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03. Jan. 2018

Die Kriegsgewinnler

Der libysche Bürgerkrieg weitet sich aus und bedroht Nordafrika

Sechs Jahre nach dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi hat sich der Konflikt in Libyen zum Stellvertreterkrieg ausgeweitet. Frieden ist nicht in Sicht: Zu viele Seiten profitieren von der Kriegs­ökonomie. Für Nordafrika ist die Eskalation des Bürgerkriegs brandgefährlich. Auch für Europa sind die Konsequenzen gravierend.

Drei Jahre ist es her, dass General Khalifa Haftar das libysche Parlament in Tripolis von seinen Milizen erstürmen ließ. Vor laufenden Kameras drohte er dem Übergangsparlament: Es sei von Islamisten und Terroristen dominiert, und deshalb werde er das Ergebnis des politischen Übergangsprozesses nicht anerkennen. Dies führte zur politischen Spaltung und Bildung von zwei rivalisierenden Regierungen: Seit 2014 sitzt im westlichen Tripolis der islamistische Nationalkongress unter Khalifa Ghweill, im östlichen Tobruk dagegen der säkulare Abgeordnetenrat unter Agilah Saleh, der sich mit Haftar zusammentat.

Abgesehen von den Hauptallianzen ringt eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Akteuren um Einfluss. Die politische Landschaft ist zutiefst zersplittert: Milizen und andere bewaffnete Gruppen beherrschen ganze Landstriche und Geschäftszweige. Besonders im Westen und Süden gibt es quasiautonome „Stadt-Staaten“ wie Misrata, die sich als Staaten im Staat etablieren konnten. Die Tebu und Tuareg kontrollieren die Grenzgebiete zur Sahel-Zone. Und die mächtigen Clans herrschen vor allem im Zentrum und im Osten. Immerhin wurde der Islamische Staat (IS) Ende 2016 nach schweren Kämpfen aus Gaddafis Geburtsstadt Sirte vertrieben.

Die Vereinten Nationen starteten Ende 2014 einen politischen Dialog, der die Konflikte überwinden sollte. An dessen Ende würden eine Einheitsregierung stehen und Wahlen – so dachte man. Stattdessen aber kam der politische Zerfallsprozess erst recht in Gang. Schon dass die Verhandlungen nicht in Libyen stattfanden – man hatte aus Sicherheitsgründen das marokkanische Skhirat gewählt – war ein schlechtes Vorzeichen. Um eine Einigung überhaupt möglich zu machen, wurden dann einige unbequeme, aber wichtige politische Akteure gar nicht oder nicht ausreichend in die Verhandlungen einbezogen: etwa die Milizen, die es daraufhin nicht umsetzten. Oder der Großmufti, General Haftar und die ostlibysche Regierung, die es nicht anerkannten.

Am Ende war bei vielen Libyern der Eindruck entstanden, dass Verhandlungsführer, die sie nicht gewählt hatten, zusammen mit dem Westen, dem sie nicht trauten, eine Regierung installiert hatten, die sie nicht wollten, in einem Prozess, den sie nicht durchschauten. Die neue Regierung unter Premierminister Fayez as-Sarraj wurde zwar international anerkannt, innerhalb Libyens aber brachte sie es nie zu wirklicher Legitimität. Deshalb ist es ihr bis heute nicht gelungen, die politische Macht auf sich zu vereinen. Vielmehr steht sie nun als dritte Partei neben den beiden Hauptakteuren und ist so nur eine weitere Fraktion, die Anspruch auf Vorherrschaft erhebt.

Benzin, Strom und Bargeld

Der eigentliche Grund für das Scheitern des politischen Dialogs liegt tiefer. Dafür ist eine Entwicklung verantwortlich, auf die weder die Vereinten Nationen noch die Einheitsregierung wirklich Einfluss hatten. Denn das Abkommen wurde von Beginn an unterlaufen, und zwar nicht nur von lokalen, sondern auch von internationalen Akteuren.

Der Machtkampf zwischen den rivalisierenden Parteien hat dazu geführt, dass weder Staat noch Institutionen funktionieren – jeder kämpft gegen jeden. So verfügt diejenige Partei in Libyen über die größte Macht, die das meiste Benzin, Strom und Bargeld an die Bevölkerung verteilen kann. Bewaffnete Gruppierungen und Milizen haben kriminelle Netzwerke aufgebaut und sichern ihr Einkommen mit Schmuggel, Menschenhandel, Söldnerdiensten und Erpressung. Das Geschäft mit Migranten ist das einträglichste überhaupt: Laut einem geheimen EU-Bericht sollen die libyschen Küstenstädte damit zwischen 275 und 325 Millionen Euro im Jahr verdienen.

Auch der Schmuggel von Erdöl ist profitabel. Anfang 2017 demonstrierte eine als Sicherheitsfirma für die Erdölraffinerie Zawiya tätige Miliz, dass sie sich ihre Geschäftsgrundlage nicht kaputtmachen lässt. Als die nationale Ölgesellschaft die Miliz bezichtigte, Erdöl zu stehlen und auf eigene Faust zu verkaufen, legte diese kurzerhand die Raffinerie lahm. Als Folge konnte das Elektrizitätsnetz nicht mehr ausreichend versorgt werden, und es kam zum größten Stromausfall in der jüngeren Geschichte Libyens, der man­cherorts 30 Stunden anhielt.

Das Hauptproblem in Libyen ist, dass einfach zu viele Akteure von der Abwesenheit staatlicher Ordnung profitieren. Solange unübersichtliche und chaotische Zustände Gewinnmöglichkeiten bieten, werden Profiteure alles tun, diese zu erhalten und politische Lösungen zu sabotieren. Die Kriegsökonomie setzt falsche Anreize; sie hält das Land im politischen Stillstand gefangen.

Ein Sondergesandter der VAE

Die instabile Lage wird nicht nur in Libyen, sondern auch auf internationaler Ebene ausgenutzt. Das zeigt eine Affäre, die als „Leon-Gate“ bekannt wurde. Bernardino Leon war der damalige UN-Sondergesandte der Unterstützungsmission für Libyen UNSMIL. Er sollte zwischen den zerstrittenen Parteien vermitteln, vor allem zwischen der islamistischen Fraktion, die unter dem Einfluss der lokalen Muslimbruderschaft steht, und der ostlibyschen Fraktion, die von Haftar gelenkt wird.

Als Vertreter der internationalen Gemeinschaft durfte Leon selbst keine Partei ergreifen, sondern musste neutral bleiben. Doch unmittelbar nach seiner Amtszeit trat er einen Job in den Vereinigten Arabischen Emiraten an, den er bereits ausgehandelt hatte, als er noch mit den libyschen Konfliktparteien verhandelte. Dies brachten geleakte E-Mails ans Licht. Der Vorgang ist ein Skandal, weil die Emirate eine der wichtigsten Einflussmächte in Libyen sind und auf diese Weise mit am Tisch saßen, als lokale Interessenvertreter versuchten, sich auf einen Fahrplan zu verständigen.

Die UN-Unterstützungsmission hat seitdem ein Glaubwürdigkeitsproblem – und der Begriff „Stellvertreterkrieg“ eine ganz neue Bedeutungsdimension gewonnen. Die E-Mails, über deren Echtheit allerdings spekuliert wird, zeigten, dass Leon sein Mandat nutzte, um die Agenda der Emirate in Libyen durchzusetzen. Dazu gehörte, dem islamistischen Nationalkongress in Tripolis die Legitimität abzusprechen und die Islamisten zu demontieren. Außerdem sollte Leon die USA, Großbritannien und Frankreich davon überzeugen, sich gemeinsam mit den VAE gegen die islamistische Regierung in Tripolis zu stellen, die von den VAE als Terror­organisation eingestuft wird. Schließlich versprach Leon in den E-Mails, die „gefährliche Allianz“ zwischen den reichen Unternehmern von Misrata und den Islamisten zu zerschlagen. Zu diesem Bruch kam es tatsächlich, er war ein Ergebnis der von Leon geführten Gespräche.

Den Emiraten ist es auf diese Weise gelungen, den Dialogprozess zu infiltrieren und ihrem Erzfeind Katar eine Niederlage beizubringen. Katar und die Türkei unterstützen schon seit dem Arabischen Frühling von 2011 die Muslimbrüder in der Region und die islamistische Regierung in Tripolis. Die Emirate versuchen ihrerseits zusammen mit Saudi-Arabien und Ägypten, den Aufstieg dieser Spielart des politischen Islam mit allen Mitteln zu verhindern. Sie setzen daher auf General Haftar im Osten Libyens. Die ihm nahestehende Regierung in Tobruk schloss sich in der Katar-Krise im Sommer 2017 dem Embargo an und kappte alle Beziehungen zu Doha. Diese Krise bildete den vorläufigen Höhepunkt der Machtkämpfe zwischen Saudi-Arabien, den VAE, Ägypten und Bahrain auf der einen und Katar mit seinem Verbündeten Türkei und teilweise Iran auf der anderen Seite.

Schlechte Vorbilder

Solange äußere Mächte weiterhin mit Geld, Waffen und ideologischer Munition ihre jeweiligen Stellvertreter unterstützen, wird der Bürgerkrieg andauern. Die Unterstützung für Haftar untergräbt das Bemühen um eine politische Lösung der Krise, denn sie lässt den General an eine militärische Lösung zu seinen Gunsten glauben. Als Oberbefehlshaber der „Libyschen Nationalarmee“, wie sich die Sintan-Brigaden selbst nennen, untersteht ihm die schlagkräftigste Truppe des Landes. Außerdem stärken ihm die großen Clans des Ostens den Rücken, darunter auch Militärangehörige des alten Gaddafi-Regimes.

Haftar legitimiert seinen Herrschaftsanspruch mit seiner Kampagne gegen Terroristen und Islamisten und nimmt sich so ein Beispiel an den Strategien anderer starker Männer wie Abdal Fattah as-Sisi in Ägypten, Baschar al-Assad in Syrien oder Recep Tayyip Erdogan in der Türkei. Je erfolgreicher seine Kampagne ist, desto mehr wird der Oberbefehlshaber versuchen, seine Macht auf ganz Libyen auszuweiten.

Zurzeit spielt ihm dabei vieles in die Hände, zum Beispiel die Unterstützung aus Ägypten. In seiner nationalen Sicherheitsstrategie hat sich der östliche Nachbar unter dem ehemaligen General Sisi ebenfalls dem Kampf gegen den Terrorismus verschrieben. Besonders das Gebiet an der Grenze zu Libyen soll zur „islamistenfreien“ Zone werden. Deshalb unterstützt Kairo zusammen mit den meisten Golf-Staaten Haftars Streitkräfte, auch durch Luftangriffe auf gegnerische Ziele. Ein guter Teil des militärischen Erfolgs gegen den IS und andere Gruppierungen in Bengasi und im Golf von Sirte basiert auf den Waffenlieferungen der Unterstützer, die damit gegen ein UN-Embargo verstoßen.

Ägypten untergräbt so den UN-geführten Dialogprozess, den es nach außen hin aber zu unterstützen vorgibt. Haftar sieht sich dadurch in seiner Überzeugung bestätigt, dass er nicht Teil der Lösung sein muss, sondern beanspruchen kann, selbst die Lösung zu sein. Auf kurze Sicht mag das Bündnis mit Haftar für Kairo viele Vorteile haben, auch ökonomische. Auf einen möglicherweise jahrelangen Feldzug zur Eroberung des ganzen Landes ist man in Ägypten jedoch nicht eingestellt, auf ein Übergreifen des Krieges, wenn die Lage im Nachbarland eskaliert, erst recht nicht. Das könnte aber die Konsequenz aus dem kurzsichtigen Handeln Sisis sein.

Ein ähnlich doppeltes Spiel spielt Russland. Offiziell unterstützt Moskau die UN-Verhandlungen, gleichzeitig aber hat sich Putin auf die Seite von Haftar geschlagen und versorgt ihn mit militärischem Equipment und Knowhow. Russland hofft, einen Fuß auf den Boden der südlichen Mittelmeer-Region zu bekommen und Einfluss auf ein für den Westen entscheidendes Gebiet zu gewinnen. Es versucht, das Vakuum auszufüllen, das der Westen und besonders die USA durch ihre Zurückhaltung im Nahen Osten und Nordafrika haben entstehen lassen. Moskau provoziert damit die NATO-Staaten, von denen es sich selbst an seiner Westgrenze herausgefordert fühlt.

Angesichts solcher Interessenspiele erscheint der Fahrplan des neuen UN-Sonderbeauftragten Ghassan Salamé ambitioniert. Er will die Regierung in Tobruk davon überzeugen, mit ihren westlichen Widersachern, den Islamisten und der Einheitsregierung zusammenzuarbeiten und konstruktiv am Übergangsprozess mitzuwirken. Innerhalb eines Jahres sollen ein Verfassungsreferendum und Wahlen abgehalten werden. Dazu müssten aber alle einflussreichen Mächte auf eine politische Einigung drängen. Doch noch nicht einmal die Europäer spielen mit.

Frankreich, Großbritannien und Italien verfolgen jeweils ihre eigenen Interessen in dem Stellvertreterkrieg. Italiens Politik gegenüber seiner ehemaligen Kolonie ist zumindest konsistent. Rom hat der Einheitsregierung unter Sarraj Unterstützung zugesichert, zugleich aber schon früh die Position vertreten, dass Haftar in eine Einigung einbezogen werden muss. Es ist sicherlich vernünftig, so viele Akteure wie möglich, auch ehemalige Gaddafi-Anhänger, bei der Verteilung der politischen Macht zu berücksichtigen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass sich nicht wiederholt, was im Irak geschah, als das schiitische Post-Saddam-Regime ehemalige Anhänger der Baath-Partei sowie die sunnitische Minderheit ins­gesamt vom System ausschloss und damit erst den Aufstieg des IS ermöglichte.

Macrons kurzsichtiger Vorstoß

Die außenpolitische Strategie von Frankreich und Großbritannien ist doppelbödiger. Rhetorisch haben sich beide Staaten hinter das UN-Abkommen und Premierminister Sarraj gestellt, während militärische Spezialeinheiten an der Seite von Haftars Truppen gegen den IS in Bengasi und andernorts zu Felde ziehen. Frankreich will sich vor allem seine Einflusssphäre im Süden des Landes bewahren und ist dafür Zweckbündnisse mit den unterschiedlichsten Gruppierungen eingegangen – wohlwissend, dass dies negative Konsequenzen für den politischen Verhandlungsprozess haben kann.

Im Sommer 2017 versuchte Staats­-präsident Emmanuel Macron zwischen der Einheitsregierung von Sarraj und den Streitkräften Haftars zu vermitteln. Dazu lud er beide Rivalen nach Paris ein. Zwar wurde bei dem Treffen auch eine Waffenruhe vereinbart. Insgesamt dürfte der Vorstoß Macrons aber der politischen Versöhnung eher geschadet haben. Denn mit seiner Einladung erkannte der französische Präsident den Militär Haftar als Staatsmann und seine Militäraktionen als rechtmäßig an. Haftar konnte dadurch seinen ohnehin schon schwachen Widersacher Sarraj weiter schwächen.

Das war ihm schon bei einem ersten Treffen zwei Monate zuvor gelungen, als die VAE zusammen mit Ägypten die beiden Kontrahenten nach Abu Dhabi holten. Über inoffi­zielle Kanäle erfuhr die Öffentlichkeit, dass sich Sarraj vom General an die Wand habe verhandeln lassen. Im Nachhinein erscheint dieses erste Gespräch zwischen Feinden als Inszenierung der Emirate und Ägyptens, um ihren Kandidaten mächtiger zu machen. Macron hatte bei seinem Vermittlungsversuch natürlich auch die Flüchtlingskrise vor Italien und Frankreichs Sicherheitsinteressen gegen den Terrorismus im Auge. Doch dem Frieden in Libyen hat der eigenmächtige Vorstoß wenig gedient.

Auch die Europäische Union will vor allem die Flüchtlingskrise im südlichen Mittelmeer in den Griff bekommen. Doch wenn Staaten und Organisationen nach außen hin Konsens signalisieren und dann doch im Alleingang auf Kurzzeitallianzen gegen den Terror setzen, gefährden sie die Aussicht auf Frieden in Libyen dauerhaft – und schaffen genau das, was sie eigentlich verhindern wollen. Dies kann nicht im Interesse Europas liegen.

In Libyen steht zu viel auf dem Spiel. Wenn der Konflikt weiter eskaliert und auf die Nachbarländer übergreift, wären die Konsequenzen kaum abzusehen. Damit wäre niemandem gedient außer denen, die am Krieg verdienen.

Dr. Susanne Kaiser arbeitet als Journalistin und schreibt vor allem über den Nahen Osten und Nordafrika.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 112 - 117

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