration mit asiatischen Mächten nicht ernst nimmt, gerät in Gefahr, die vor ihren Augen stattfindenden geopolitischen Umwälzungen zu verschlafen. Aufgrund der generell steigenden Energieabhängigkeit westlicher Staaten wird die machtpolitische Bedeutung Moskaus eher zunehmen. Das plötzliche Entstehen einer von Russland dominierten Gas-OPEC könnte den Westen in einer Zeit, wo bald vielleicht kriegerische Auseinandersetzungen um Rohstoffe geführt werden, kalt erwischen.  

Nach heutigen Schätzungen werden die russischen Fördermengen, wenn sie nicht drastisch gesteigert werden, nicht ausreichen, um gleichzeitig Europa und Asien mit den notwendigen Mengen an Öl und Gas zu beliefern. Deshalb wird es von strategischer Bedeutung sein, wer vom Ausland her den erforderlichen Technologie- und Kapitaltransfer nach Russland leistet, um den russischen Energiesektor zu modernisieren. Diese Konzerne hätten dann die besseren Karten für die Zukunft. Die benötigte Investitionssumme für die nächsten zehn Jahre beläuft sich auf 85 Milliarden Euro. Russland kann sie selbst nicht aufbringen. Im Westen beginnt man zu verstehen, dass sich Russland bald als ein unersetzlicher strategischer Partner in Fragen der Energie-sicherheit positionieren könnte. Spätestens 2015 wird Russland als weltgrößter Energielieferant neben Saudi-Arabien die Weltmarktpreise unmittelbar bestimmen. Dann könnte die EU sogar mit den USA und Asien um die Energiepartnerschaft mit Russland konkurrieren müssen.

Das gegenwärtige Russland träumt nicht nur von einem Wiederaufstieg zur Weltmacht; es glaubt diese Entwicklung auch mit eigenen Mitteln erfolgreich vollenden zu können. Die Idee, die Energiewirtschaft zur Stärkung des Staates zu instrumentalisieren, ist keine Erfindung Putins. Kaum ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der Gründer von Gasprom und russische Energieminister, Viktor Tschernomyrdin, zum Regierungschef ernannt. Er blieb auf diesem Posten bis 1998, als er vom nächsten Energieminister, Sergej Kirijenko, abgelöst wurde. Heute gehört der Chef des Aufsichtsrats von Gasprom, Dmitrij Medwedew, zu den mächtigsten Politikern im Kreml. Er gilt als einer der wahrscheinlicheren Kandidaten für die Nachfolge Putins.

Russlands Elite schöpft ihre Macht und ihren Reichtum aus der Energiewirtschaft. Das war schon unter Boris Jelzin so. Das in den neunziger Jahren so mächtige Oligarchensystem stützte sich ebenfalls darauf. Nur fungierten Konzerne wie Gasprom dort wie ein Selbstbedienungsladen. Einzelne Finanzclans verdienten sich am Energiegeschäft eine goldene Nase, während der auf Exporteinnahmen angewiesene Staat buchstäblich in die Röhre schaute. Die Entmachtung der Ölbarone Michail Chodorkowskij, Boris Beresowskij und Roman Abramowitsch war für Putin die vielleicht letzte Chance, die Instrumente für die Gesundung Russlands wieder unter die Kontrolle des Staates zu bringen.

Im Fall von Jukos ging es um nichts anderes als um politische Macht. Putin funktionierte den Energiesektor, der 40 Prozent der staatlichen Steuereinnahmen, 55 Prozent der Exportgewinne und 20 Prozent der russischen Wirtschaft ausmacht, zum wichtigsten Bestandteil nationaler staatlicher Interessen um. Der Staat konnte nicht mehr zulassen, dass dieser Sektor, von dem der Wiederaufstieg Russlands abhing, von Partikularinteressen profitsüchtiger Oligarchen beherrscht oder unter die Kontrolle von ausländischen Unternehmen geriet. Putin bot den Oligarchen einen Deal an: Sie durften ihre Finanzimperien behalten, solange sie sich nicht in die Politik einmischten. Die in den neunziger Jahren privatisierten Ölkonzerne wurden nicht verstaatlicht, aber in ein neues Regelwerk des Kremls eingeordnet.

Chodorkowskij wollte sich den Spielregeln nicht unterordnen. Als der Staat 2002 seine Kontrolle über die Exportgeschäfte der privaten Ölkonzerne verschärfte und, anders als in den neunziger Jahren, die Exporttarife erhöhte, um Mehreinnahmen aus dem lukrativen Ölverkauf der Staatskasse zuzuführen, nutzte Chodorkowskij die alten Schlupflöcher, um sich der Steuerzahlung zu entziehen. Darüber hinaus versuchte er über Mittelsmänner in der Regierung das staatliche Pipelinemonopol auszuhebeln und eigene Ölleitungen nach China zu legen. Auch streckte er seine Fühler Richtung Gasprom aus. Als er schließlich laut darüber nachdachte, Jukos an einen amerikanischen Ölkonzern zu verkaufen und sich mit dem Reingewinn von 40 Milliarden Dollar in die Politik einzukaufen, zog der Kreml die Notbremse.

Was der Kreml an den Tag legte, hatte mit Demokratie und westlichem Rechtsverständnis wenig zu tun. Doch die Jukos-Affäre illustrierte wie kein anderes Beispiel die Bedeutung von Energie für die Machtpolitik im postkommunistischen Russland. Mit der Konzentration großer strategischer Energiezweige in seinen Händen hätte Chodorkowskij durchaus Präsident werden können. Den Machtkampf entschied der Kreml aber für sich. Jukos wurde zerstückelt, die Tochterfirma Juganskneftegas an die staatliche Ölfirma Rosneft veräußert. Die zweite große private Ölgesellschaft, Sibneft, wurde von ihrem Eigentümer Abramowitsch ohne großes Aufsehen an Gasprom verkauft. Der nächste Schritt wird die Verschmelzung von Rosneft und Gasprom zu einem Riesenkonzern sein, der die nationale Gas- und Ölwirtschaft unter einem Kommando vereint.

Der neue Energiegigant wird auf den globalen Märkten agieren und zum Hauptinstrument russischer Großmachtinteressen aufsteigen. Gasprom und der Ölkonzern Lukoil sind inzwischen schon zu globalen transnationalen Akteuren geworden. Sie sichern sich Förderrechte und Verkaufsrechte auf allen größeren regionalen Energiemärkten, zuletzt in Venezuela. 

Neben der Konzentration der Energieressourcen und -förderung in einer staatlichen Hand ist die Kontrolle der Transport- und Transitwege das zweite entscheidende Instrument für die Verwirklichung der hochgesteckten Ziele der russischen Führung. Während die russische Ölindustrie zum großen Teil privatisiert worden ist, befinden sich die Ölpipelines bis heute in staatlicher Obhut. Die Gaspipelines sind ebenfalls ausschließlich in staatlichem Besitz.

Kampf um Pipelines

Russland kann, wie gesagt, seine Ambitionen, Energie-Supermacht zu werden, nur im engen strategischen Bündnis mit den anderen rohstoffreichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan – realisieren. Die zentralasiatischen Staaten wollen jedoch keine Abstriche an ihrer Souveränität akzeptieren. Sie sind, anders als Weißrussland und Armenien, nicht von russischen Energielieferungen abhängig. Moskau besitzt kaum Druckmittel, um sie zu „disziplinieren“ oder an sich zu binden. Deshalb konzentriert sich die Kremlpolitik in der Region Zentralasien hauptsächlich darauf, alternative Pipelineprojekte, die das russische Territorium umgehen könnten, zu blockieren und ihren Bau zu verhindern.

Durch langjährige Lieferverträge mit den zentralasiatischen Staaten hat Moskau einstweilen sichergestellt, dass vor allem turkmenische Gasexporte 25 Jahre lang ausschließlich über russische Pipelinenetze transportiert werden. Russland versucht heute gezielt, die zentralasiatischen Staaten in gemeinsame Lieferverträge gegenüber Drittstaaten einzubinden und auf eine einheitliche Preispolitik zu verpflichten. Dies gelingt nicht immer. Im Gaskonflikt zwischen Moskau und Kiew schaffte es die Ukraine Anfang 2006, das russische Gaskartell zu durchbrechen und Gaslieferungen aus Turkmenistan zu einem billigeren Sondertarif zu beziehen. Langfristig wird auch Kasachstan, wo die größten Erdölfunde der letzten 30 Jahre vermutet werden, sein Öl nicht mehr ausschließlich über russisches Territorium transportieren, sondern Pipelines direkt nach China oder über das Kaspische Meer in den Kaukasus bauen. Früher oder später wird auch Turkmenistan sein Gas über den Iran oder über Afghanistan Richtung Pakistan und Indien transportieren. Bis diese Situation eintritt, hofft Moskau jedoch, diese Länder wieder in einem gemeinsamen Bündnis zu integrieren – der neuen OPEC.

Die USA und die EU haben in den vergangenen Jahren versucht, die Transportstruktur im postsowjetischen Raum, die von der Sowjetunion absichtlich so angelegt wurde, dass die Hauptenergieströme fast ausschließlich über russisches Territorium liefen, durch parallele Alternativleitungen von Ost nach West zu flankieren. In den neunziger Jahren sprachen Experten gerne von einer „neuen Seidenstraße“, die Europa mit Asien über den Kaspischen Raum verbinden sollte. Das ambitionierte EU-Projekt Inogate scheiterte bislang an der fehlenden finanziellen Umsetzung.

Ende der neunziger Jahre und letztes Jahr wurden mit den Ölpipelines Baku–Batumi und Baku–Tbilissi–Ceyhan Voraussetzungen geschaffen, damit kaspisches Öl an die georgische Schwarzmeer- und türkische Mittelmeer-Küste transportiert und das russische Pipelinemonopol im Südkaukasus aufgeweicht werden konnte. Der Tschetschenien-Krieg hatte ebenfalls zur Folge, dass Russland von seinem ehemaligen Einflussgebiet im Süden mehr und mehr abgeschnitten wurde.

Für die russische Exportpolitik Richtung Westen spielt allerdings weniger das Rohöl als das Erdgas die entscheidende strategische Rolle. Im Gasbereich setzt Moskau alle Hebel in Bewegung, um seine Machtposition gegenüber westlicher Konkurrenz zu behaupten. Internationale Konzerne planten, parallel zur Ölpipeline Baku–Ceyhan, eine Gasleitung in die Türkei zu verlegen, welche die künftige Belieferung europäischer Märkte mit Erdgas aus Aserbaidschan und Zentralasien sicherstellen sollte. Mit dem Bau einer Gasleitung auf dem Grund des Schwarzen Meeres von Russland in die Türkei vermochte Gasprom westlichen Absichten zuvorzukommen und den türkischen Gasmarkt erst einmal für sich zu gewinnen. Doch der Kampf um die Türkei als strategisches Transitland für russisches oder kaspisches Gas ist noch lange nicht zu Ende. Um Ankara noch fester an sich zu binden, entwickelt Gasprom neue Pläne, russisches Gas über die Türkei nach Syrien und Israel zu transportieren.

Die Debatte über den Bau der umstrittenen Ostsee-Pipeline und der Gaskonflikt mit dem Transitland Ukraine verdeutlichen einmal mehr das Ansinnen Russlands, seine neue Stärke und die Abhängigkeiten anderer Märkte von russischen Energieträgern geopolitisch auszuspielen. Als Staaten wie die Ukraine und Georgien nach ihren „bunten Revolutionen“ 2003/04 einen radikalen Weg Richtung Westintegration einschlugen, die GUS zu schwächen versuchten und eine alternative Energieallianz mit dem Westen und Zentral-asien in Ausgrenzung Russlands zu planen begannen, griff Moskau zu seinem wirksamsten Machtinstrument, das es sogar während des Kalten Krieges niemals angerührt hatte: dem Gashahn. Mit dem von Gerhard Schröder geführten Deutschland wurde 2004/05 der Bau der Ostsee-Pipeline, die die bisherigen Transitländer für russisches Gas nach Westen vom künftigen Energiegeschäft ausschließen sollte, realisiert. Gasprom forderte nun von den westorientierten GUS-Staaten für seine Gaslieferungen Weltmarktpreise, die diese nicht bezahlen konnten. Alle GUS-Staaten hatten in den vergangenen 15 Jahren Energie aus Russland zu den alten sowjetischen Freundschaftspreisen erhalten, mussten sich aber gegenüber Moskau politisch loyal verhalten. Jetzt meint Moskau, dass die Alimentierung der Nachfolgerepubliken der ehemaligen Sowjetunion Russland keine politischen Vorteile mehr bringt.  

Ebenso deutlich kommt Russlands Pipelinepolitik auf dem asiatischen Kontinent zum Tragen. China und Japan möchten in den nächsten Jahrzehnten mit Energieträgern aus Sibirien versorgt werden. Beide Länder buhlen förmlich in Moskau um den Ausbau der Transportinfrastruktur. In den letzten 30 Jahren hat sich Russland mehr auf den Energiemarkt Europas konzentriert. Dementsprechend verlaufen heute strategische Öl- und Gaspipelines aus Russland nach Westen, nicht nach Asien. Da nach Ansicht zahlreicher Experten aber in einem Jahrzehnt Asien Europa als Hauptabnehmer für russische Energieträger weit überholen wird, muss Moskau in aller Eile die notwendigen technischen Voraussetzungen für die Energieallianz mit Asien schaffen.

Zunächst gab es in Moskau heftigen Streit darüber, ob die Hauptversorgungspipelines Richtung Asien nach China oder Japan gelegt werden sollten. Der Bau der Pipeline nach China hätte diesen Staat zum wichtigsten Transitland und Hauptverteiler für russisches Erdgas und Erdöl auf dem asiatischen Kontinent gemacht. Diesen Preis wollte der Kreml einfach nicht bezahlen, daher entschied er sich zunächst für den Bau der ersten Pipeline nach Nachodka, an die Pazifische Küste. Dort sollen künftig russische Energieträger von einem russischen Terminal aus nach Japan und in andere asiatische Länder weitergeleitet werden. Russland wird somit die Kontrolle über die Energieströme auf die asiatischen Märkte so weit wie möglich in eigener Hand behalten. Diesem Ziel dienen auch die gegenwärtigen Bestrebungen Moskaus, sich in den Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) zu integrieren. Putin reist heute häufiger nach Asien als nach Europa.

Die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit

Die seit gut einem Jahrzehnt bestehende Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SCO) könnte ein wichtiges Vehikel für die Entstehung der neuen OPEC werden. Innerhalb dieser Institution treffen sich die Interessen der Großmächte Russland, China und Indien mit denen von Regionalmächten wie Kasachstan, Pakistan oder Iran. Mehr noch: die SCO bündelt inzwischen die Interessen von vier regionalen Wirtschaftsbündnissen, die in den neunziger Jahren gegründet wurden: Die Zentralasiatische Organisation für Zusammenarbeit, der Eurasische Rat für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, die ECO (Economic Cooperation Organisation) – eine von Pakistan, Iran und der Türkei mit Zentralasiatischen Staaten gegründete Interessengemeinschaft – sowie Teile der GUS könnten bald in der SCO vereint werden.

Was alle diese Länder eint, ist der Faktor Energie. Russland und Kasach-stan bieten China, Indien, Pakistan und anderen potenziellen Beitrittsländern (Türkei) eine sichere und weitreichende Versorgung mit den notwendigen Rohstoffen an. Der 11. September 2001 hat der SCO den notwendigen sicherheitspolitischen Schub gegeben. Nachdem die Belieferung der Weltmärkte mit Energieträgern aus den Ländern des Persischen Golfes und der alten OPEC durch die steigende Gefahr des islamistischen Terrorismus unsicherer geworden ist, präsentiert sich die neue OPEC um Russland und den Kaspischen Raum als einzige Alternative zur Energieversorgung der Industriestaaten Europas, Amerikas und Asiens.

Die SCO könnte bald zu einem neuen globalen Akteur auf der weltpolitischen Bühne aufsteigen, dem, im Fall eines Konflikts mit dem Westen, auch die Supermacht USA nicht viel entgegenzusetzen hätte. Die Schließung der US-Basen in Zentralasien durch die SCO verdeutlicht die Machtverschiebungen in diesem Teil der Welt am besten. Das Auseinanderdividieren der zentralasiatischen Staaten und Russland wird für den Westen schwieriger werden. Die bunten Revolutionen im postsowjetischem Raum haben hier zu einer markanten Wende geführt. Die zentralasiatischen Autokraten fühlen sich plötzlich vom westlichen Demokratietransfer bedroht. Usbekistan hat die prowestliche GUAM-Allianz (bestehend aus Georgien, Ukraine, Aserbaidschan) verlassen und ist stattdessen der SCO und dem kollektiven Sicherheitsbündnis der GUS unter russischer Führung beigetreten.

Ohne dass es der Westen richtig gemerkt hat, ist im so genannten Eurasien ein neues Spannungsfeld globaler Energiepolitik entstanden. Man sollte diese geopolitische Entwicklung nicht überbewerten. Der wirtschaftliche Warenaustausch zwischen China und der EU sowie zwischen China und den USA ist immer noch zehnmal höher als das Handelsvolumen zwischen China und Russland. Auch sind die Länder Zentralasiens miteinander zerstritten, ebenso Indien und Pakistan. Ob die SCO die NATO bei der Friedenssicherung in Afghanistan ersetzen kann, ist zweifelhaft. Das Taliban-Regime in diesem Land besaß bis zum militärischen Eingreifen der USA nach dem 11. September die Möglichkeit, ganz Zentralasien zu bedrohen, ohne dass Russland oder China ihre Schutzmachtfunktion ausüben konnten.

Die SCO ist als Resultat der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen entstanden. Mit den USA bekam Russland Streit als Folge der russischen Ablehnung des Irak-Krieges. Mit der EU begannen Konflikte nach der Osterweiterung, als Moskau die politisch gestärkte EU plötzlich als geopolitischen Rivalen in Osteuropa und im postsowjetischen Raum erkannte. Die Unterstützung der EU für die orangene Revolution in der Ukraine hat in der russischen Elite zu einem Umdenkungsprozess gegenüber der zuvor angestrebten strategischen Partnerschaft mit den Europäern geführt. Ob die heutige Energieallianz und Waffenbruderschaft zwischen Moskau und Peking wirklich hält, wird wesentlich davon abhängen, wie weit der Westen Russland nach Asien abdrängt.

Gestützt auf den immer stärker werdenden weltpolitischen Machtfaktor Energie könnte die neue OPEC auf der Basis der SCO, die in ihren Mitgliedsstaaten mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung vereint, dennoch zu einem zweiten „Pol“ in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts werden. Sollten die Mitgliedsstaaten und Länder mit Beobachterstatus einmal ihr gesamtes politisches und wirtschaftliches Gewicht in die Waagschale werfen wollen, könnten sie darauf verweisen, dass sie vier Atommächte in ihren Reihen haben. Es kann auch die Entwicklung eintreten, dass der Iran, der einen Be-obachterstatus in der SCO erhalten hat, im Fall eines eskalierenden Konflikts mit dem Westen seine Verbündeten um Hilfe bittet.

Sollte sich auf der Basis der SCO tatsächlich ein neues weltpolitisches Machtzentrum und ein neues energiepolitisches Spannungsfeld in Eurasien herauskristallisieren, wird der Westen darauf reagieren müssen. Schon der Gasstreit zwischen Moskau und Kiew während des Jahreswechsels 2005/06 hat in Europa eine neue Diskussion über die Atomkraft als Alternative zur Erdgasversorgung hervorgerufen. Sollte ein Land wie Deutschland tatsächlich wieder zur Atomenergiewirtschaft zurückkehren, würde dies die Bedeutung eines potenziellen russischen Gaskartells in Eurasien relativieren.

Überlegenswert erscheint aber auch die Perspektive einer westlichen strategischen Zusammenarbeit mit einer Organisation wie der SCO. Die EU könnte sich durchaus um einen Beobachterstatus in diesem Bündnis bemühen. Auf der Ebene des gemeinsamen Kampfes gegen den internationalen Terrorismus werden sich die Interessen Russlands, Chinas und Indiens mit denen westlicher Staaten bestimmt treffen.

Rational betrachtet gibt es zu den Erdöl- und Erdgaslieferungen aus Russland und dem Kaspischen Raum für Europa kaum wirkliche Alternativen. Flüssiggastransporte per Schiff aus Katar, Libyen oder dem Sudan erscheinen noch utopisch. Die Gefahr einer politischen Destabilisierung der Region um den Persischen Golf ist wahrscheinlicher als das Entstehen einer neuen stalinistischen Diktatur in Russland. Die globale Sicherheitslage in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts wird ein Zugehen des Westens auf Russland erfordern. Ein Schulterschluss mit dem Energieimperium und der zweitgrößten Atommacht wird den Westen und seine Märkte langfristig sicherer machen. Die heutigen Debatten über Menschenrechte und das Fehlen der Zivilgesellschaft müssen zwar geführt werden, könnten aber früher oder später vom nüchternen Pragmatismus der Realpolitik überholt werden.

Wladimir Putin hat in seiner Rede im Deutschen Bundestag wenige Tage nach den Ereignissen vom 11. September 2001 den Kalten Krieg für endgültig beendet erklärt und eine Verschmelzung des rohstoffreichen sibirischen Raumes mit dem technologisch höher entwickelten EU-Raum vorgeschlagen. Das war die Aufforderung zur Begründung einer Art russisch-europäischen Allianz nach dem Modell der alten deutsch-französischen Montanunion, die bekanntlich das Fundament zur späteren EWG legte. Damals war das russisch-chinesische Verhältnis noch von starkem Misstrauen geprägt, und es gab sogar westliche und russische Experten, die behaupteten, Russland müsse seine Rohstoffvorräte in Sibirien mit westlicher Unterstützung (NATO) gegen chinesische Begehrlichkeiten schützen.

Wann wird Putin auf seine Rede eine europäische Antwort erhalten?

ALEXANDER RAHR, geb. 1959, ist Programmdirektor des Körber-Zentrums Russland/GUS im Forschungsinstitut der DGAP, Berlin.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2006, S. 15 - 23

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