Die NATO wird 75
Unbestritten ist der strategische Wert, den das Bündnis für die Sicherheit seiner Mitglieder bietet. Soll dieser auch in Zukunft Bestand haben, muss es mehr Klarheit über den Kurs der NATO geben. Drei Themenbereiche sind dabei besonders wichtig: die transatlantischen Beziehungen, eine aufgeklärte Abschreckungsdebatte sowie der Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur.
Wenn die NATO am 4. April ihren 75. Geburtstag feiert, darf sie sich zu Recht ihrer wiedergewonnenen Bedeutung erfreuen. War die Atlantische Allianz noch wenige Jahre zuvor für „hirntot“ (Emmanuel Macron) erklärt worden, so steht sie nun wieder im Mittelpunkt der europäischen Sicherheit. Der russische Überfall auf die Ukraine hat vielen nicht nur die Verwundbarkeit Europas vor Augen geführt, sondern auch den strategischen Wert eines dauerhaften transatlantischen Sicherheitsbündnisses. Mehr noch. Die Bündnispartner unterstützen die Ukraine militärisch und finanziell. Die Verteidigungsetats der meisten NATO-Mitglieder steigen. Eine neue Streitkräfteplanung rückt die klassische kollektive Verteidigungsfunktion der NATO wieder in den Mittelpunkt. Der Beitritt Finnlands und Schwedens verspricht eine erhebliche Stärkung der militärischen Schlagkraft der NATO. Und eine immer breitere Agenda, die nun auch den Schutz kritischer Infrastrukturen und die Klimasicherheit umfasst, soll sicherstellen, dass auch nichttraditionelle Sicherheitsrisiken in einem transatlantischen Rahmen diskutiert werden.
So weit, so gut. Doch dieses optimistische Bild ist nur die halbe Wahrheit. Denn die NATO leidet unter einer Reihe von strukturellen Herausforderungen, die ihren aktuellen Bedeutungszuwachs rasch wieder zunichtemachen könnten. Die Ungewissheit über die Zukunft des amerikanischen Engagements in der NATO, eine konfuse Debatte über das Konzept der Abschreckung, aber auch eine zu einseitige Ausrichtung auf die Herausforderung durch Russland drohen das Bündnis wieder aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen. Wenn die Mitgliedstaaten sich nicht über die Grundlagen ihres Bündnisses einig sind, wird auch der Versuch, die Relevanz der NATO durch eine immer breitere Themenpalette zu demonstrieren, wirkungslos bleiben.
Das Ende der „Post-Cold War“-NATO
Die aktuelle Konzentration der NATO auf ihre Kernfunktion von Abschreckung und kollektiver Verteidigung hat viele Beobachter vergessen lassen, dass sich die wichtigsten Annahmen, auf denen die Entwicklung der NATO nach dem Kalten Krieg beruhte, als falsch erwiesen haben. Zu diesen Annahmen gehörte, dass Russland ein zwar schwieriger, aber berechenbarer Partner bleiben würde, dass eine neue euro-atlantische Sicherheitsarchitektur vor allem durch die schrittweise Erweiterung der westlichen Institutionen NATO und EU erreicht werden könnte, und dass die NATO angesichts eines weitgehend befriedeten Europas ihre Legitimität künftig in erster Linie durch Kriseneinsätze jenseits des Bündnisgebiets gewinnen würde.
Diese Annahmen, die für die Entwicklung der NATO seit 1990 konstitutiv gewesen waren, sind inzwischen nicht mehr haltbar. Präsident Putins Krieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass die Hoffnungen des Westens auf eine allmähliche Modernisierung und Demokratisierung Russlands viel zu optimistisch waren. Russland ist nach wie vor ein autoritärer Staat, der nicht nur die Erweiterung westlicher Institutionen wie NATO und EU infrage stellt, sondern sogar versucht, einige der wichtigsten Entwicklungen seit Anfang der 1990er Jahre rückgängig zu machen.
Das Kalkül des Westens, Russland als Partner für eine erweiterte NATO und EU gewinnen zu können, ist nicht aufgegangen. Auch die insbesondere von amerikanischer Seite seit den 1990er Jahren erhobene Forderung, die NATO müsse sich auch außerhalb ihres Vertragsgebiets engagieren („out-of-area or out-of-business“), ist durch den Abzug der Verbündeten aus Afghanistan 2021 weitgehend desavouiert worden. Die enttäuschenden Ergebnisse dieses Einsatzes haben deutlich gemacht, dass sich ein militärisches Engagement der NATO nicht in nachhaltigen politischen Einfluss auf die Entwicklungen vor Ort umsetzen lässt. Angesichts dieser ernüchternden Erfahrungen ist es unwahrscheinlich, dass sich die Verbündeten noch einmal auf eine ähnliche groß angelegte Operation einigen könnten.
Ein möglicher Rückzug der USA
Und das ist noch nicht alles. Die Präsidentschaft von Donald Trump hat gezeigt, dass die USA – das einzige unverzichtbare Mitglied der NATO – ein potenzielles Risiko für das Bündnis geworden sind. Die abschätzige Haltung Trumps gegenüber den Verbündeten als Trittbrettfahrer, die versuchten, den amerikanischen Steuerzahler zu übervorteilen, ist inzwischen in weiten Teilen des politischen Systems der USA anzutreffen. Dort stellt man den Wert des Bündnisses für die USA infrage und droht den Europäern mit dem Ende des amerikanischen Schutzes. Ungeachtet der NATO-freundlichen Haltung der Regierung Biden wird die NATO von nun an unter dem Damoklesschwert eines möglichen „disengagement“ der USA leben müssen – eine historisch einmalige Situation.
Auch der Erweiterungsprozess der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges ist an einem Wendepunkt angelangt. Was der Westen als ultimativen Ausdruck des Prinzips der freien Bündniswahl für die mittel- und osteuropäischen Demokratien verstanden wissen wollte, war für Moskau nie etwas anderes als ein Angriff auf den russischen Großmachtstatus, den es abzuwehren galt. Moskau hält nach wie vor an einem außenpolitischen Konzept fest, das Einflusssphären als entscheidend für seine Sicherheit ansieht.
Zwar hatte die NATO russischen Bedenken Rechnung getragen, indem sie die Erweiterung militärisch „weich“, d.h. ohne die Stationierung umfangreicher Kampfverbände oder Kernwaffen auf dem Gebiet der neuen NATO-Mitglieder vollzog und erst nach der russischen Annexion der Krim 2014 den Aufbau einer moderaten Streitkräftepräsenz in Polen und dem Baltikum beschloss. Gleichwohl bleiben die NATO und ihre Politik der „offenen Tür“ eine ständige Herausforderung für das Selbstverständnis Russlands als Großmacht. Die Fortsetzung der NATO-Osterweiterung ist also nur noch möglich, wenn der Westen dafür hohe Risiken einzugehen bereit ist.
Militärische Bedrohungen
Zu den politischen Problemen der NATO gesellen sich militärische. Seit der russischen Annexion der Krim 2014 hat die NATO ihre Planungen wieder auf die Kernfunktion der kollektiven Verteidigung umgestellt, doch der politische Kontext für die nun erforderliche Stärkung der militärischen Fähigkeiten bleibt diffus. So werden in den einschlägigen Planungsdokumenten die Bedrohungen durch Russland und den Terrorismus gleichwertig nebeneinandergesetzt – ein politisch erforderlicher Kunstgriff, der eine Rolle der NATO bei der Terrorismusbekämpfung suggeriert, die sie nicht hat.
Aber auch das Verständnis des wiederentdeckten Konzepts der Abschreckung bleibt oberflächlich. Die politisch wie militärisch unumgängliche Aufstockung der militärischen Präsenz in den östlichen NATO-Staaten geht einher mit einer Rhetorik, die sowohl die militärischen Fähigkeiten Russlands als auch die Angriffsabsichten Moskaus gegen die NATO weit überschätzt. Obwohl der bisherige Verlauf des Ukraine-Krieges gezeigt hat, wie wenig Russland militärisch tatsächlich aufzubieten in der Lage ist, und obwohl es Moskau ungeachtet seiner verbalen Drohungen offenkundig vermeidet, einen Konflikt mit der NATO zu riskieren, werden die russischen Angriffe auf die Ukraine und zuvor auf Georgien als Beleg für künftige Angriffsabsichten gegen die NATO interpretiert.
Hybride Bedrohungen
Dabei bleibt die entscheidende Frage, welchem politischen Ziel ein Angriff Russlands auf die militärisch und wirtschaftlich weit überlegene NATO dienen könnte, zumeist unbeantwortet. Verstärkt wird dieser Alarmismus durch eine konfuse Debatte über „hybride Bedrohungen“. Da aggressive Handlungen ohne militärische Dimension (z.B. Cyberangriffe oder Desinformationskampagnen) praktisch ständig stattfinden, folgern manche Beobachter, dass sich die NATO bereits „im Krieg“ mit Russland und anderen hybriden Akteuren befindet und fordern Gegenmaßnahmen, für die ein auf existenzielle militärische Risiken ausgerichtetes Bündnis allerdings denkbar ungeeignet ist.
Keines dieser Probleme ändert etwas an der Tatsache, dass sich alle Bündnispartner der Vorteile bewusst sind, die die NATO für ihre Sicherheit und die politische Berechenbarkeit untereinander bietet. Wenn das Bündnis diese Funktionen jedoch auch weiterhin erfüllen soll, müssen sich die Mitgliedsländer mehr Klarheit über den künftigen Kurs der Allianz verschaffen.
Die Stabilisierung der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen
Die Stabilisierung der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen muss für die NATO angesichts der problematischen Tendenzen im politischen System der USA oberste Priorität haben. Das fortgesetzte Interesse der USA an der NATO und an Europa ist nicht nur entscheidend für die Sicherheit des alten Kontinents oder für die Zukunft der Ukraine. Enge transatlantische Beziehungen sind auch Vorbedingung für einen abgestimmten Umgang mit China, dessen Aufstieg die globale Sicherheitslage zunehmend prägen wird.
Eine der wichtigsten Aufgaben für die Erhaltung vertrauensvoller transatlantischer Beziehungen ist die überzeugende Antwort der Verbündeten auf immer lauter werdende Forderungen Washingtons nach einer gerechteren Verteilung der Verteidigungslasten. Zwar haben viele Verbündete seit 2014 begonnen, ihre Verteidigungshaushalte wieder zu erhöhen; doch entsprechen die aktuellen Steigerungsraten nach wie vor weder den Ambitionen der NATO noch den Erwartungen der USA. Entsprechende Initiativen der größeren europäischen NATO-Staaten zur Übernahme von mehr Verantwortung, z.B. durch die gemeinsame Beschaffung bestimmter militärischer Schlüsselfähigkeiten, wären ein positives Signal.
Auch wenn solche Schritte einen künftigen Präsidenten Trump nie zufriedenstellen würden, könnten sie gleichwohl die Arbeit mit einer künftigen republikanischen Administration erleichtern, weil ein Großteil des amerikanischen „defense establishment“, einschließlich des Kongresses, nach wie vor atlantisch orientiert ist. Europäische Rufe nach „strategischer Autonomie“ oder gar nach einem europäischen nuklearen Arsenal senden dagegen das falsche Signal. Sie suggerieren einen europäischen Abgrenzungswunsch von den USA, der gerade die atlantisch orientierten Amerikaner in Schwierigkeiten bringen würde.
Eine aufgeklärte Abschreckungsdebatte
Die NATO braucht einen intelligenteren Umgang mit dem Thema Abschreckung. Abschreckung war das zentrale Paradigma der NATO im Kalten Krieg. Infolgedessen hat das Bündnis den Reflex entwickelt, für fast jedes Problem eine Abschreckungslösung zu suchen. Dies zeigt sich u.a. in der Tendenz, „neue“ Bedrohungen in Bereichen wie Cyber-, Hybrid- oder Weltraum mit einer potenziellen Reaktion nach Artikel 5 – der Verpflichtung zur kollektiven Bündnisverteidigung – zu verknüpfen, weil man sich davon ein stärkeres Abschreckungssignal verspricht.
Die steigende Zahl hybrider Aktionen gegen die Verbündeten zeigt jedoch, dass das Konzept der Abschreckung unterhalb der kinetischen Schwelle kaum greift. Zwar betont die NATO seit Jahren die Bedeutung von Resilienz als „erster Verteidigungslinie“, d.h. man akzeptiert, dass manche Angriffe (z.B. gegen Informationsnetzwerke) unvermeidlich sind und versucht, die Auswirkungen des Angriffs zu minimieren. Doch da das Thema Resilienz zahlreiche nationale Zuständigkeiten tangiert, bleibt die Rolle der NATO in diesem Bereich begrenzt. Das Ergebnis ist paradox: Die NATO warnt vor immer neuen Bedrohungen, vermag jedoch kaum, etwas gegen sie auszurichten.
Das größte Manko des Ansatzes der NATO zum Thema Abschreckung ist jedoch die zunehmende Entkopplung dieses Konzepts von seinen politischen Grundlagen. So zeugt beispielsweise die häufig geäußerte Annahme, eine militärisch stärkere NATO hätte Russland davon abhalten können, die Krim zu annektieren oder in die Ukraine einzumarschieren, von einem irreführenden Verständnis von Abschreckung. Eine solche Interpretation suggeriert, dass Frieden in Europa ausschließlich eine Frage der Stärke und Entschlossenheit des Westens sei. Russland wird in dieser Karikatur zum bloßen Opportunisten ohne genuine eigene Interessen, der nur dann zuschlägt, wenn westliche Nachlässigkeit es zulässt.
Ignoriert wird dabei, dass auch eine militärisch stärkere NATO Russland nicht vom Angriff auf das Nicht-NATO-Mitglied Ukraine hätte abhalten können. Die Bereitschaft Russlands, militärische Risiken einzugehen, um die Integration der Ukraine in den Westen zu verhindern, war weitaus größer als das Interesse der Verbündeten, einen Krieg gegen Russland zu führen. Politische Interessen waren wichtiger als militärische Kräfteverhältnisse.
Solange die Abschreckungsdebatte in der NATO solche entscheidenden politischen Fragen ausklammert und das Problem ausschließlich als eine Frage neuer militärischer Fähigkeiten definiert, läuft das Bündnis weiterhin Gefahr, politisch wie militärisch überrascht zu werden. Dies gilt nicht nur in Bezug auf das Verhalten Russlands, in dessen Nachbarschaft sich mit Georgien noch ein weiterer NATO-Beitrittskandidat befindet, der sich wie die Ukraine nach Westen orientieren will. Es gilt auch in Bezug auf andere Akteure wie zum Beispiel China. Die bloße Stärkung des militärischen Dispositivs der NATO wird kaum genügen, um der vielschichtigen Herausforderung durch Peking zu begegnen.
Die Stärkung der politischen Dimension der NATO
Die NATO muss ihre Rolle beim Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur neu definieren. Es ist unbestritten, dass das alte Mantra, Sicherheit in Europa könne nur gemeinsam mit Russland aufgebaut werden, nicht mehr gilt, und europäische Sicherheit stattdessen gegen Russland organisiert werden muss. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die NATO ausschließlich auf die Wiederherstellung ihrer militärischen Stärke konzentrieren kann.
Das aktuelle „Krieg-in-Sicht“-Narrativ mag kurzfristig ein probates Mittel sein, um im Westen höhere Wehretats durchzusetzen; einen solchen kalkulierten Alarmismus über Jahre durchzuhalten, würde dagegen der eigenen Öffentlichkeit signalisieren, dass die NATO offenbar keinen ausreichenden Schutz gegen die russische Bedrohung bietet. Die deutliche Aussage von Generalsekretär Jens Stoltenberg auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz, die NATO sei stark und überdies nicht unmittelbar bedroht, dürfte nicht zuletzt ein Versuch gewesen sein, diese Debatte einzuhegen.
Mehr noch. Eine Allianz, die sich ausschließlich auf die Abschreckung Russlands konzentrierte, würde zudem die Entfremdung der südlichen Bündnispartner beschleunigen, die sich bereits heute darüber beklagen, dass sich die NATO zu wenig um die Sicherheit ihrer südlichen Peripherie kümmert. Auch die Beziehungen zu den Partnerstaaten rund um den Globus würden Schaden nehmen, wenn die NATO nur noch als antirussisches Bollwerk wahrgenommen werden sollte. In einer globalisierten Welt kann es sich die NATO deshalb nicht leisten, ihre politisch-diplomatische Dimension zu vernachlässigen.
Andere Annäherung an Moskau
All dies ändert nichts an der Tatsache, dass Russland die größte Herausforderung für die europäische Sicherheit darstellt. Sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat macht Russland jedoch zugleich auch zu einem Akteur, auf dessen Mitarbeit der Westen zumindest bei manchen Fragen angewiesen bleibt. Selbst in Bezug auf die Ukraine, wo das Verhalten Russlands seine Glaubwürdigkeit als Garant für die Einhaltung vereinbarter Normen verspielt hat, wird eine dauerhafte Lösung irgendeine Form der Einigung mit Moskau erfordern, ungeachtet westlicher Sicherheitsgarantien für die Ukraine oder gar einer NATO-Mitgliedschaft für dieses Land.
Die NATO ist für einen Dialog mit Russland über Sicherheitsfragen ein zu enger und unflexibler Rahmen. Da der Schwerpunkt der Allianz auf der Abschreckung Russlands liegt und sie Moskau keine positiven Anreize zur Zusammenarbeit anbieten kann, obliegt es den USA und den wichtigsten europäischen Verbündeten – trotz des wohl unvermeidlichen Vorwurfs, man betreibe „Appeasement“ – nach Wegen zu suchen, um mit Moskau wieder ins Gespräch zu kommen.
Das Bündnis sollte jedoch zumindest Entscheidungen vermeiden, die einen solchen Dialog behindern könnten. Dazu zählt zuerst und vor allem die Art und Weise der Fortsetzung des NATO-Erweiterungsprozesses. Die NATO kann von den Prinzipien, die der Politik der „offenen Tür“ zugrundeliegen, nicht abrücken, aber sie kann die Umsetzung dieser Prinzipien auf eine Weise – und mit maßvoller Geschwindigkeit – vollziehen, die zumindest die vorhersehbaren Reibungen mit Moskau auf ein Mindestmaß beschränkt.
Die Rolle Deutschlands
Deutschland trägt als einer der größten NATO-Staaten erhebliche Verantwortung für die künftige Entwicklung des Bündnisses. Ob und wie Deutschland diese Rolle spielen wird, ist gegenwärtig allerdings offen. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind vom EU-orientierten Berlin jedenfalls nur selten wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der NATO ausgegangen. Zwar hat die Zeitenwende den Eindruck vermittelt, das Land würde sich nun von manchen liebgewonnenen politischen Glaubenssätzen verabschieden und sich auf ein neues, von strategischer Konkurrenz geprägtes Sicherheitsumfeld einstellen. Doch schon die ersten Versuche, die Streitkräfte an die neue Lage anzupassen, drohen an Personal- und Budgetengpässen zu scheitern. Dies umso mehr, als die überhitzte Rhetorik („Kriegstauglichkeit“) einen Aufwuchs militärischer Fähigkeiten in einer Dimension verlangen würde, die Deutschland – aber auch viele seiner Verbündeten – nicht bewerkstelligen kann.
Wenn die Zeitenwende jedoch erreichen sollte, dass Berlin nach der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Streitkräfte Sicherheitspolitik auch wieder in militärischen Kategorien denkt, hätte sie bereits einen großen Beitrag für die Zukunft der NATO geleistet. Ein Deutschland, das sich vorbehaltlos zu seinen militärischen Bündnisverpflichtungen bekennt, wird es leichter haben, seinen Einfluss in der Allianz geltend zu machen, um der NATO neben ihrer klassischen Rolle als Schutzschild auch wieder eine stärkere politische Dimension zu geben.
Internationale Politik, online Exklusiv, 25. März 2024
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