Die „europäische Wolke“ anders denken
Europa und Deutschland fallen bei vielen Technologien zurück, besonders aber beim Cloud-Computing – dem Zusammenschluss einer Vielzahl von Servern, die IT-Dienstleistungen wie Rechenleistung, Anwendungssoftware oder Speicherplatz über das Internet bereitstellen. Die globale Marktmacht liegt ganz klar in den Händen amerikanischer Tech-Riesen wie Amazon Web Services, Microsoft Azure oder Google Cloud; chinesische Anbieter wie Alibaba und Tencent versuchen, in diese Dominanz einzubrechen. Europäische Anbieter sind mit wenigen Ausnahmen in bestimmten Cloud-Sparten deutlich abgeschlagen. Daten europäischer Firmen und Institutionen sind deshalb bislang meist auf den Servern von US-Unternehmen gespeichert.
Gaia-X, die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im Oktober 2019 initiierte „europäische Cloud“, soll nun Abhilfe schaffen, auf zweierlei Weise: Zum einen soll Europa von den US-Cloud-Anbietern unabhängiger werden und europäische Firmen stärker in den Markt einbinden. Zum anderen soll der Schutz der Daten nach europäischen Standards garantiert werden. Allerdings geht es nicht um den Aufbau eines neuen, global konkurrenzfähigen „Hyperscalers“, sondern um die Verknüpfung verschiedener Anbieter zu einem föderierten Dateninfrastruktursystem. Jeder Cloud-Anbieter kann – soweit er die Gaia-X-Technologie verwendet und die europäischen Standards einhält – zu einem Knoten im Netzwerk werden und seine spezifischen Dienste anbieten. Vom Start-up bis zum Großkonzern soll so ein flexibler, interoperabler und nutzerfreundlicher Datenaustausch ermöglicht werden.
Gaia-X, seit Februar 2020 offiziell eine deutsch-französische Initiative, soll zwar eine Alternative zu zumeist amerikanischen Anbietern sein, steht aber auch Marktteilnehmern außerhalb Europas offen. In einer großangelegten Vorstellung im Juni 2020 gaben Altmaier und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire weitere Details zur technischen Umsetzung und Organisationsstruktur preis: Das „vielleicht ambitionierteste Digitalprojekt dieses Jahrzehnts“ (Altmaier) soll von einer in Belgien ansässigen Non-Profit-Organisation gesteuert werden, die von 22 deutschen und französischen Unternehmen, darunter Deutsche Telekom, SAP, Orange und Atos, gegründet wird. Bereits Ende 2020 soll die erste prototypische Umsetzung von Gaia-X vollzogen werden. Bis dahin sollen rund 300 Unternehmen in das Projekt eingebunden sein und dieses sich zu einer paneuropäischen Initiative entwickeln.
Souveränität über eigene Datenpools
In erster Linie soll Europa die Kontrolle über seine Daten zurückgewinnen. Ein transparentes Datenökosystem soll sicherstellen, dass sensible Informationen selbstbestimmt und unter dem Schirm der strengen europaweiten Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gespeichert und verwendet werden. Konfliktpotenzial birgt in dieser Hinsicht der US Cloud Act, der es amerikanischen Behörden theoretisch ermöglicht, Daten von US-Cloud-Providern anzufordern, auch wenn diese sich auf Servern in Europa befinden. Laut Altmaier soll Gaia-X ähnlich wie die DSGVO zu einem „Goldstandard“ werden.
Doch es geht nicht nur um „Datensouveränität“. Vielmehr soll die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten europäischen Tech-Industrie gesichert werden. Dafür werden Daten gebraucht, und diesen Grundbaustein soll Gaia-X liefern. Dazu sollen kleinere Datenmengen zu einem ausgedehnten Datenpool zusammengeschlossen werden, der sich durch offene Schnittstellen und einheitliche Standards auszeichnet. Diese Datenverfügbarkeit soll Europas Innovationskraft ankurbeln; besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Weiterentwicklung und Anwendung von Systemen Künstlicher Intelligenz (KI) und dem Internet der Dinge. Die EU-Kommission setzt mit ihrer Europäischen Datenstrategie und dem damit verbundenen Daten-Binnenmarkt dort an.
Doch unabdingbar ist dafür zunächst eine größere Akzeptanz von Cloud-Computing. Im Vergleich zu den USA wird das Potenzial von hiesigen Anwendern wenig genutzt. Gaia-X soll einen Anreiz für Unternehmen schaffen, die eigenen Daten einer Cloud anzuvertrauen. Diese Überzeugungsarbeit dürfte nicht leicht werden.
Und es gibt weitere Hindernisse: Das bisher geplante Finanzierungsvolumen aus privater und öffentlicher Hand in zweistelliger Millionenhöhe für die kommenden Jahre nimmt sich in Anbetracht der Komplexität des Projekts und der enormen Ausgaben der globalen Konkurrenz noch bescheiden aus. Amerikanische und chinesische Tech-Riesen investieren teils zweistellige Milliardenbeträge jährlich in den Ausbau von Cloud-Infrastruktur.
Die komplexe technische Umsetzung ist ein weiterer Knackpunkt, und viele Details sind noch zu klären. Kann Gaia-X in puncto Leistungsfähigkeit und Kosten, Anwendbarkeit und Operabilität mit der starken Konkurrenz mithalten, Unternehmen und weitere europäische Staaten von sich überzeugen und somit zu einem paneuropäischen Projekt werden? Streng genommen ist die Einladung an US-Cloud-Anbieter, sich an dem Projekt zu beteiligen (Silicon Valley signalisierte bereits Interesse), ein unausgesprochenes Eingeständnis, dass das Vorhaben ohne die großen Hyperscaler von der anderen Seite des Atlantiks kurz- und mittelfristig nicht realisierbar ist.
Auch wenn gerade Gaia-X größerer europäischer Souveränität im digitalen Raum dienen soll, wird deutlich, wie schwierig dieses Ziel zu erreichen ist – bei der Cloud, aber auch auf anderen Technologiefeldern wie beispielsweise der Halbleiterindustrie oder bei der Bereitstellung eigener Betriebssysteme. Dieses Ideal muss anders gedacht werden. Denn es kann mittelfristig nicht bedeuten, dass – wie beispielsweise von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Ansprache vor dem EU-Parlament im November 2019 gefordert – Europa über „mastery und ownership“ in nahezu allen Technologiebereichen verfügt.
Der Fokus sollte realistischer Weise auf Europas technologischer Handlungsfähigkeit liegen. Um diese sicherzustellen, sollte sich die EU einerseits auf die Förderung eigener Innovationen und Firmen konzentrieren, andererseits (notgedrungen) die rechtlichen Rahmenbedingungen abstecken, eine einheitliche Standardisierung definieren und den sicheren Zugang zu oftmals von ausländischen Anbietern bereitgestellten digitalen Dienstleistungen gewährleisten – gerade in den schwer aufzuholenden Technologiesparten wie dem Cloud-Computing. Europa muss sich schnell den verändernden Wettbewerbsstrukturen anpassen, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit in Zukunft zu festigen, und kann es sich schlicht nicht leisten, auf eine „echte“ europäische Wolke zu warten.
Gaia-X könnte wegweisend für ein solches Vorgehen werden: Wenn der deutsch-französische Motor gerade beim Thema Cloud zündet und dieser „Mondflug“ (Altmaier) glückt, wäre es ein wichtiges Zeichen des Aufbruchs für Europas Wettbewerbsfähigkeit und Gestaltungsanspruch.
Emilia Neuber studiert International Relations an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve.
Kaan Sahin ist Research Fellow für Technologie und Außenpolitik bei der DGAP.
Internationale Politik 4, Juli/August 2020; S. 110-111