Die erschütterte Festung
Brief aus... Zürich
Nur widerwillig nimmt die Schweiz Abschied von der Illusion, dass ihr die Finanzkrise nichts anhaben kann. Doch die Geldkammer der Welt braucht mehr Kontrolle
„Wir können dem lieben Gott danken, dass die Schweiz sich felsenfest außerhalb der Europäischen Union behauptet“, schrieb Roger Köppel, Chefredakteur und Verleger der Zürcher Weltwoche, am 16. Oktober. „Heute steht das Land vor der Aufgabe, seine liberalen Errungenschaften gegen staatliche Allmachtsfantasien und einen antikapitalistischen Backlash in Europa zu verteidigen.“ Die triumphierende Titelschlagzeile: „La crise n’existe pas“ (Die Krise existiert nicht), auf die absolute Unerschütterlichkeit des Schweizer Bankensystems anspielend, war kaum trocken, da verkündete die Schweizer Regierung gleichentags etwas verkniffen, leider existiere die Krise halt doch, und zwar ziemlich heftig. Man schritt, was niemand im Alpenparadies für möglich gehalten hatte, zur vorübergehenden Teilverstaatlichung der größten Bank des Landes, der UBS.
Wie keine andere Bank hatte sie sich in den USA mit kontaminierten Hypo-Papieren verzockt und schrieb in ihren Büchern über 45 000 Millionen Franken ab. Der Schweizer Staat sprang über Nacht mit mindestens 60 Milliarden Franken zur Hilfe, sonst hätte der Bank die Zahlungsunfähigkeit gedroht. Die zweite Großbank des Landes, die Credit Suisse (CS), rettete sich mit dem rasch beschafften Geld eines Investors aus Katar – vorerst, heißt es.
Die Bilanzsumme allein dieser beiden Geldriesen liegt bei 3,2 Billionen Franken. Das ist achtmal so viel, wie das gesamte Volkseinkommen des Landes beträgt. Schweizer Banken verwalten etwa ein Drittel des privaten Anlagekapitals der Welt. Wanken diese Banken, wankt die Schweiz. Und nicht nur sie. In der Kleinstadt Olten, in der Mitte des Dreiecks Basel–Bern–Zürich, liegen 22 Meter unter der Erde und acht Meter tief im Grundwasserstrom in einem Bunker Wertpapiere von drei Billionen Franken. Das sind 3000 Milliarden Franken, profan verstaut in 30 000 grauen und grünen Plastikkästen. Einige hundert Milliarden Franken gehören deutschen Anlegern – zum größten Teil dem deutschen Fiskus entzogenes Schwarzgeld.
Der Oltener Bunker ist eine der größten Schatzkammern der Welt, den meisten Schweizern ist er jedoch unbekannt: Ihre Medien berichten nicht darüber. Sogar zu sich selbst ist man überdiskret, sobald es um Bankangelegenheiten geht – ein Beweis für das Festungsdenken, an dem bisher keiner rüttelte.
In keinem Land Europas, mit Ausnahme des winzigen Liechtenstein, haben die Banken mehr Einfluss als in der Schweiz. Die Finanzindustrie schafft über zwölf Prozent aller erzeugten Werte. Das Einkommen des Bankpersonals liegt ein Drittel über dem Landesdurchschnitt. Das Erstaunliche dabei: Die meisten Schweizer sind überhaupt nicht so reich, wie sie vom Ausland wahrgenommen werden. Jeder dritte Haushalt besitzt keinen Rappen Vermögen, wie jüngst eine UN-Studie zeigte. Dennoch ist die Affinität der Bevölkerung zu ihrer Bankenwelt unübertroffen hoch: Der Werbeslogan „You & US = UBS“ wird für das ganze Land akzeptiert, obwohl nirgendwo auf der Welt der Reichtum ungleicher verteilt ist: Zehn Prozent der Steuerpflichtigen, darunter 120 Milliardäre, besitzen fast Dreiviertel des gesamten Vermögens. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 43 Prozent.
Inzwischen mehren sich die Bedenken, ob eine derartige Abhängigkeit von zwei Großbanken nicht schädlich für das Land sei. Doch die Medien verhalten sich im Zweifelsfall staatstragend und weitgehend unkritisch gegenüber Eingriffen der Wirtschaft in die Politik. Ein Beispiel: Die staatliche Kontrollbehörde der Banken wird ausgerechnet von einem ehemaligen UBS-Direktor geleitet, der gleichzeitg auch noch maßgeblich die Bedingungen für die üppige Staatshilfe mit seinem ehemaligen Arbeitgeber aushandelte. Solche Interessenverflechtungen sind in der Schweiz nicht ungewöhnlich und werden meist stillschweigend akzeptiert.
Die politischen Institutionen, die seit der Staatsgründung vor 160 Jahren in ihrer Struktur unverändert blieben, werden bewusst schwach gehalten. Mit dem explosionsartigen Wachstum des Finanzsektors nach dem Zweiten Weltkrieg können sie nicht mithalten – und schon gar nicht mit dessen zunehmender Macht und Professionalität. Der Bundesrat, einst dem „Direktorium“ der Französischen Revolution nachgebildet, hat keinen Regierungschef. Die sieben Minister müssen sämtliche Entscheidungen wie ein Miniparlament in Mehrheitsfindung treffen. Das macht den Regierungsapparat schwerfällig und kaum durchschaubar. Das Freizeitparlament tritt in Abständen nur wenige Wochen im Jahr zusammen, die Abgeordneten beziehen ein karges Honorar und können sich meist weder Sekretärin noch Assistenten leisten. Das fachliche Know-how stellen in der Regel lobbyierende Experten von aussen.
Ihr Haupteinkommen verdienen die Volksvertreter anderswo, im Beamtenapparat, in Unternehmen oder sie werden von Organisationen und Verbänden bezahlt. Natürlich haben auch UBS und CS ihre Repräsentanten im Parlament sitzen. Das führt trotz des Korrektivs der direkten Demokratie mit ihrem gut ein Dutzend Volksabstimmungen im Jahr zwangsläufig zu unverkennbar oligarchischen Erscheinungen.
Aus diesem Umfeld erklären sich Schlagzeilen wie jene in der größten Wochenzeitung des Landes: „La crise n’existe pas.“ Danken wir Gott, dass wir nicht so sind wie die Anderen.
FRED DAVID war Chefredakteur beim Schweizer Wirtschaftsmagazin cash. Seine jüngste Veröffentlichung: „Im Club der Milliardäre“ (Hoffmann u. Campe).
Internationale Politik 11, November 2008, S. 8 - 9