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01. Apr. 2005

Die Intifada der Unabhängigkeit

Kann der Libanon sein konfessionelles Korsett ablegen? Die Chancen stehen gut

Der Nahe Osten wandelt sich, und der Libanon hat endlich wieder die Chance, seinen eigenen Weg zu finden. Alle Teile der Bevölkerung protestieren vereint gegen die syrische Vorherrschaft. Kann endlich die konfessionelle Spaltung des Landes überwunden werden? Die Opposition will zur langen Tradition konstitutioneller Politik zurückkehren.

Die Ermordung Rafik Hariris hat in der Geschichte des heutigen Libanons ein neues, entscheidendes Kapitel aufgeschlagen. Libanesen bezeichnen die Demonstrationen, die seit dem Attentat stattfinden, als „Intifada der Unabhängigkeit“.

Der Kampf um die Unabhängigkeit mobilisierte die Opposition erst. Alles dreht sich um dieses Thema. Aber es geht um mehr: Hariris Ermordung und die Reaktionen darauf trugen auch zu einer nationalen Einheit bei. Mit Ausnahme eines Teiles der schiitischen Bevölkerung mischten sich bei den andauernden Sit-ins auf dem Beiruter Platz der Märtyrer die verschiedenen sozialen und konfessionellen Gruppen des Libanons in einer Intensität, die das Land seit der Erklärung seiner Unabhängigkeit im Jahr 1943 nie mehr erlebt hat.

Am Horizont erscheint jetzt ein Libanon, der sich von der Beherrschung durch das baathistische Regime befreit haben wird. Doch muss dieser Libanon auch erst erschaffen werden, und zwar entlang der im Vertrag von Taif1 1989 aufgestellten Regeln. Die folgenden Punkte sind der Versuch, dieses neue Kapitel zu entziffern.

Die syrisch-libanesische Beziehung

Die syrische Armee besetzte den Libanon im Juni 1976, um das Bündnis zwischen der libanesischen Linken und dem palästinensischen Widerstand zu bekämpfen. Grünes Licht erhielten sie dabei von den USA. Dann veränderten sich die Bündnisse, und die Syrer begannen die rechten Christenparteien zu bekämpfen, nachdem sie die Linke erfolgreich zu Vasallen degradiert hatten. Syrien beschränkte sich nicht auf eine Beobachterrolle. Die Armee nahm eindeutig am Kriegsgeschehen teil. 1990, am Vorabend des ersten Irak-Krieges „Desert Storm“, erhielt Syrien von der Regierung Bush sen. erneut grünes Licht, seine Kontrolle auf den ganzen Libanon auszudehnen. Damals wurde zwar Frieden geschaffen, aber um einen hohen Preis: die Aufgabe der libanesischen Unabhängigkeit.

Seit den frühen neunziger Jahren konnten die syrisch-libanesischen  Beziehungen zwar nicht mehr als Besatzung beschrieben werden. Doch ebenso wenig verstehen wir sie als freie Verbindung zwischen zwei souveränen Staaten. Am ehesten ist der Libanon ein syrisches Protektorat nach dem Muster der Sowjetherrschaft in Osteuropa, nur dass die syrische Herrschaft obendrein mafiöse Züge trägt. Der Libanon ist nicht nur von strategischer Bedeutung für das syrische Regime. Hier betreibt die herrschende syrische Elite gemeinsam mit libanesischen Partnern alle möglichen Arten illegaler Geschäfte.

Diese Situation ist eindeutig nicht mehr aufrechtzuerhalten – und sie war es in Anbetracht der Zähigkeit der libanesischen Zivilgesellschaft eigentlich nie. Was sich geändert hat, sind zwei Faktoren, die die Beziehung zwischen Syrien und dem Libanon geformt hatten: zum einen der innere Zusammenhalt des syrischen Regimes. Ganz eindeutig ist der Herrschaftsapparat unter Baschar al-Assad nicht mehr so monolithisch wie zu Zeiten seines Vaters Hafis.

Zum zweiten begann die Verschwörung des Schweigens zu bröckeln, die sich seit der syrischen Übernahme des Libanons im Jahr 1976 über das Land gelegt hatte, die sogar die Jahre nach dem Bürgerkrieg überdauerte und von der stillschweigenden Duldung der Besatzung durch die USA genährt wurde. Das hat sich gewaltig geändert, und selbst wenn wir nicht mit dem Prinzip der von der Bush-Regierung gegen Syrien verhängten unilateralen Sanktionen übereinstimmen, haben die nach dem „Syrian Accountability and Lebanese Sovereignty Restoration Act“ ergriffenen Maßnahmen eine neue Lage geschaffen, von der das Baath-Regime nicht profitieren wird.

Natürlich kann Syrien den USA immer noch „Dienste“ leisten. Aber im sich wandelnden Nahen Osten müssen solche Dienstleistungen nicht mehr vergolten werden, indem man ein drittes Land als Lohn der Mühen anbietet. Außerdem liegt jetzt die UN-Resolution 1559 vor,2 die zu Beginn der syrischen Kampagne verabschiedet wurde, um das Mandat des syrientreuen libanesischen Präsidenten Emile Lahoud zu verlängern.

Lahoud und der sicherheits-orientierte Staat

Das sicherheitsorientierte System ging der Wahl von Emile Lahoud zum Präsidenten im Jahr 1998 voraus. Aber unter seiner Regentschaft wurde der Libanon ein sicherheitsbesessener Staat, der sich mit großen Schritten in Richtung eines baathistischen Regimes bewegte, in dem Geheimdienste und Sicherheitskräfte die Bürger wie Feinde behandeln und sogar schon Kinder kontrolliert werden. Unter diesem Präsidenten wurde die Meinungsfreiheit am heftigsten eingeschränkt, obwohl viele libanesische Journalisten, Intellektuelle und Politiker es schafften, sich dagegen zu wehren.

Es mag ein Vorurteil sein, aber es ist schwer, etwas Positives über Lahouds Amtszeit zu sagen. Selbst die Befreiung des Südens von israelischer Besatzung war ein Ergebnis des Widerstands, kein Erfolg des Präsidenten. Und sogar diesen großen Erfolg haben Lahoud und seine Verbündeten – inklusive der Fundamentalisten der Hisbollah, die den bewaffneten Kampf gegen Israel führten – verspielt. Baschar al-Assad setzte eine weitere Amtszeit Lahouds entschieden und gegen den Willen der Mehrheit der libanesischen Gesellschaft durch, obwohl kein vernünftiger Grund für eine erneute Legislaturperiode dieses Präsidenten sprach.

Dass die Libanesen begannen, sich gegen die ihnen aufgezwungene Erneuerung des Mandats zur Wehr zu setzen, markiert vermutlich das Ende der politischen Apathie, die im Lande herrschte. Die alten Herrschaftseliten bleiben jedoch gefährlich, wie der Mord an Rafik Hariri gezeigt hat. Deshalb fordert die Opposition jetzt die Entlassung der Chefs der Geheim- und Sicherheitsdienste.

UN-Resolution 1559 und die nationale Kluft

Um bestimmte negative oder wenig enthusiastische Reaktionen über die UN-Resolution 1559 zu verstehen, etwa die des Drusenführers Walid Dschumblatt, muss man sich in den regionalen Kontext versetzen, der seit einigen Jahren gekennzeichnet ist durch die umfassende amerikanische Offensive. Die generelle Haltung gegenüber den USA bestimmt notwendigerweise die Position gegenüber der Resolution 1559. Trotzdem ist der Text selbst absolut verteidigungswürdig, sogar ehrenwert. Was sollte daran schlecht sein, die Souveränität des Libanons wieder herzustellen und die letzten übrig gebliebenen Milizen zu entwaffnen?

Man hat die nationale Spaltung über die Frage der syrischen Präsenz stark übertrieben. Viele Jahre lang hieß es, die Muslime seien prosyrisch, und deshalb seien bei Hariris Begräbnis die gewalttätigsten Slogans aus der sunnitischen Ecke gekommen. Tatsächlich gibt es in der politischen Elite prosyrische Kreise, aber es ist eine Elite, die hauptsächlich von der Hegemonie des syrischen Regimes eingesetzt und gehätschelt worden ist. Die schiitische Hisbollah nahm zwar die Ankündigung des syrischen Rückzugs zum Anlass, ihre Anhänger zur „Demonstration der Treue zu Syrien“ aufzurufen. Aber die Gegendemonstration vom 14. März, an der mehr als 800 000 Menschen teilnahmen, zeigte eindeutig, dass die Frage der syrischen Präsenz die Libanesen weit weniger spaltet, als es manchem lieb ist. Ohne Frage gibt es unterschiedliche Ansichten zum Abzug der Syrer, der Anwendung des Vertrags von Taif und der UN-Resolution. Doch sie beziehen sich auf Details und Verfahrensweisen oder auf eine Klausel der UN-Resolution 1559, die die Entwaffnung der Hisbollah vorsieht. Über die Notwendigkeit des Abzugs und die Beendigung der Hegemonie des Assad-Regimes über den Libanon ist man sich jedoch grundsätzlich einig.

Die Macht und die Opposition

Das syrische Regime kontrolliert den Libanon mit Hilfe seiner Sicherheitsdienste und einiger politischer Gruppierungen: die zwei entscheidenden sind die Amal-3 und Hisbollah-Milizen, aber man muss auch die politische Anhängerschaft des Innenministers Sleiman Frangié und die syrische National- und Sozialpartei dazurechnen. Die anderen syrientreuen Parteien sind bestenfalls Kunstprodukte, und auch die meisten Regierungsmitglieder, christliche wie muslimische, zeigen nur oberflächliche Loyalität für den großen Nachbarn.

Die Opposition ist sehr komplex. Sie umfasst einerseits die traditionellen christlichen Parteien und Gruppierungen, eingeschlossen die libanesischen Streitkräfte unter Samir Geagea, der seit zehn Jahren im Gefängnis sitzt, und moderatere Figuren wie Nassib Lahoud, Boutros Harb, Nayla Moawad und Samir Frangié, die sich alle unter dem Etikett „Versammlung von Kornet-Chahwan“ (benannt nach einem libanesisches Dorf) zusammengefunden haben. Die Gruppe, die eine sehr moderate Agenda vertritt, wird vom maronitischen Patriarchen geleitet. Walid Dschumblatt mit seiner Partei der fortschrittlichen Sozialisten ist vor allem in der drusischen Gemeinschaft stark vertreten.

Die Demokratische Linke wiederum wurde von Dissidenten der Kommunistischen Partei gegründet, umfasst aber auch Intellektuelle anderer linker Gruppierungen. Sie wird geleitet von Elias Atallah, einem der führenden Politiker der kommunistischen Bewegung des Libanons und der Nationalen Libanesischen Widerstandsfront gegen die israelische Besatzung. Außerdem gehören unabhängige Linke wie Habib Sadek dazu. Nach dem Mord an Hariri wurde die Opposition durch zwei wesentliche Bewegungen verstärkt: die Bewegung Hariris, die sich schon vor dessen Ermordung darauf vorbereitet hatte, sich der Opposition anzuschließen und jetzt voll und ganz in sie eingebunden ist. Und die Gruppe um den im französischen Exil lebenden General Michel Aoun.

Was Amal und Hisbollah angeht, war erstere ein bedingungsloser Anhänger des syrischen Regimes, doch sie hat begonnen, sich einen Platz in der politischen Landschaft des Libanons zu suchen. Die Hisbollah muss jetzt ihre strategische Allianz mit Syrien überdenken, da der syrische Rückzug unvermeidbar ist. Aber Amal und Hisbollah repräsentieren nicht alle Schiiten: Bei den Wahlen von 1996 und 2000 bekamen sie zusammen nur rund 50 Prozent der schiitischen Stimmen. An den Demonstrationen der Opposition nehmen zahlreiche Schiiten aus verschiedenen Gesellschaftsschichten teil, und auch im Milieu der Demokratischen Linken und bei den Pro-Hariri-Technokraten sind Schiiten vertreten.

Es wird auf die Wahlen im Frühling ankommen, um hier Klarheit zu schaffen. Sie müssen frei sein, das heißt sie müssen nach dem syrischen Rückzug und der Entlassung der Chefs der Sicherheitsdienste stattfinden, damit die Regierung – welche Gruppierung oder Gruppierungen sie auch immer stellen mögen – auch wirklich in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen. Dass der Nachfolger Rafik Hariris als Premier, Omar Karame, wiederum das Amt des Regierungschefs übernehmen sollte, wirkte wie eine Provokation, die die Protestbewegung ins Unrecht setzen sollte. Immerhin wird seiner Regierung die Verantwortung für die Ermordung Hariris zur Last gelegt.

Die Oppositionskräfte werden nur mit Karame verhandeln, wenn zwei wesentliche Forderungen erfüllt werden: der Rücktritt der Chefs der politischen Polizei und des Generalstaatsanwalts, die die Eckpfeiler des Polizeiregimes bilden und die Verantwortung für die Behinderung der Untersuchung des Attentats auf Hariri tragen. Und die Einsetzung einer mit allen Rechten ausgestatteten Internationalen Untersuchungskommission.

Hisbollah und die Zukunft des Widerstands

Niemand im Libanon besteht auf einer gewaltsamen Entwaffnung der Hisbollah. Eher will man mit Verhandlungen zu diesem Ergebnis kommen. Europa, mit Frankreich und Großbritannien an der Spitze, haben intensiv um einen solchen pragmatischen amerikanischen Ansatz geworben. Die libanesische Opposition hat dasselbe bei ihrem jüngsten Treffen mit dem amerikanischen Emissär David Satterfield ebenso klar gefordert. Nach den Äußerungen von Satterfield zu urteilen, scheint sich dieses Mal in Washington die Vernunft durchzusetzen. Laut Satterfield sei die Hisbollah ein innerlibanesisches Problem. Dem stimmte US-Außenministerin Condoleezza Rice in einigen in der New York Times veröffentlichten Artikeln zu. Es bleibt zu hoffen, dass Israel diese Anstrengungen nicht torpediert.

Die Hisbollah errichtet unter dem Vorwand des Widerstands, den nur sie allein führt, einen Staat im Staate im südlichen Libanon und in den südlichen Vororten Beiruts. Doch diese Rhetorik sollten wir auf Dauer nicht hinnehmen. Sicherheit für den Libanon kann nicht hergestellt werden, solange eine Partei versucht, eine so delikate und gefährliche Angelegenheit wie die von Krieg oder Frieden mit Israel zu kontrollieren. Wenn wir eine arabische Welt hätten, die vollkommen gegen Israel mobilisiert ist, wäre die Lage offensichtlich eine andere. Aber da Syrien so sehr wünscht, die Verhandlungen mit Israel wieder aufzunehmen, würde es einem nationalen Selbstmord gleichkommen, wenn die Hisbollah ihren bewaffneten Kampf um einen noch immer umstrittenen Fleck an der israelisch-libanesischen Grenze, die so genannten Sheba-Farms, weiter fortführen wollte.

Eine Reform des politischen Systems hat durch den Vertrag von Taif stattgefunden. Doch wurde dieser Vertrag durch die syrische Hegemonie seines Inhalts beraubt.

Welches politische System?

Jetzt kommt es darauf an sicherzustellen, dass die „Regelungen von Taif“ funktionieren können, wenn der Libanon einmal vom syrischen Diktat und den Einschränkungen durch die Sicherheitsdienste befreit ist. Außerdem gilt es dafür zu sorgen, dass das Kabinett die kollegiale Entscheidungsinstanz sein kann, so wie es Taif vorgesehen hat. Natürlich muss man sich jetzt auf die Lockerung des konfessionellen Zwangsgerüsts einstellen, aber das kann nur langfristig und in Stufen erfolgen. Dass sich für die Opposition sämtliche Konfessionen mobilisieren, ist ein gutes Zeichen.

Zumindest zeigt es, dass der Libanon eine bessere Zukunft verdient – was bedeutet, dass er seinen eigenen Weg finden sollte, passend zu seiner abwechslungsreichen Geschichte, die nicht nur auf die gewalttätigen Phasen reduziert werden sollte. Ja, der Libanon war ein Laboratorium der Gewalt, aber zuvor war er auch ein Labor der Moderne, und in einigen Aspekten ist er das immer noch. Der Libanon hat eine lange Tradition konstitutioneller Politik. Es wäre für den gesamten Nahen Osten von Vorteil, wenn der Libanon diese Geschichte wieder aufnehmen könnte.

1 In dem am 22. Oktober 1989 geschlossenen Abkommen von Taif wurde die konfessionelle Verteilung der politischen Macht im Libanon bestätigt und erweitert. Bereits nach dem Nationalpakt von 1943 galt die Regel, dass der Staatspräsident stets ein Maronit (Christ), der Ministerpräsident ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit zu sein habe. Darüber hinaus wurde in Taif festgelegt, dass die Parlamentssitze zu gleichen Teilen auf Christen und Muslime zu verteilen sind.

2 Der Text der Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrats ist in der Dokumentation auf Seite 141 zu finden.

3 Die schiitische Amal-Miliz ging 1975 aus dem sechs Jahre zuvor gegründeten „Höheren Schiitisch-Islamischen Rat“ hervor und gilt als dessen militärischer Arm. Sie operiert vor allem im Südlibanon und in Beirut.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2005, S. 96 - 100.

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