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01. Juli 2019

Nationalismus 4.0

Anstatt globale Vernetzung zu fördern, können neue Technologien wie Künstliche Intelligenz auch zu verstärktem Protektionismus führen

Es klingt im ersten Moment paradox: Neue Technologien, die Menschen verschiedener Länder verbinden und das Territorialprinzip eigentlich aufweichen, sollen zu einem verstärkten „Tech-Nationalismus“ und Protektionismus führen. Erste Anzeichen belegen jedoch, dass sich diese These bewahrheiten kann und nicht nur auf spezifische Technologien beschränkt. Begleitet wird diese Tendenz von einem allgemeinen Erstarken national orientierter Regierungen, auch in Demokratien wie den USA, Indien oder Brasilien. Doch was bringt Staaten dazu, diese Entwicklungen mitzumachen, sie sogar voranzutreiben? Die Antwort liegt in einer Kombination aus globalem Technologiewettrüsten, fehlender rechtlicher Einbettung, einem Zuwachs von Graubereichen und den digitalen Möglichkeiten der innerstaatlichen Kontrolle.

Ein Beispiel hierfür ist die Konkurrenz im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI): Hellhörig wurden die politischen Entscheidungsträger in Washington im Juli 2017, als die chinesische Regierung ankündigte, bis 2030 die globale Dominanz bei KI erreichen zu wollen. Wenn man KI als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts betrachtet, hat der zu erwartende Hegemonialkonflikt zwischen den USA und China durch diese Ankündigung eine neue Qualität erhalten. Die ersten Reaktionen aus Washington ließen nicht lange auf sich warten. So hat das Committee on Foreign Investments in the United States die Bedingungen für ausländische Firmen verschärft, in amerikanische Tech-Unternehmen zu investieren. Chinesische Gaststudenten erhielten in Einzelfällen keine Visa für Forschungen in sensiblen Technologiefeldern.

Angesichts der zentralen Bedeutung von disruptiven Technologien für die künftige Entwicklung von wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten sollten diese Maßnahmen nicht nur als technische Dimension des derzeitigen Handelskonflikts abgetan werden, sondern sie sind womöglich der Beginn eines neuen „Tech-Krieges“ zwischen den USA und China.

Im Zuge dieser Entwicklungen verbreitet sich der Begriff „AI­ Nationalism“, der von dem britischen KI-Experten Ian Hogarth geprägt wurde. Dieser impliziert, dass Staaten ausländische Investitionen und Übernahmen von KI-Start-ups bremsen oder gar verbieten, die Beziehungen zu nationalen Unternehmen – oder sogenannten „nationalen Champions“ – intensivieren sowie Standards und ­Regularien international so setzen, dass die nationale Industrie davon profitiert. Doch es wäre zu kurzsichtig gedacht, diesen Trend einer wachsenden nationalen Ausrichtung nur auf Künstliche Intelligenz zu beschränken. So hat die Regierung in Moskau beschlossen, den Internetverkehr im eigenen Land bald nur noch über russische Server laufen zu lassen. Laut russischer Lesart soll dies dazu führen, dass das Internet „vor Einflüssen von außen“ (Senator Andrej Klischas) geschützt wird und dass bei einer Störung, zum Beispiel durch einen Cyberangriff von außen, das Internet trotzdem funktioniert. Kritiker befürchten jedoch eine weitere staatlich angeordnete Kontrollmaßnahme gegen die Freiheiten im Netz, nachdem schon zuvor versucht wurde, den Messenger-Dienst Telegram zu blockieren.

Bereits im Januar 2017 verkündete die chinesische Regierung die Einführung von staatlich lizensierten Virtual Private Network Software (VPN)-­Clients, was jedoch den eigentlichen Zweck dieser VPN-Dienste, nämlich die Verschlüsselung der Internetkommunikation und die Umgehung von möglichen Zensurmaßnahmen, ad absurdum führt. Diese Maßnahme steht sinnbildlich für die „Great Firewall of ­China“, den Sammelbegriff für staatliche ­Internetzensur. Auch wenn die technische Wirksamkeit einer solchen „souveränen Internet­infrastruktur“ immer wieder infrage gestellt wird, stärkt dies den Trend, dass das Digitale in den Dunstkreis nationalistischer Denkmuster gleitet. In diesen Kontext fällt auch das Horten von Daten, um bei der Datenökonomie im internationalen Vergleich die Oberhand zu haben.

Mit technologischem Wettrüsten zu nationaler Stärke

Zunächst wären hier die Erfolgsaussichten zu nennen, die mit neuen Technologien für das potenziell exponentielle Wachstum der eigenen Wirtschaftskraft und der militärischen Stärke verbunden werden. Nicht umsonst wird die Durchschlagskraft der Künstlichen Intelligenz mit der Nukleartechnologie (um den Dual-Use-Charakter, das heißt die gleichzeitige Nutzung für zivile und militärische Zwecke zu betonen) beziehungsweise mit der Elek­trizität (aufgrund der vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten) verglichen und werden Daten als Rohstoff der Zukunft betrachtet. Deshalb verwundert es nicht, dass sich die disruptiven Technologien als künftige Kampfzone um die globale Vorherrschaft zwischen Washington und Peking entwickeln. Ganz im Sinne des „First Mover Advantage“ versuchen beide Nationen, ihre ­Technologien vor geistigem Diebstahl zu schützen und zeigen dabei protektionistische Ansätze. So betont die im Februar 2019 von Präsident Trump veröffentlichte Executive Order „Accelerating America’s Leadership in Artificial Intelligence“, dass der Vorsprung bei KI sowie bei Technologien im Allgemeinen gegenüber „strategischen Wettbewerbern und ausländischen Gegenspielern“ geschützt werden soll. In amerikanischen Regierungskreisen ist die Ansicht weit verbreitet, dass der steile Aufstieg chinesischer Tech-Konzerne wie Tencent oder Alibaba durch Nachahmung oder Diebstahl von Technologien „made in USA“ erfolgte. Angesichts der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen chinesischem Staatsapparat und nationalen Unternehmen im Technologiebereich und des erschwerten Zugangs zum Silicon Valley für Akteure wie das Pentagon macht sich innerhalb der Trump-Regierung die Sorge breit, dass der Innovationsvorsprung zu China schwindet.

Es wäre jedoch zu kurz gedacht, diese allgemeine Entwicklung auf zwischenstaatliche Großmachtkonkurrenz zu beschränken. Auch andere Staaten, insbesondere Mittelmächte, erhoffen sich mithilfe von Investitionen in neue Technologien einen wirtschaftlichen und militärischen Entwicklungssprung. Dazu gehören auch Demokratien wie Indien, Israel und Südkorea, die in dauerhafte militärische Konflikte verwickelt sind und sich deshalb eher gedrängt sehen, in Denkmustern des nationalen Interesses zu verharren. Auch zeigt sich in bisherigen KI-Strategien ein Führungsanspruch, der mit großangelegten Plänen staatlicher Subventionen (wie in Großbritannien) oder staatlichen Genehmigungen bei ausländischen Übernahmen von KI-Unternehmen (wie in Frankreich) einhergeht. Vor allem die französische Regierung unter Staats­präsident Emmanuel Macron hat wiederholt Ambitionen im KI-Bereich gezeigt, die den Aufbau nationaler Champions und großangelegter Investitionen in Forschung und Entwicklung mit sich bringen sollen.

Die Aussicht auf Wachstum, aber auch die Angst, abgehängt zu werden, führen dazu, dass Datenflüsse nach außen blockiert werden. Immer mehr nationale Gesetze verbieten Unternehmen den Datenexport, was einem Datenprotektionismus gleichkommt. So hat Russland bereits 2015 die ­Lokalisierungspflicht der Server für personenbezogene Daten von Bürgern eingeführt. Protektionismus und Konkurrenzdenken machen auch nicht vor technischen Komponenten halt, was an der derzeitigen Debatte um Huawei und den 5G-Netzausbau deutlich wird.

Zähe Verhandlungen auf multilateraler Ebene

Dieser globale Technologiewettlauf mit der Förderung nationaler Interessen geht einher mit internationaler Rechtlosigkeit. Alle diesbezüglichen Verhandlungen sind bislang mehr oder weniger festgefahren, was sich beispielweise im Cyberraum zeigt: Nach Ansicht westlicher Staaten soll das Völkerrecht im Cyberraum vor allem zum Schutz kritischer Infrastruktur sowie Soft- und Hardware angewandt werden. China und Russland wollen hingegen auch die Informationen an sich global regulieren, weil sie diese als Gefahr für die eigene Sicherheit sehen. Diese Uneinigkeit ist im November 2018 ­erneut hervorgetreten: Russland hat – parallel zur UN Group of ­Governmental ­Experts – eine „Open-Ended Working Group“ im UN-Rahmen gebildet, die für alle 193 Mitglieder offen ist und die inhaltliche Diskussion ausweiten soll. Kritiker befürchten jedoch, dass die Verhandlungen um Normen im Cyberraum dadurch noch mehr ausgebremst werden.

Ähnlich zäh sind die völkerrechtlichen Verhandlungen über Tödliche Autonome Waffensysteme (LAWS), was mit dem skizzierten Wettrüsten zusammenhängt. Auch westliche Staaten wie die USA und Großbritannien gehören zu den Ländern, die sich gegen ein komplettes Verbot von LAWS aussprechen. Ob die von der Europäischen Kommission jüngst veröffentlichten Leitlinien zur KI-Ethik oder die von den OECD-Staaten erlassenen KI-Prinzipien auch globalen Anklang finden, muss daher abgewartet werden. Aber sogar in diesem Bereich zeigt sich eine zunehmende Konkurrenz, da auch die vom chinesischen Staat unterstützte Beijing Academy of Artificial Intelligence (BAAI) im Mai 2019 eigene „Beijing AI Principles“ veröffentlicht hat.

Alle bisherigen Anstrengungen zur Einhegung disruptiver Technologien – in ethischer oder zwischenstaatlicher Perspektive – waren nicht erfolgreich. Das Fehlen eines rechtlich bindenden Multilateralismus ist jedoch ein Nähr­boden für nationalistische Alleingänge und eine Politik der Isolierung.

Graubereiche gleich Verunsicherung

Neue Technologien führen auch dazu, dass die Graubereiche der internationalen Politik größer werden. Nicht nur unterschiedliche Interessen der Staaten behindern multilaterale Übereinkünfte, sondern auch das Verschwimmen oder gar das Auflösen bestehender Ordnungskategorien. Die dezentrale, nicht hierarchische und eigentlich nonterritoriale Struktur des Internets sowie die potenziell doppelte Anwendung von Technologien für zivile und militärische Zwecke stehen hierfür sinnbildlich. Wie sieht es mit der Anwendung des Völkerrechts im Cyberraum und in Bezug auf die Regulierung des Internets aus? Wie lässt sich Rüstungskontrolle im Dual-Use-Kontext verwirklichen? Können Erkenntnisse und Standards der KI-Forschung zu globalen Gemeinschaftsgütern werden? Gerade bei Technologien wie der Künstlichen Intelligenz mit neu hinzugekommenem Regulierungsbedarf wird es viele offene Fragen geben.

Die Antworten sind nicht nur äußerst komplex, sondern können auch zu Ratlosigkeit und allgemeiner Verunsicherung führen. Angesichts fehlender rechtlicher Einhegung können existenzielle Verlustängste und Misstrauen gefördert werden, die von globalen Machtverschiebungen ausgehen. Folglich besinnen sich Staaten auf ihre eigenen nationalen Politiken und Fähigkeiten. Dies zeigt sich zum Beispiel bereits bei Hackerattacken, wenn Staaten teils sehr zögerlich und spät ihre Verbündeten unterrichten.

Technologien als „Enabler“ für Autokraten

Da nationalistische Vorgehensweisen nach außen hin oftmals auch ein Ausdruck von innenpolitischen Gegebenheiten sind, spielt der Umgang mit Technologien in den eigenen Grenzen eine wichtige Rolle. Das bereits angesprochene Abschotten des Internets und die Unterbindung des Datenverkehrs mit dem Ausland durch autoritäre Staaten sind nur einige Beispiele dieser nach innen hin restriktiven Maßnahmen. KI-basierte Programme oder IT-getriebene Sozialkreditsysteme kommen immer mehr für die Überwachung der eigenen Bevölkerung zum Einsatz, wie das chinesische Beispiel zeigt. Andere autoritäre Regime können diese Maßnahmen nachahmen oder haben dies bereits getan. So ist die Regierung in Simbabwe im März 2018 eine strategische Partnerschaft mit dem staatsnahen Start-up CloudWalk aus dem chinesischen Guangzhou eingegangen. Diese beinhaltet auch den Export eines Gesichtserkennungsprogramms, das unter anderem für die Strafverfolgung angewendet werden soll.

China und Russland nutzen ihre diplomatische und wirtschaftliche Macht, um global technische Standards zu setzen, die gegen die Idee eines freien und überstaatlichen Internets gerichtet sind und für die nationale Kontrolle von Servern werben. Diese staatliche Überwachung müsste sich langfristig einer internationalen Kontrolle und einem globalen Multi-Stakeholder-Ansatz mit Einbindung ziviler Akteure entziehen, um ungestört wirken zu können. Deshalb würden diese Staaten eher dem Ansatz des Tech-Nationalismus folgen als einem Konzept des Multilateralismus. Die Frage, wie Technologien im Innern angewandt werden, wird den Wettbewerb zwischen liberalen Demokratien und digitalen Autokratien wesentlich mitbestimmen.

Deutschland und Europa unter Zugzwang

Was bedeutet all das für die Bundesregierung? Es ist selbsterklärend, dass diese Entwicklung dem traditionell deutschen Eintreten für den Multilateralismus auf internationaler Ebene zuwiderläuft. Angesichts der steigenden Bedeutung des Digitalen wird internationale Technologiepolitik zum wichtigsten Spielfeld zwischen Multilateralismus und Nationalismus.

Selbst wenn sich Deutschland im unwahrscheinlichen Fall am Tech-Nationalismus beteiligen würde, käme die noch viertgrößte Volkswirtschaft sehr schnell an ihre Grenzen. Für technologisches Aufrüsten mit ­protektionistischem Anstrich in einer Umgebung der internationalen Zügellosigkeit fehlen hierzulande schlichtweg die Bedingungen: Eine zukunftsträchtige Strategie und die Quantität in Sachen Datenökonomie sind im internationalen Vergleich nicht vorhanden beziehungsweise nur schwach ausgeprägt. Ein KI-Ökosystem ist erst in Ansätzen zu erkennen – wohingegen das Silicon Valley in den USA oder die zivil-militärische Fusion in China längst dabei sind, ihren Vorsprung auszubauen.

Daher bleibt der Bundesregierung nichts anderes übrig, als im Zuge einer europäischen Schicksalsgemeinschaft aktiv gegen diesen Trend vorzugehen. Hierfür müssen Berlin und seine europäischen Partner im Eiltempo ihre Hausaufgaben erledigen: die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Datenraums und eines KI-Ökosystems. Die EU-Staaten müssen festlegen, wie „digitale Souveränität“ – eine immer stärker werdende Forderung aus der Gesellschaft – definiert werden kann, ohne in nationale Paradigmen zu verfallen. Dabei sollte sich der Diskurs zur staatlichen Souveränität im Digitalen vor allem um mehr Bürgerrechte drehen und weniger um militärpolitische Gesichtspunkte. Erst dann können gemeinsame europäische Resolutionen und Positionen selbstbewusst in einen multilateralen Rahmen eingebracht werden, ohne untereinander in Widersprüche zu geraten. Vor allem die Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich ist hierbei wichtig: Beide Staaten haben bereits erste Ansätze bei der Zusammenarbeit im KI-Bereich entwickelt und gehören zu den wichtigsten Akteuren bei der Gestaltung der Initiative „Allianz der Multilateralisten“. Auch das Eintreten für ein freies Internet und gegen Abschottung sind im Sinne europäischer Werte.

Die Bundesregierung sollte langfristig planen und weiterhin versuchen, die USA davon zu überzeugen, bei Technologiefragen auch in Zukunft ihre traditionelle Haltung für eine liberale internationale Ordnung zu zeigen. Berlin könnte Washington darauf hinweisen, dass frühere protektionistische Maßnahmen in der Technologiepolitik zu unerwünschten Ergebnissen geführt haben: Die protektionistischen Maßnahmen der Reagan-Regierung in den 1980er Jahren gegenüber japanischen Firmen im Technikbereich führten nach Ansicht vieler dazu, dass diese Unternehmen später in manchen Bereichen den Markt dominierten. Auch der von den USA verfügte Ausschluss Chinas von der Zusammenarbeit im Kontext der ISS-Raumstation hat dazu geführt, dass Peking intensiver an einem eigenen Raumfahrtprogramm arbeitet.

Vor diesem Hintergrund muss die Bundesregierung auf europäischer und internationaler Ebene viel Überzeugungsarbeit leisten und in der EU als Vorbild voranschreiten. Denn ein um sich greifender Tech-Nationalismus würde angesichts der eigenen begrenzten Möglichkeiten automatisch zu einer ständigen Abhängigkeit Deutschlands von digitalen Großmächten führen.

Kaan Sahin ist Research Fellow für Technologie und Außenpolitik bei der DGAP und berät das Auswärtige Amt in ­diesen Fragen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2019, S. 19-24

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