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01. Juli 2012

Die Konkurrenz schläft nicht

China, Russland und die Golf-Staaten positionieren sich im Mittelmeerraum

Nicht nur die EU muss ihre Politik in den arabischen Umbruchstaaten neu ausrichten. Die Politik von China, Russland und den Golf-Staaten im Mittelmeerraum ist ebenfalls im Wandel, erweist sich aber oft als aktiver als die der Europäer. Und die Konkurrenten stellen im Unterschied zur EU kaum Bedingungen.

Chinas Interessen im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika bleiben nahezu vollständig wirtschaftlicher Natur. Es sucht verlässliche Energiepartner, die Chinas schnell wachsenden Bedarf an fossilen Brennstoffen sättigen können. Deshalb hat sich Peking bislang damit begnügt, an seiner erklärten Politik der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten festzuhalten und schlicht als Handelstreibender in der Region aufzutreten. Der pragmatische Charakter der chinesischen Politik zeigt sich an dessen Verhältnis zu Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde. Zu Zeiten Maos war Peking noch ein vehementer Unterstützer der palästinensischen Sache; die Chinesen sahen die Palästinenser in erster Linie als Opfer imperialistischer Aggression, unter der ja schließlich auch China im 19. und frühen 20. Jahrhundert gelitten hatte. Für die Unterstützung chinesischer Interessen wie Pekings Ein-China-Politik suchte man entsprechend auch nach arabischen Partnern.

Mit dem Beginn der Reformen Deng Xiaopings gab China diese Haltung langsam auf. Die Ein-China-Politik war nicht mehr allzu dringlich, denn China wurde inzwischen von mehr Ländern als Taiwan anerkannt. Und mit einem gesicherten Sitz in den Vereinten Nationen verblasste das maoistische Ideal der Unterstützung revolutionärer Bewegungen im Ausland schnell. China begann, seine strategischen Interessen zu diversifizieren und in geheime Verhandlungen über Technologietransfers mit Israel einzutreten – schließlich galt es, den teils vollkommen veralteten Militärapparat zu modernisieren. Nun mögen den chinesisch-israelischen Beziehungen durch die mit Israel verbündeten USA Grenzen gesetzt sein. (Washington bedrängte Israel, luftgestützte Frühwarn- und Kontrollsysteme vom Typ Phalcon und später eine Weiterentwicklung der Drohnen vom Typ Harpy, die ohnehin ursprünglich aus den USA stammten, nicht an Peking zu verkaufen.) Dennoch hat Peking seine Militärbeziehungen mit Israel weiter ausgebaut, dabei aber auch das palästinensische Streben nach größerer internationaler Anerkennung weiter unterstützt. So hat China 2011 den Versuch der Palästinenser begrüßt, die UN-Vollmitgliedschaft zu erlangen.

Eine solch pragmatische Außenpolitik hat Peking auch gegenüber anderen Ländern der Region betrieben. Wenngleich es im Ölsektor des Landes insgesamt nur eine kleinere Rolle spielte, baute China die wirtschaftlichen Beziehungen mit Libyen aus. Wie tief sie waren, verdeutlicht die Tatsache, dass Peking zu Beginn der Unruhen in Libyen 36 000 chinesische Bürger evakuieren musste. Diese Aktion zeigte aber auch, dass Peking heute stärker willens und besser in der Lage ist, zum Schutz seiner eigenen Interessen auch im Ausland einzugreifen. (Die Intervention der NATO in Libyen unterstützte China hingegen nur indirekt mit seiner Enthaltung im UN-Sicherheitsrat.) Nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis begann Peking im Juni 2011, die Rebellen zu umwerben und lud den damaligen Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrats, Mohammed Dschibril, zu einem China-Besuch ein.

Wie in Libyen unterließ China es auch während der Aufstände in Ägypten, sich klar auf eine Seite zu schlagen – es verwies lieber beständig auf die Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilität als oberste Priorität. Heute besteht für China eine Chance, engere Beziehungen zu einem Land aufzubauen, dessen Regime vormals in Sachen militärischer Unterstützung von den USA abhängig und ein strategischer Partner Washingtons war. Bisher gibt es aber nur wenig Anzeichen dafür, dass Peking eine diplomatische Offensive in Kairo starten wird; noch wartet es ab, um zu sehen, was mit dem politischen Establishment des Landes nach den Wahlen geschieht.

Vor dem Hintergrund seiner weitgehend pragmatischen Beziehungen zu den Ländern, die vom Arabischen Frühling erfasst wurden, galt Pekings Sorge während der Unruhen tatsächlich mehr der Innen- als der internationalen Politik. Die kurzzeitigen und weitgehend gescheiterten Versuche von Anfang 2011, mit Hilfe der sozialen Medien eine ähnliche Revolution auch in China auszulösen, waren für die Kommunistische Partei Chinas ein drängenderes Problem als Regimewechsel in Staaten am anderen Ende der Welt, mit denen Peking größtenteils freundschaftliche Handelsbeziehungen unterhielt.

Das heißt nicht, dass Peking die NATO-Operation in Libyen ausdrücklich unterstützt hätte. China betrachtet jede militärische Einmischung in einem anderen Land weiterhin mit Argwohn. Gleichwohl fehlte es China in vielen Staaten des Arabischen Frühlings an strategischen Interessen, die eine stärkere Mitwirkung notwendig gemacht hätten. Die Ausnahme ist Syrien: In diesem Fall hat Peking UN-Sanktionen gegen das Assad-Regime recht unverblümt entgegengewirkt. Dies ist wohl dem Wunsch geschuldet, eine ähnliche Situation wie in Libyen zu vermeiden, wo die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats von den europäischen Staaten so großzügig ausgelegt wurden, dass sie faktisch einem Regimewechsel dienten.

Wichtig ist aber auch: Aufstände in einzelnen arabischen Ländern liefen chinesischen Interessen nicht zuwider. Der Arabische Frühling aber könnte insgesamt ein strategischer Rückschlag für Peking werden. Entwickeln sich dort tatsächlich Demokratien, so dürften sie eher zum Westen als zum autoritär regierten China tiefere Beziehungen knüpfen. Aber auch islamistische Regime wären weder in Chinas noch in Russlands Sinn. Sie könnten nicht nur zu einer Radikalisierung der Politik in den jeweiligen Ländern führen, sondern auch zu breiter Unterstützung oder gar handfesten Hilfen für islamische Extremisten beziehungsweise die islamischen Bevölkerungen in der chinesischen Provinz Xinjiang oder im Kaukasus. Aus diesem Grund halten es sowohl Russland als auch China für destabilisierend, im Fall Syrien die Ablösung eines säkularen Regimes in einem mehrheitlich vom sunnitischen Islam geprägten Land zu betreiben.

Ebenso wichtig sind allerdings Syriens Beziehungen zu Teheran: Der Iran ist sowohl Chinas drittgrößter Öllieferant als auch wichtigster Widersacher der USA – und somit ein diplomatischer Gewinn für Peking. Hat es sich im Fall Libyens der Kritik gebeugt, so hält Peking jetzt an seiner stillschweigenden Unterstützung für das Assad-Regime fest, was angesichts von Massakern wie dem von Hula immer schwerer zu rechtfertigen ist. Doch selbst im Fall Syrien obsiegt wohl Chinas Pragmatismus: Im Februar 2012 besuchte eine Delegation des syrischen Nationalen Komitees für Demokratischen Wandel vier Tage lang Peking; China begann, sich nach allen Seiten abzusichern und die diplomatischen Kanäle zur Opposition zu öffnen. Einen Regimewechsel in Syrien mag China wohl nicht unterstützen. Aber es wäre gern darauf vorbereitet.

Russlands Strategie

Für Russland stellt sich die Situation in Syrien deutlich anders dar als in den anderen Staaten des Arabischen Frühlings. Moskaus Ablehnung von UN-Sanktionen ist nicht nur als symbolischer Widerstand gegenüber den Forderungen der USA und Europas zu verstehen: Damaskus bleibt für Moskau ein Verbündeter von Gewicht. Syrien ist ein wichtiger Abnehmer russischer Waffen und gewährt Russlands Marine Zugang zu einer maritimen Versorgungsstation – Tartus ist der einzige Mittelmeerhafen, den die russische Marine ohne vorherige Genehmigung anlaufen kann. Im vergangenen Jahrzehnt hat Russland Syrien Waffen und anderes Material im Wert von annähernd 1,5 Milliarden Dollar geliefert. Damit ist Syrien weit davon entfernt, Russlands bester Kunde zu sein – ein regelmäßiger und nützlicher ist es dennoch.

Russland befürchtet, dass sich der Rückschlag, den es in Libyen hinnehmen musste, in Syrien wiederholen könnte. In Tripolis verlor Moskau durch den Sturz Gaddafis Waffenverträge im Wert von etwa vier Milliarden Dollar und den Zugang zur Ölindustrie für die staatseigenen Giganten Gazprom und Tatneft. Schon im September 2011 bekundete die Übergangsregierung, nicht mehr am Kauf russischer Waffen interessiert zu sein, und ob Tatneft überhaupt nach Libyen zurückkehren wird, ist noch unklar. Beide Entwicklungen unterstreichen die Risiken für Russlands Geschäftsinteressen in einem gewandelten strategischen Umfeld: Wenn um die Vergabe von Handelsverträgen gerungen wird, dann zahlt sich eine langjährige Unterstützung – allerdings für einen nunmehr gestürzten Diktator – nicht aus. Ein ähnliches Risiko für Russland besteht im Jemen, mit dem Moskau 2010 einen Waffendeal im Wert von einer Milliarde Dollar unterzeichnete und wo man für Gazprom Zugang zur im Niedergang begriffenen Ölindustrie des Landes erhielt.

Da Russland der Öl- und Gasimporte nicht bedarf, die die chinesische Diplomatie in der Region antreiben, liegt sein Augenmerk mehr auf der Erschließung von Handelsmöglichkeiten und dem strategischen Wettstreit mit den USA und Europa. Vor diesem Hintergrund und als generelles Zeichen des post-ideologischen Zeitalters hat Moskau seine Loyalitäten recht schnell gewechselt und sich den neuen Regierungen zugewandt. Auch wenn es versucht, seinen Einfluss in Ländern zu vergrößern, deren Beziehungen zu den USA eher schwierig sind, so ist Russland nicht länger an einem strategischen Nullsummenspiel interessiert, das es während des Kalten Krieges in der Region betrieb. In Libyen mochte Moskau wegen seiner Unterstützung für Gaddafi und seiner halbherzigen Annahme der UN-Sicherheitsratsresolutionen eher Nachteile haben. Umso stärker ist es bemüht, seine Beziehungen mit Tunesien und Ägypten zu erneuern und aufzuwerten.
Arabischer Aktivismus

Ein bemerkenswerter Aspekt des Arabischen Frühlings und seiner Folgen ist das direkte Eingreifen einiger arabischer Staaten beziehungsweise der Arabischen Liga in Mitgliedsländern der Liga. Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) stellten 2011 Kampfflugzeuge für die Überwachung der Flugverbotszone über Libyen bereit, und beide Nationen haben sich in der Arabischen Liga für Handelssanktionen gegen Syrien stark gemacht. Katar ist dabei besonders forsch aufgetreten.1 Ausdrücklich gefördert vom Emir Scheich Hamad bin Khalifa al-Thani und auf dem sicheren Fundament seines Ölreichtums hat sich Doha recht frei von Einmischungen seiner größeren Nachbarn seinen eigenen Weg gebahnt und dabei neuer Mittel bedient, um Katars Soft Power in der Region zu mehren. So hat der Nachrichtensender Al-Dschasira im Arabischen Frühling eine Schlüsselrolle gespielt: Ohne den in Katar ansässigen Sender wären die schnelle Verbreitung der Nachrichten und eine umfassende Debatte über die Aufstände und Forderungen der Demonstranten gar nicht möglich gewesen.

Katars Haltung mag von seiner langjährigen Förderung moderater islamistischer Bewegungen in der ganzen Region beeinflusst sein. So hat Doha die tunesische Ennahda-Bewegung, die bei den Parlamentswahlen 2011 zur stärksten politischen Kraft wurde, enthusiastisch unterstützt – Tunesiens neuer Außenminister Rafik Abdessalem hat in der Vergangenheit sogar als Forschungsdirektor für Al-Dschasiras „Studienzentrum“ gearbeitet. Zudem hat Doha der tunesischen Zentralbank 2012 einen 500-Millionen-Dollar-Kredit zu günstigsten Konditionen gewährt. In Ägypten und Syrien scheint die Muslimbruderschaft der größte Gewinner des Aufstands zu werden (ihre „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ gewann 2011/12 bei den ägyptischen Parlamentswahlen 213 von 508 Sitzen), und Katar hat seine Verbindungen zur Muslimbruderschaft stets sehr sorgfältig gepflegt. Auch andere Staaten wetteifern um Einfluss in den arabischen Umbruchstaaten. Saudi-Arabien hat beispielsweise Ägypten einen Kredit in Höhe von zwei Milliarden Dollar für die Belebung der Wirtschaft angeboten. Aber Katar ist wohl das Land, das die arabischen Revolutionen am stärksten unterstützt hat.

In Ergänzung zu dieser regionalen Hilfe ist der auf einmal erwachte Wille der Arabischen Liga, ihre Mitgliedstaaten zu kritisieren, im Fall Libyens sogar eine Militärintervention zu befürworten und im Fall Syriens das Land zu suspendieren, in gewisser Weise unerwartet gewesen – angesichts der Tatsache, dass viele der in der Liga vertretenen Regime ebenfalls gestürzt werden könnten. Doch über die forsche Rolle Katars hinaus, dessen Premier- und Außenminister Scheich Hamad bin Jassim bin Jabor al-Thani den Syrien-Ausschuss der Arabischen Liga leitet, hat die Organisation wohl erkannt, dass sie sich den populären Umbruchbewegungen nicht wird entgegenstellen können.

Allerdings sollte man nicht übersehen, dass Katar, die VAE oder die Arabische Liga zwar so manche arabische Revolution unterstützen, in anderen Fällen aber weit weniger bereit waren oder sind, sich zu engagieren. Tatsächlich hat Katar Soldaten für die „Golf-Schutztruppe“ abgestellt, die im März 2011 in Bahrain einmarschierte (alle sechs Mitglieder des Golf-Kooperationsrats schickten Truppen). Die Revolutionshilfe beziehungsweise -unterdrückung wird also selektiv gewährt oder betrieben: Vor dem Hintergrund oft erbitterter Streits war Muammar al-Gaddafi bei vielen Mitgliedern der Arabischen Liga alles andere als beliebt, und die Schwächung des iranischen Einflusses in Syrien ist ein Ziel, das viele arabische Staaten teilen. Doch eine Revolution in einem mehrheitlich schiitischen Land, die möglicherweise Irans Stellung stärkt, in einem Staat, der vor den Küsten Saudi-Arabiens und Katars liegt, war dann doch nicht nach dem Geschmack Riads und Dohas.

Die EU im Hintertreffen?

Vor diesem Hintergrund musste sich die Europäische Union öfter mit Neben­rollen begnügen. In Ägypten waren die USA der Hauptakteur, der versuchte, den Übergang zu beeinflussen, während sich die EU damit abmühte, die eigene Bedeutung in einer sich rasant entwickelnden Lage zu behaupten. Frühere Hilfen für das Land, das trotz des Transfers von 600 Millionen Euro wenig getan hat, um echte demokratische Reformen zu befördern, hat ihrer Stellung nicht gerade geholfen. Die Tatsache, dass Ägypten gegenüber der EU mit mehr als zehn Milliarden Euro verschuldet ist, bestärkt derweil den Eindruck vor Ort, dass die EU in ihrer Politik gegenüber Ägypten vor allem den eigenen Nutzen im Auge hat.

Die Situation in Ägypten verdeutlicht die Unsicherheiten der EU-Politik insgesamt, die durch den Arabischen Frühling entstanden sind – und durch ihr anfängliches Zögern, die laufenden politischen Veränderungen zu unterstützen. Dass islamistische oder erklärtermaßen islamische Regierungen in Nordafrika die Macht übernehmen könnten, ist eine der Hauptsorgen der EU. In solch einem Szenario mögen die pragmatischen, nicht an Bedingungen geknüpften Partnerschaften, die China und Russland anbieten, für die Länder der Region reizvoller sein. Zugleich könnten sie Beziehungen mit den Golf-Staaten oder der Türkei Priorität einräumen: Denn Staaten wie Katar oder die VAE oder die Arabische Liga haben sich während des Umbruchs aktiver und somit womöglich als geeignetere Partner gezeigt.

CHRISTIAN LE MIÈRE ist Research Fellow für Seestreitkräfte und maritime Sicherheit beim IISS. Zuvor war er Chefredakteur von Jane’s Intelligence Review.

  • 1Siehe hierzu auch Guido Steinberg: Katars neue Syrien-Politik, IP, Mai/Juni 2012, S. 82–88.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012, S 40-45

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