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01. Sep 2017

Das Ende ist erst der Anfang

Warum der Islamische Staat noch lange nicht besiegt ist

Lange Zeit hielt der IS mit seinen Eroberungsfeldzügen die Welt in Atem. Nun ist sein Staatsbildungsprojekt im Irak gescheitert. Doch bedeutet das auch das Ende der Organisation? Kann der Irak nach Jahren der Terrorherrschaft endlich aufatmen? Keineswegs. Die eigentliche Herausforderung steht erst noch bevor.

Das letzte Gefecht um Mossul ist zu Ende. Die Stadt wurde aus dem Griff der Dschihadisten befreit und der „Islamische Staat im Irak“ geschlagen. Der „Emir von Mossul“ soll tot sein. Die Koalitionstruppen haben den Dschihadisten in den vergangenen Monaten kräftig zugesetzt. Und es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Provinz Anbar im Westen vollständig unter der Kontrolle der irakischen Armee ist.

Das war im Sommer 2008. Es dauerte dann noch einmal zwei Jahre, bis die USA den endgültigen Niedergang des Terrornetzwerks im Irak verkündeten. Wieder spielte Mossul eine zentrale Rolle, wieder rollten die Köpfe der Organisation. Schon damals gab es viele Stimmen, die davor warnten, die militärischen Erfolge gegen den „Islamischen Staat im Irak“ vorschnell als endgültigen Sieg zu verbuchen. Doch die Amerikaner waren überzeugt, dass sich die Organisa­tion ohne ihre wichtigsten Köpfe nicht schnell würde erholen können. Aus dem Krieg, den sie begonnen hatten, zogen sie sich danach zurück.

Dies kann als Geburtsstunde des IS bezeichnet werden, der vielleicht größten Terrororganisation, die es je gab. Ein Drittel des gesamten Irak und weite Teile Syriens sollte der Islamische Staat in den folgenden Jahren unter seine Herrschaft bringen. Wie konnte die Gruppe in kurzer Zeit ein so großes Gebiet erobern, obwohl sie doch eigentlich schon am Ende war?

Drei Lehren lassen sich aus der Geschichte ziehen: Eine militärische Niederlage bedeutet noch nicht das Ende einer Terrorgruppe. Ohne nachhaltige Stabilität kann eine solche Organisation immer wieder erstarken. Und: Eine Militärintervention hat unkalkulierbare Folgen und ist eine langwierige und kostspielige Angelegenheit, wenn sie Erfolg haben soll.

Heute sind die Tage des IS-­Kalifats ­gezählt. Anführer Abu Bakr al-Baghdadi soll angeblich getötet worden sein. In Mossul ist die letzte Schlacht geschlagen, die Stadt liegt in Trümmern. Die Nachrichten ähneln jenen von vor zehn Jahren. Eine Koalition aus ungleichen Bündnispartnern hat vor wenigen Wochen die letzten IS-Milizionäre in die Knie gezwungen, die sich noch verschanzt hatten. Als nächstes wird man sich die kleineren Städte und Orte vornehmen, die der IS noch hält.

Allianz der Feinde

Kurdische Peschmerga kämpfen an der Seite der irakischen Armee, das gab es hier noch nie. Die US-Luftwaffe unterstützt schiitische Milizen, darunter auch welche, die vom Iran geführt werden. Alle haben dasselbe Ziel: Sie wollen den IS so schnell wie möglich aus dem Irak vertreiben. Das Militär war schon überzeugt, dass das Staatsbildungsprojekt des IS endgültig gescheitert ist, bevor Mossul überhaupt befreit war. Doch wie kann man da so sicher sein nach allem, was das Land erlebt hat?

Kontrolle und Durchsetzungsstärke suggerieren – das ist entscheidend in einer Situation, die chaotisch und unübersichtlich ist. Die große Stärke der unterschiedlichen Kriegsparteien ist ihr gemeinsames Interesse, gegen die Dschihadisten vorzugehen. Dafür rauft man sich zusammen. Zugleich verfolgt jede Partei aber ihre eigenen Interessen; der IS ist nur der kleinste gemeinsame Nenner. Danach wird ein Machtkampf um die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ressourcen des Irak entbrennen: Premierminister Haider al-Abadi, dem die Armee untersteht, will die Befreiung Mossuls als seinen Sieg darstellen, um die Parlamentswahlen im nächsten Jahr zu gewinnen. Das wollen die schiitischen Milizen, seine politischen Gegenspieler, allerdings auch. Der Iran will einen Landkorridor über den Irak durch Syrien bis zum Libanon schlagen und sich damit einen Zugang zum Mittelmeer verschaffen. Das wiederum wollen die USA verhindern und gleichzeitig ­sunnitisch-dschihadistische Terrornetzwerke in der Region ein für alle Mal vernichten. Die Kurden wollen einen Kurdenstaat im Norden des Irak errichten.

Dieser Machtkampf ist schon länger in vollem Gange, denn jede Partei will vor allem ihre eigenen Interessen sichern. Es fehlen gemeinsame politische Vorstellungen für die Zeit nach der Terrorherrschaft. Für Stabilisierung, Wiederaufbau, Verwaltung, Sicherheit und gerechte Ressourcenverteilung gibt es keinen Fahrplan. Stattdessen ist der Irak zerrissener denn je: In Bagdad sitzt die schiitische Regierung, die vom Iran beeinflusst wird. Im Norden wollen die Kurden ihre Unabhängigkeit mit einem Referendum zementieren. Im Westen lebt die sunnitische Minderheit, die politisch keine Rolle spielt. Und im Süden sinnen die aus Mossul vertriebenen Schiiten auf Rückkehr und auf Rache.

Diese Gemengelage bietet den Nährboden, den der IS braucht, um sich zu regenerieren. Dass er dazu in der Lage ist, hat er nicht nur einmal bewiesen. Eine solche Organisation verschwindet nicht einfach. Was von ihr übrig ist, zieht sich in den Untergrund zurück. Auch so können Machtvakuen, Instabilität und politische Frustrationen benachteiligter Bevölkerungsgruppen instrumentalisiert werden.

Dies geschah in Anbar, im überwiegend sunnitischen Westen des Irak. Hier konzentrierte sich der Widerstand der Sunniten gegen das Regime-Change-­Projekt der USA, die 2003 in den Irak einmarschiert waren und die Regierung der sunnitischen Minderheit unter Saddam Hussein gestürzt hatten. Dabei war es nicht die große Militär­intervention, die den irakischen Staat am meisten zerstörte. Es war ein kleiner Verwaltungsakt: die Anordnung des Zivilverwalters Paul Bremer, die Armee und sämtliche Sicherheitsdienste aufzulösen, die Baath-Partei zu verbieten und ihre Kader aus dem Staatsdienst zu entfernen.

So entstand über Nacht der größte und qualifizierteste Rekrutierungspool, wie der Journalist Christoph Reuter es nennt, den sich Ex­tremistengruppen wünschen können. Hunderttausende Sunniten wurden zu Staatsfeinden erklärt. Sie waren gut ausgebildet, viele sogar militärisch trainiert, nun ohne Arbeit und Ansehen und entsprechend wütend. Aus diesem Pool schöpften die Terrororganisationen, aus denen später der IS hervorgehen sollte. Eine fatale Mischung aus religiösem Fanatismus und minutiöser Planung, wie nur alte Bürokraten der Baath-Partei sie beherrschten, bildete sich heraus.

Dem IS-Vorläufer „Al-Kaida im Irak“ gelang es, die Bevölkerung von Anbar auf seine Seite zu ziehen. Die Gruppierung organisierte den Widerstand gegen die Besatzungsmacht und gegen die von den USA eingesetzte schiitische Regierung. Aber auch mit islamistischer Politik, Geld und Waffen rekrutierte sie immer mehr Anhänger. Die Botschaft war simpel: die Amerikaner aus dem Land jagen und einen islamischen Staat im Irak errichten. Bald kontrollierte Al-Kaida große Teile der Provinz Anbar und war einem eigenen Staat sehr nahe. Damals schon prägte ihr Anführer Abu Musab az-Zarqawi eine Art Uniform, die zum Markenzeichen für eine ganze Generation von Dschihadisten werden sollte: Schwarz war jetzt die Mode, von der Kopfbedeckung bis zu den Schuhen. Das sollte die Anhänger kenntlich machen und Furcht einflößen.

Dann geschah, womit Al-Kaida nicht gerechnet hatte. Einige lokale Clanchefs wechselten die Seite. Denn der Terror von Al-Kaida traf immer häufiger auch ihre eigenen Leute. Weil sie das nicht länger hinnehmen wollten und um ihre gesellschaftliche Stellung fürchteten, mobilisierten sie ihre eigenen Milizen und taten sich mit der Polizei zusammen. Daraus wurde in kurzer Zeit eine raumgreifende Bewegung, das „Erwachen von Anbar“. Ihr gelang es, die Extremisten immer weiter zurückzudrängen. Die USA halfen dabei, statteten die Polizei aus, trainierten Bürgerwehren, initiierten Projekte für die Zivilgesellschaft und stellten viel Geld zur Verfügung. Das hatte Erfolg: In Anbar kehrten Sicherheit und Stabilität ein. 2011 aber zogen die amerikanischen Truppen ab – und mit ihnen Know-how, Ausrüstung und Geld.

Nun offenbarte sich, wie zerbrechlich die Stabilität von Anbar tatsächlich war. Die Regierung in Bagdad unter Nuri al-Maliki änderte Schritt für Schritt ihren Kurs und machte alles rückgängig, was die Amerikaner zuvor aufzubauen versucht hatten. Der Staat, in dem sich sowohl Kurden als auch Araber, Sunniten wie Schiiten repräsentiert fühlen sollten, war nicht mehr das Ziel. Vielmehr verfolgte Premier Maliki jetzt eine offen sunnitenfeindliche Politik. Viele sunnitische Politiker wurden verhaftet, die Armee von Sunniten und Kurden gesäubert, die oberen Ränge von Militär und Geheimdiensten fast ausschließlich mit Schiiten besetzt. In Anbar kam es zu Protesten, die bald in Unruhen umschlugen.

Sammelbecken für Frustrierte

Das war die Stunde der Dschihadisten. Die Anhänger Al-Kaidas hatten sich in den Untergrund zurückgezogen und auf asymmetrische Kriegführung verlegt. Obwohl die Bewegung keinen massenhaften Zulauf mehr hatte, überlebte sie als terroristische Keimzelle. Ihre Führer riefen bereits 2006, nach Zarqawis Tod, einen „Islamischen Staat im Irak“ aus und bündelten Al-Kaida und andere radikale Gruppierungen darunter. Irgendwann war die Gruppe jedoch so klein, dass es den ehemaligen Baath-Parteikadern aus Saddams Apparat gelang, den „Islamischen Staat im Irak“ zu übernehmen. Darunter waren Offiziere, Geheimdienstler und Bürokraten. Sie waren es wohl, die die Gruppe noch straffer organisierten und eine effiziente Verwaltung aufbauten. So schufen sie eine schlagkräftige Organisation, die mit perfider Akribie ihre politischen Gegner aus dem Weg räumte. Von nun an wurde jede noch so kleine Information gesammelt und über jeden und ­alles akkurat Buch ­geführt.

Mit den Protesten der Sunniten gegen die schiitische Regierung in Bagdad bot sich die Gelegenheit, sich erneut zu erheben – diesmal als ISIS ­unter Baghdadi, der sich zum Anführer deklarierte. Plötzlich tauchten überall in den Straßen Dschihadisten auf, in der Provinzhauptstadt Ramadi ebenso wie in kleineren Städten Anbars. Sie gewannen die ­aufgebrachte sunnitische Bevölkerung für sich und bewaffneten sie gegen die irakische Regierung. Die schickte die Armee nach Anbar. Doch es war zu spät.

Während Terrorzellen in einer koordinierten Aktion die Kontrolle in Provinzstädten an sich rissen, rollten aus der Wüste Pickup-Konvois mit Hunderten von Kämpfern in die Städte. Viele Soldaten flüchteten und ließen Waffen, Ausrüstung, Fahrzeuge, manchmal sogar Uniformen zurück. Der letzte Widerstand in der Bevölkerung brach, und ISIS überrannte im Frühjahr 2014 Checkpoints und Polizeistationen, dann auch die großen Städte Falludscha und Ramadi. Im Sommer eroberten die Dschihadisten innerhalb von Tagen Mossul und brachten große Teile des Nordirak unter ihre Kontrolle. In ­Syrien hatten sie sich bereits vom Osten her über Raqqa im Zentrum bis nach Aleppo im Westen ausgebreitet. Sie riefen das Kalifat aus und nannten sich nur noch „IS“. Jetzt hatten sie ihren Staat, wenngleich sich dessen Ausbreitung ständig veränderte.

Asymmetrische Kriegführung

Drei Jahre später und mit militärischer Unterstützung internationaler Streitkräfte ist das Staatsbildungsprojekt des IS gescheitert – territorial, politisch und ideologisch. Mossul ist befreit, und die letzten Kämpfer halten ein auf den Bruchteil seiner ehemaligen Ausdehnung geschrumpftes Territorium. Sogar die einstige IS-Hochburg Raqqa steht kurz vor dem Fall. Ist es das Ende der Terrorherrschaft?

Davon sollte man lieber nicht ausgehen. Es könnte sogar der Anfang eines neuen IS sein. Denn den Nährboden, der die Gruppe so schnell so stark wachsen ließ, den gibt es nach wie vor. Die konfessionelle Bruchlinie war vielleicht nie so tief wie nach der Rückeroberung Mossuls, wo Schiiten ihren sunnitischen Nachbarn nicht mehr vertrauen und umgekehrt. Genauso gibt es alte, frustrierte Kader ehemaliger autoritärer Regime und einen ständigen Nachschub an religiösen Fanatikern – nicht nur im Irak und in Syrien, auch in Ägypten, in Libyen und im Sudan. Überall dort, wo Bürgerkriegswirren Machtvakuen entstehen lassen, chaotische Zustände herrschen und es Regionen gibt, die schwer zu kontrollieren sind wie Wüsten oder Gebirge.

Die hohe Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit des IS und seiner Strategen macht es möglich, dass die Gruppe auch unter widrigen Bedingungen überlebensfähig bleibt. Darauf lässt auch ihre Kriegstaktik schließen, die wir immer wieder beobachten konnten. Zum Beispiel im syrischen Raqqa. Sie ist die nächste Stadt, deren Befreiung bald Schlagzeilen machen wird. Auch hier werden am Ende große Teile der Stadt verwüstet sein. Viele Zivilisten werden ihr Leben verlieren, andere flüchten. Dafür sorgen die letzten verschanzten Dschihadisten: Heckenschützen und Selbstmordattentäter. Sie verminen die Stadtviertel und liefern sich Straßengefechte mit den einrückenden Truppen, um die größtmögliche Zerstörung anzurichten. Gewinnen ist nicht mehr ihr Ziel.

Die Mehrheit der einstigen IS-Besatzer hat Raqqa längst verlassen. Diese Strategie hat sich in Syrien ausgezahlt. Statt sich auf ein direktes Gefecht mit einer anrückenden Truppe einzulassen, hat die Organisation nur eine kleine Guerillaeinheit in der belagerten Stadt zurückgelassen. Sie hatte den einzigen Auftrag, so viele Opfer wie möglich mit in den Tod zu reißen. Die Führungsriege setzte sich mit dem Gros der Kämpfer rechtzeitig ab. Schon Anfang des Jahres wussten US-Militärs, dass es so auch in Raqqa war. Terrorchef Baghdadi hätte sich demnach gar nicht mehr in der Stadt aufgehalten, als die Meldung kam, er sei einem russischen Raketenangriff zum Opfer gefallen.

Im Bürgerkriegsland Syrien gibt es viele Rückzugsorte für den IS. Besonders das Grenzgebiet zum West­irak südöstlich von ­Raqqa ist wie geschaffen dafür. Eine richtige Grenze existiert schon lange nicht mehr, dafür hat der IS gesorgt. Die irakische Armee ist weit weg und ohnehin wenig motiviert, sich auf einen Guerillakampf mit einer Truppe einzulassen, vor der sie nicht nur einmal in Scharen geflohen ist. In Mossul brauchten 1500 IS-Kämpfer gerade einmal drei Tage, um mit Pickups und Maschinengewehren mindestens 15 000 Soldaten und Polizisten mit Panzern, Kampfhubschraubern, Artilleriegeschützen und Raketenwerfern in die Flucht zu schlagen. Wer also sollte den IS daran hindern, sich in einen sicheren Hort zurückzuziehen und in aller Ruhe neu zu formieren?

Politische Kompromisse gesucht

Wie die meisten Probleme im Nahen und Mittleren Osten ist auch dieses Problem nicht allein militärisch zu lösen, sondern nur politisch. Die Erfahrungen der Vergangenheit im Irak und in Libyen zeigen, dass Militär­interventionen unkalkulierbare Folgen haben können. Sie sollten daher nur als allerletztes Mittel eingesetzt werden und an die Bereitschaft geknüpft sein, in dem Land der Intervention, wenn nötig, auch Jahrzehnte zu bleiben und viel Geld in den Wiederaufbau der Infrastruktur und staatlicher Strukturen zu investieren.

Die Konflikte, die den Aufstieg der Terrororganisation im Irak befördert haben, sind nicht aus der Welt. Es gibt hier immer noch viele Unterstützer des IS, der über verwandtschaftliche Bande eng mit der lokalen Bevölkerung des Irak verwoben ist. Besonders im Nordirak verschärfen sich die Konflikte des Landes: zwischen Arabern und Kurden, zwischen Schiiten und Sunniten und zwischen den angrenzenden Mächten Iran und Türkei, ja selbst unter den Kurden – von anderen Bevölkerungsgruppen wie Turkmenen, Jesiden, Assyrern oder Chaldäern, mit denen es zu ethnischen und religiösen Konfrontationen kommt, ganz ­abgesehen.

Der IS wird alles daransetzen, sektiererische Gewalt zu schüren, indem er vor allem die Schiiten weiter terrorisiert. Die Streitigkeiten zwischen den einzelnen Interessengruppen um Territorium, Ölquellen und politische Beteiligung sollten lieber heute als morgen durch politische Kompromisse beigelegt werden. Dazu müssen Regierungen aber aufhören, Politik als Nullsummenspiel zu begreifen. Denn dann ist Gewinnen nur möglich, wenn der Gegner verliert. Kompromisse, bei denen alle Parteien ein bisschen gewinnen, sind im Nullsum­menspiel ausgeschlossen. Das Problem ist nur, dass im Irak keine Gruppierung stark genug ist, die andere vollständig zu beherrschen, wie noch zu Zeiten Saddam Husseins. Die Politik des Nullsummenspiels richtet daher für alle Parteien vor allem Schaden an.

Zu viele Faktoren wirken im Nord­irak zusammen, die jederzeit zu einem offenen Bürgerkrieg führen können. Die Anwesenheit schiitischer Milizen in sunnitischen Regionen zum Beispiel sorgt für große Spannungen. Aus Rache sollen sie Kriegsverbrechen an sunnitischen Zivilisten begangen haben, denen sie den IS-Terror an Schiiten kollektiv in die Schuhe schieben. Teile der Milizen, die Haschd-al-Schabi, unterstehen offiziell Premierminister Abadi in Bagdad, werden aber aus dem Iran gelenkt. Auch das ist heikel, denn die Sunniten des Irak fühlen sich seit 2003 vom Iran bedroht. Seitdem stützt der östliche Nachbar die schiitische Regierung des Irak und weitet seinen Einfluss in der Region aus. Dass der Iran überhaupt zu so viel Macht in der Region gekommen ist, hat er den Amerikanern zu verdanken. Er musste nur das Machtvakuum füllen, das nach dem Sturz Saddam Husseins und des sunnitischen Regimes entstanden war.

Bei der Kontrolle der sunnitischen Territorien durch Milizen geht es aber um mehr. Sie sollen auch die wirtschaftlichen Interessen Bagdads absichern. Besonders um die Stadt Kirkuk, die zwischen Mossul und Bagdad liegt, wird gerungen: Die Kurden wollen das ölreiche Gebiet in ihren Staat eingliedern, über den sie im September ein Referendum abhalten werden. Die Regierung in Bagdad will das Ölgebiet um Kirkuk unter irakischer Kontrolle halten und die Gewinne nicht mit Sunniten teilen. Für die ansässigen Araber und Turkmenen ist es undenkbar, in einem Kurdenstaat und nicht mehr im Irak zu leben. Der Iran und die Türkei wollen die Unabhängigkeit Kurdistans ganz verhindern. Die Kurden wiederum haben ein berechtigtes Interesse daran, nicht mehr unter irakischer Verwaltung zu leben, seit sie Opfer von Saddam Husseins Giftgaskampagne in den 1980er Jahren wurden. Gleichzeitig verzichten die Kurden von Sulaimaniyya im Osten der kurdischen Gebiete lieber auf ihre Unabhängigkeit, als sich von dem unpopulären Masud Barzani beherrschen zu lassen, dem Präsidenten der autonomen Region im westlichen Erbil.

Testfall Mossul

Solange diese Konflikte im Irak – das Gleiche gilt für Syrien – nicht gelöst sind, wird sich ein IS immer wieder neu formieren können. Verhindern kann das nur ein inklusives System, in dem Schiiten, Sunniten und Kurden gleichermaßen an Politik und Wirtschaft beteiligt werden und gemeinsam Kompromisse finden müssen. Das schließt auch alte Baath-Parteikader ein oder ehemalige IS-Anhänger. Was mit ihnen geschehen soll, ist eine wichtige Frage für die Zukunft des Irak. Sie einfach ins Gefängnis zu stecken oder hinzurichten, wird den Kreislauf aus Unterdrücken, Unterdrücktwerden und Wiederunterdrücken nur ein weiteres Mal befeuern.

Mossul wird so zum Testfall für den gesamten Irak. Ganze Stadtviertel sind vollkommen zerstört, vor allem im Westen, der als letztes zurückerobert wurde. Fast eine Million Menschen wurden laut UN vertrieben, über 700 000 von ihnen befinden sich noch in Sammellagern außerhalb der Stadt oder sind auf der Flucht. Es kam zu Gräueltaten und Racheakten an mutmaßlichen IS-Anhängern und deren Verwandtschaft. Mehr als 170 Familien sollen laut Human Rights Watch von der irakischen Armee in so genannte „Rehabilita­tion Camps“ gebracht worden sein. Die UN fordern von Premier Abadi ein Ende der Kollektivbestrafungen.

Es wird sich zeigen, ob Sunniten und Schiiten ihre Stadt gemeinsam wiederaufbauen werden. Ob sie dann friedlich nebeneinander wohnen und ihre Kinder in dieselbe Schule schicken. Es gibt Hoffnung: Die ersten Schulen wurden im Ostteil Mossuls wieder geöffnet. Überall machen Frisörläden auf, in denen Bärte abrasiert und Kurzhaarfrisuren geschnitten werden. So tragen sie dazu bei, dass man wenigstens nicht mehr an der Haartracht auf den ersten Blick erkennen kann, ob jemand schiitisch oder sunnitisch ist.

Im Moment mag der IS am Boden liegen – das Kalifat, das wie ein Magnet kontinuierlichen Nachschub an Rekruten angezogen hat, gibt es nicht mehr. Mit ihm sind auch viele Geldquellen versiegt. Doch das Wiederauferstehungspotenzial der Organisation bleibt bestehen, vor allem solange die Probleme der arabischen Welt nicht gelöst sind. Autoritäre Regime, Korruption, Perspektivlosigkeit und hohe Arbeitslosigkeit lassen Sold und Ideologie des IS für viele junge Menschen in Marokko, Tunesien oder Ägypten immer noch attraktiv erscheinen. Sie könnten die Dschihadisten von morgen sein.

Dr. Susanne Kaiser arbeitet als ­Journalistin und schreibt vor allem über den Nahen Osten und Nordafrika.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 30 - 37

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