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01. Juni 2007

Die Macht der Generäle

Das türkische Miltär schützt den säkularen Staat. Das muss der Westen begreifen

Seit 80 Jahren ist das Militär – als Erbe Kemal Atatürks – der Hüter der säkularen Republik Türkei. Auch in den Augen vieler Türken schützt es den Staat vor der Re-Islamisierung. Daher geht vom Generalstab auch weniger Gefahr für die Demokratie aus als von den Besonderheiten des türkischen Wahlsystems: Das muss vor allem Europa verstehen.

Am 27. April, nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, hat der türkische Generalstab eine sehr hart formulierte Warnung davor veröffentlicht, den säkularen Charakter der Republik zu unterminieren. Vor allem in Europa wurde diese Stellungnahme des Militärs als eine unzulässige Einmischung in den politischen Willensbildungsprozess betrachtet. Doch angesichts der einzigartigen Natur der türkischen Demokratie wird diese Stellungnahme ironischerweise letztlich sogar Schlimmeres verhindern.

Zunächst betont diese Erklärung die rechtliche und verfassungsmäßige Verantwortung des Generalstabs für die Aufrechterhaltung der säkularen Natur der Türkischen Republik. Es ist eine Tatsache, dass die Demokratie – vor allem in einer überwiegend muslimischen Nation – gefährdet ist, wenn es keine Trennung zwischen Staat und Religion gibt; die Geschichte hat gezeigt, dass der Islam und die islamistischen Bewegungen dazu tendieren, ihre Weltauffassung allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens aufzuoktroyieren. Die Erklärung des Generalstabs sollte als ein Warnruf verstanden werden. Ihre Absicht war, alle Türken dazu aufzurufen, während der bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den Grundprinzipien der Türkischen Republik zu bestehen. Der Generalstabschef hat auf einer Pressekonferenz am 12. April diese Haltung unterstrichen, als er erklärte, dass „man sich nicht nur verbal zu den Prinzipien der Republik bekennen muss, sondern grundsätzlich und dies auch in Aktionen demonstrieren muss“.

Die moderne Türkische Republik wurde 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet, der selbst auch ein brillanter Militärstratege gewesen ist. Während des Ersten Weltkriegs hat Atatürk einen türkischen Befreiungskrieg geführt und gewonnen – ohne sich dabei auf die Flagge des Islam zu verlassen, um das Volk gegen den Westen zu vereinen. Er hatte erkannt, dass das Osmanische Reich deshalb hinter den Westen zurückgefallen war, weil die islamische Führung zuviel Einfluss auf die Gesellschaft ausübte und sich notwendigen technischen und sozialen Reformen widersetzte, nur weil diese aus dem Westen stammten. Beispielsweise hatten religiöse Führer des Osmanischen Reiches die Einfuhr von Druckmaschinen (sicherlich eine der wichtigsten Erfindungen der westlichen Zivilisation) in das Reich untersagt, indem sie diese als „Erfindungen des Teufels“ bezeichneten. Atatürk glaubte zu Recht, dass die Türken nur dann in den Genuss der Moderne geraten und zum Westen aufschließen könnten, wenn sie wissenschaftliches Denken entwickelten. Damit dies möglich würde, so seine feste Überzeugung, müssten Staat und Religion strikt getrennt werden. In einer berühmten Stellungnahme, in der er die Abschaffung des auf dem Koran basierenden Rechtssystems der Scharia verkündete, fragte er rhetorisch: „Wie kann eine Nation voranschreiten, wenn die Hälfte des Volkes, die Frauen, am Boden angekettet sind?“ Atatürk praktizierte, was er forderte: Seine Tochter wurde die erste Kampfpilotin der Welt.

Das türkische Militär wird dank seiner säkularen Vergangenheit von den meisten Türken – verglichen mit anderen Institutionen – immer noch hoch geschätzt. Die Kehrseite dieser Anerkennung ist, dass viele Türken vom Militär nach wie vor erwarten, dass es „uns rettet“ vor internen und externen Bedrohungen, illiberalen politischen Parteien oder korrupten Regierungen. Anstatt selber die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass ihr säkulares System auch in der Demokratie überlebt, haben viele, immer im Vertrauen darauf, dass das Militär alles schon wieder richten werde, nachlässig abgestimmt. So haben bei den Parlamentswahlen 2002 viele Wähler aus Verärgerung über die letzte Regierung die Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei (AKP) gewählt. Als ich nach den Wahlen einige dieser Bürger fragte, warum sie für eine Partei gestimmt hätten, die sie selber verdächtigten, islamistische Wurzeln zu haben, erhielt ich zur Antwort: „Alle anderen Parteien haben versagt, lass es uns mal mit diesen Leuten versuchen. Wenn sie sich nicht an die Regeln halten, wird das Militär sie schon aus dem Amt jagen.“

Solche Ansichten haben mich entsetzt. Meine Besorgnis nahm noch zu, als ich während der nächsten fünf Jahre feststellen musste, dass Türken, verunsichert durch die Außen- und Innenpolitik der AKP sowie angesichts der fortschreitenden Bedrohung durch den Islamismus auf lokaler Ebene, immer mehr darauf hofften, dass das Militär „eingreift“. Das ist weder der korrekte Weg, wie eine Demokratie zu funktionieren hat, noch ist dies ein verantwortungsvolles Verhalten für eine Bevölkerung, die sich selbst als demokratisch bezeichnet. Trotz solcher Aufforderungen durch das Volk verhielt sich der Generalstab sehr zurückhaltend und zögerte, sich in den demokratischen politischen Prozess einzumischen.

Im vergangenen Dezember veröffentlichte ich in Newsweek einen Artikel, in dem ich schrieb, dass die Chancen für einen Putsch 50:50 stünden. Ich erinnerte daran, dass vor nur zehn Jahren die damals offen islamistische türkische Regierung in einem quasi „postmodernen Staatsstreich“ gestürzt wurde. Ich hatte diesen Coup kommen sehen, nachdem mir ein führender Militär erklärt hatte, die Lektion, die er aus der iranischen Revolution gelernt habe, sei, dass die Türkei Gefahr laufe, ihre Staatsform der säkularen Demokratie zu verlieren, sollte der Generalstab zu lange warten. Die damalige türkische Regierung hatte sich in den Monaten vor dem Coup geweigert, ihren Kurs zu ändern.

Besonders während der letzten Jahre haben sich die Beziehungen zwischen dem säkularen Establishment und den religiösen Kräften zunehmend verschärft. Vergangenen Mai hat ein 29-jähriger Rechtsanwalt namens Arpaslan Arslan einen Richter des türkischen Staatsrats erschossen. Arslan gestand, dass er aus religiösen Motiven gehandelt habe, als Vergeltung für ein kürzlich ergangenes Urteil gegen eine Lehrerin, die auf dem Weg von und zur Schule ein Kopftuch getragen hatte. Der Mord führte zu massiven Demonstrationen in Ankara. Tausende gingen auf die Straße, um gegen eine Tat zu protestieren, die sie als Symbol für den Niedergang des türkischen Säkularismus gegenüber dem Islamismus ansahen. Doch die Regierung tat die Proteste als reine Reaktion auf einen einzelnen Mord ab.

Dies belegt entweder die bewusste Entscheidung, den anwachsenden Unmut zu ignorieren – oder die Unfähigkeit, ihn zu verstehen. Die gegenwärtige türkische Regierung missinterpretiert die zunehmende Opposition der Bevölkerung gegen den von ihr eingeschlagenen Kurs und glaubt, sie sei repräsentativ, nur weil sie über eine Zweidrittelmehrheit der Sitze im Parlament verfügt. Viele der Stimmen, welche die AKP erhalten hat, sind jedoch nur auf die Unzufriedenheit mit der vorherigen Regierung zurückzuführen. Hinzu kommt, dass die AKP nur dank der Besonderheiten des türkischen Wahlsystems in der Lage gewesen ist, 66 Prozent der Parlamentssitze zu erhalten, obwohl sie bei den Wahlen 2002 nur knapp 34 Prozent der Stimmen gewonnen hatte. In der Türkei gilt bei den Parlamentswahlen eine Zehnprozenthürde. Außer der AKP hat sie bei den Wahlen von 2002 nur die Republikanische Volkspartei mit 19,4 Prozent der Stimmen überwunden. Die Wahrheitspartei mit 9,54 und die Nationale Aktionspartei mit 8,35 Prozent blieben unter dem Quorum. Deshalb wurden die Parlamentssitze zwischen den beiden Parteien aufgeteilt, die AKP bekam 363 der insgesamt 541 Sitze. Mit einem AKP-Mitglied als Präsident würde diese Partei die absolute Kontrolle über die Exekutive und Legislative erhalten und die Judikative beeinflussen können. Damit wäre die Gewaltenteilung in diesem Land endgültig beendet.

Sicherlich haben sich die AKP-Parteiführer Recep Tayyib Erdogan und Abdullah Gül in letzten fünf Jahren mehr in Richtung säkulare Demokratie entwickelt, aber wirkliche Demokraten sind sie immer noch nicht. Sie tun sich mit Kritik sehr schwer und arbeiten nicht auf einen Konsens in der Regierung hin. Gerechtigkeitshalber muss erwähnt werden, dass diese Kritik keinesfalls nur auf die AKP zutrifft; dieses Verhalten ist leider in der politischen Kultur der Türkei weit verbreitet. Die AKP fühlt sich sicherlich den rein institutionellen Spielregeln der Demokratie verpflichtet, durch die sie ihren heutigen numerischen Vorteil erreicht hat. Doch damit vertritt sie noch keineswegs eine liberale Demokratie, so wie sie im Westen verstanden wird. Wie einige Ereignisse der letzten Zeit gezeigt haben, reagiert die türkische Bevölkerung nun darauf.

Damit komme ich zu dem kritischen Punkt. Wenn der Wille des Volkes in demokratischen Wahlen nicht zum Ausdruck kommen kann, wird das Volk über das System hinweggehen. Die jüngsten Großdemonstrationen in Ankara, Istanbul und Izmir müssen richtig verstanden werden. Die Proteste im letzten Mai wurden von vielen Türken (besonders der Regierung) nicht richtig interpretiert, und im Westen wurden sie ebenfalls nicht vollständig verstanden. Die Mehrheit der Organisatoren und Teilnehmer an den Demonstrationen im vergangenen Jahr und in den letzten Wochen waren Frauen. Einfach formuliert sind es die Frauen, die durch den Islamismus am meisten zu verlieren haben; es sind ihre Freiheiten, die eingeschränkt würden. Die Türkei existiert nicht in einem Vakuum, der Islamismus ist überall auf dem Vormarsch. Er greift den Säkularismus nicht nur im Nahen und Mittleren Osten an, sondern auch in Europa, ja selbst in den Vereinigten Staaten. Für ein Land wie die Türkei, das eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung hat, ist es von entscheidender Bedeutung, die Trennung von Staat und Religion aufrechtzuerhalten, ja es ist geradezu lebenswichtig. Mehr als die meisten anderen Religionen neigt der Islam nämlich dazu, ganzheitlich alle Aspekte einer Gesellschaft zu dominieren. Wenn alle Führer der Türkei den gleichen islamistischen Hintergrund hätten, würden sie – trotz aller Fortschritte, die sie in Richtung Säkularismus gemacht haben – unweigerlich zu ihren Wurzeln zurückgezogen werden. Das war die Sorge der Demonstranten.

Dabei ist die Vermischung von Staat und Religion nicht nur schlecht für den Staat, sondern auch für die Religion. Ich habe mit vielen gläubigen Muslimen überall in der Welt geredet. Deren übereinstimmende Meinung ist, dass die Auferlegung oder Verordnung einer Religion durch eine Regierung den Glauben genauso unterminiert wie den Staat. In einer freien Gesellschaft ist die Tatsache, dass jemand sich entscheidet, keinen Alkohol zu trinken, nicht fremd zu gehen oder ein Kopftuch zu tragen, ein kraftvoller Ausdruck der eigenen Hingabe zur Religion. Wenn man diese freie Entscheidung abschafft und diese Handlungen zur Pflicht macht, verlieren sie völlig ihre Bedeutung. Die Türkei hat diese Debatte lange geführt und ihre Entscheidung schon vor mehr als 80 Jahren gefällt.

Ministerpräsident Erdogan und die AKP haben angenommen, dass sie ein Mandat allein aufgrund ihrer Parlamentsmehrheit besaßen, und dass sie Abdullah Gül einfach als Präsidenten installieren könnten. Aber nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 2. Mai, dass für eine legitime Wahl 367 Abgeordnete anwesend sein müssen, zog er seine Kandidatur zurück, und am 22. Juli wird es vorgezogene Parlamentswahlen geben. Auch das Militär will keinen Zusammenstoß zwischen den Säkularisten und Islamisten, sondern hofft vielmehr, dass seine Stellungnahme die verschiedenen Akteure dazu zwingen wird, Kompromisse zu suchen.

Es ist unglücklich, dass die Parlamentswahlen nun so überstürzt stattfinden und der nächste Präsident direkt gewählt werden soll. Entscheidungen von solcher Tragweite sollten nach sorgfältiger Abwägung der kulturellen und politischen Empfindlichkeiten getroffen werden, nicht in diesem hochemotionalen Kontext. Es ist ziemlich absurd, viele andere Dinge nicht anzugehen, etwa die bisherige Zehnprozenthürde, die auf ein vernünftiges Maß, fünf oder sieben Prozent, reduziert werden sollte. Dies würde die existierenden Parteien dazu zwingen, an Kompromissen zu arbeiten. Die Reaktion der Europäischen Union auf die jüngsten Ereignisse wird unglücklicherweise die AKP in ihrer Position bestärken. Im Anschluss an die Erklärung des Generalstabs hat die EU das türkische Militär gewarnt und es aufgefordert, die Regeln des demokratischen Spieles zu respektieren. Einfach ausgedrückt versteht die EU diese Kräftespiele nicht und liegt falsch damit, die AKP zu unterstützen, nur weil sie eine gewählte Regierung ist. Wie die Geschichte schon oft bewiesen hat, sind freie Wahlen nur der Anfang der Demokratie und garantieren per se keine rechtmäßige Regierung.

ZEYNO BARAN, geb. 1972, war u.a. Direktorin des Caucasus Project am Center for Strategic and International Studies (CSIS) und leitete das International Security and Energy Program des Nixon Center. Seit 2006 ist sie Direktorin des Hudson Center for Eurasian Policy in Washington D.C.

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 129 - 133.

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