Buchkritik

01. Nov. 2019

Die Bücher des Jahres 2019

„Welches Buch zur internationalen Politik war in diesem Jahr das wichtigste für Sie und warum?“

Wie in jedem Jahr haben wir diese Frage auch 2019 an Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Journalismus gestellt. Ihre Antworten reichen von tages­aktuellen Analysen bis hin zu Klassikern wie Shakespeare, Thukydides oder Alexander von Humboldt. Thematisch ganz vorne: China, die USA, Russland und Deutschlands Rolle in Europa. An der Spitze steht mit drei Nennungen ein biografisches Werk: George Packers Buch über Richard Holbrooke.

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Bild: Bücher auf einem Schreibtisch
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Thomas Bagger, Leiter der Abteilung Ausland, Bundespräsidialamt

Simon Bulmer, William E. Paterson: Germany and the European Union: Europe’s Reluctant Hegemon? Red Globe Press 2019

Dies ist die wohl beste und balancierteste Darstellung über Deutschlands Rolle in Europa über die Jahrzehnte – und eine ideale Grundlage, um die wichtigste Frage für Deutschlands Zukunft zu diskutieren: Was bedeutet heute ganz konkret Deutschlands besondere Verantwortung für die Zukunft des geeinten Europa?



 

Thorsten Benner, Direktor des Global Public Policy In­stitute

Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Piper Verlag 2018

„Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert“ lautet der Untertitel dieses aufrüttelnden Buches. Ziel des chinesischen Projekts ist die Kontrolle der KPCh über alle und alles. Das Buch ist Pflichtlektüre für jeden, der den chinesischen Parteistaat und den Großen Vorsitzenden Xi Jinping verstehen will.



 

Bijan Djir-Sarai, Außenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion

Christoph von Marschall: Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden. Verlag Herder 2018

Geschickt beleuchtet Christoph von Marschall eine Frage, die auch mir persönlich wichtig ist: Was muss sich an der deutschen Außenpolitik ändern, um von der internationalen Gemeinschaft ernst genommen zu werden? Eine Leseempfehlung für alle, die sich kritisch mit der Haltung Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik auseinandersetzen wollen.



 

Klaus-Dieter Frankenberger, Leiter Außenpolitik, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Volker Stanzel: Die ratlose Außenpolitik und warum sie den Rückhalt der Gesellschaft braucht. Verlag J.H.W. Dietz Nachfahren 2019

Vor dem Hintergrund der Verschiebung der Machtgewichte in der Welt und tiefgreifender Veränderungen in Deutschland konstatiert Stanzel eine außenpolitische Ratlosigkeit in Berlin. Wo Zerklüftung herrscht, sucht er einen neuen gesellschaftlichen Konsens. Über Mitsprache und -verantwortung soll die deutsche Außenpolitik neu geerdet, legitimiert und ausgerichtet werden.

 



Sebastian Groth, Leiter Planungsstab, Auswärtiges Amt

William J. Burns: The Back Channel. Random House 2019

Faszinierender Rückblick auf eine lange und intensive diplomatische Laufbahn unter zehn US-Außenministern und fünf Präsidenten. Eindrucksvolles Plädoyer für eine Außenpolitik jenseits des Dealmaking. Die Schwerpunkte liegen auf dem Nahen und Mittleren Osten, Russland und der außenpolitischen Szene in Washington.



 

Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung, Donau-Universität Krems

Marcel Mauss: Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale. Campus-Verlag 2017

Marcel Mauss, Neffe des französischen Soziologen Emile Durkheim, hat zu Beginn der 1920er Jahre Studien zur Nation niedergeschrieben. Diese Schriften, die entstanden, als die europäischen Nationen schon einmal in den Nationalismus gekippt sind, sind eine Fährte heraus aus der aktuellen Krise: Die Institutionalisierung, also die Verrechtlichung von Solidarität schafft die Nation.



 

Emily Haber, Deutsche Botschafterin in den Vereinigten Staaten

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclams Universal-Bibliothek 2018

Thomas Bauers Studie über „die Vereindeutigung der Welt“ ist eine nur 97 Seiten umfassende und doch gewichtige Schrift. Bauer schreibt über „Ambiguitätsintoleranz“ und damit über die Sehnsucht nach Eindeutigkeit in der globalisierten Moderne. Ich habe das Büchlein in den USA erneut – und mit neuem Verständnis – gelesen.



 

Jürgen Hardt, Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Wolfgang Ischinger: Welt in Gefahr: Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten. Econ 2018

Der ehemalige Botschafter Wolfgang Ischinger verfolgt in Leben und Wort zwei große Ziele: den Erhalt der multilateralen regelbasierten Weltordnung und eine Stärkung der Rolle Europas auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Sein Buch ist ein engagiertes und überzeugendes Plädoyer für beide Ziele, die auch die deutsche Politik maßgeblich prägen sollen.



 

Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz

George Packers: Our Man: Richard Holbrooke and the End of the American Century. Knopf Publishing 2019

George Packers Biografie von Richard Holbrooke ist nicht nur  ein exzellentes Porträt eines herausragenden Diplomaten, dessen Fähigkeiten ich in den Friedensverhandlungen von Dayton selbst erleben konnte. Im Lichte der vielen aktuellen Krisen und Konflikte erinnert das Buch zudem an die Bedeutung gekonnter Diplomatie.



 

Thomas Kleine-Brockhoff, Vizepräsident und Direktor, Berliner Büro des German Marshall Fund

George Packers: Our Man: Richard Holbrooke and the End of the American Century. Knopf Publishing 2019

Packers Buch ist ein Lesegenuss, voller Esprit und Witz und treffend-ironischer Beobachtungen über den Washingtoner Politikbetrieb. Der Autor versteht Richard Holbrooke als einen Mann, der „almost great“ war, gescheitert vor allem an der eigenen Ambition. Genauso wie das amerikanische Jahrhundert: Es war eben auch nur „beinahe großartig“.



 

Stefan Kornelius, Ressortleiter Außenpolitik, Süddeutsche Zeitung

Stephen Greenblatt: Tyrant – Shakespeare on Politics. Norton & Company 2019

Shakespeares Handwerkszeug für Despoten und Populisten, analysiert vom Harvard-Literaturwissenschaftler Greenblatt. Der Autor beschreibt Wesen und Tun von Trump, Johnson & Co., ohne jemals die Namen zu nennen. Eine tröstliche Handreichung: Die Menschheit war schon immer anfällig für die Verführung durch starke Männer; die Methoden haben sich seit der Antike nicht geändert.



 

Annegret Kramp-Karrenbauer, Bundesministerin der Verteidigung

Kai-Fu Lee: AI Superpowers. China, Silicon Valley und die neue Weltordnung. Campus- Verlag 2019

Man muss nicht alle Ansichten des Autors teilen, aber das Buch gibt einen rasanten Einblick in die raue Welt der Digitalisierung in China. Deutschland und Europa müssen bei der Entwicklung von KI-Anwendungen an Tempo zulegen – und zwar im Einklang mit unseren Grundwerten. So wird Zukunft gemacht, in Wohlstand, Freiheit und Sicherheit.



 

Jörg Lau, Außenpolitischer Koordinator, Ressort Politik, DIE ZEIT

Dmitri Trenin: Russia. Politybooks 2019

Mein Buch des Jahres ist „Russia“ von Dmitri Trenin, weil es auf weniger als 200 Seiten 120 Jahre abenteuerlicher Geschichte kondensiert – und erklärt, wie Russland durch Zarenzeit, Revolution, Stalinismus und den Zusammenbruch seines Imperiums ging. Und welche Aufgaben das Land nun in einer Lage erwarten, die sehr an die Krise zu Beginn seiner Modernisierung erinnert.



 

Stefan Liebich, Außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke

Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. C. Bertelsmann 2016

Auf Empfehlung von Staatsministerin Michelle Müntefering habe ich das Buch anlässlich einer Dienstreise nach Brasilien gelesen. Während die überragende Rolle Humboldts in Deutschland und Europa noch zu wenig gewürdigt wird, trifft man ihn in Südamerika auf Schritt und Tritt. Das Humboldt-Jahr 2019 ist eine gute Gelegenheit, diesen Weltbürger wiederzuentdecken.



 

Kristina Lunz, Mitbegründerin und Deutschlanddirektorin des Centre for Feminist Foreign Policy

Anand Giridharadas: Winners Take All: The Elite Charade of Changing the World. Vintage 2019

„Winners Take All“ ist ein ausgesprochen wichtiges Buch, weil es die Frage aufwirft, wem wir es überlassen wollen, unsere Welt besser zu machen und die drängendsten internationalen Herausforderungen anzugehen. Etwa denen, die sich gerne auf Bühnen wie in Davos zeigen? Und doch so sehr von internationalen Herausforderungen wie extremer finanzieller Ungleichheit profitieren?



 

Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen

Hans Rosling:  Fact­fulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ullstein Taschenbuch 2018

In einer Zeit, in der oft Krisen die Schlagzeilen bestimmen, bringt Hans Rosling zahlenbasierte Nüchternheit in die Debatte. Es wird nicht alles schlechter: Bildung, Gesundheit und Einkommensniveaus haben sich im globalen Trend sogar recht positiv entwickelt. Das Buch regt an, unsere manchmal einseitige Wahrnehmung globaler Entwicklungen zu hinterfragen.



 

Almut Möller, Bevollmächtigte Hamburgs beim Bund, der EU und für auswärtige Angelegenheiten

Lindsey Hilsum: In Extremis. The Life of War Correspondent Marie Colvin.Chatto & Windus 2018



Lindsey Hilsum, selbst eine der renommiertesten Kriegsberichterstatterinnen der Gegenwart, erzählt die Geschichte ihrer Kollegin Marie Colvin, die 2012 im syrischen Homs ums Leben kam. Ein Leben an Frontlinien, entschlossen, Menschen im Krieg Gesicht und Stimme zu geben, standfest, wo um sie herum Chaos herrschte, und doch taumelnd zwischen den Welten. Ein eindringliches Porträt.



 

Nora Müller, Bereichsleiterin Internationale Politik und Leiterin des Hauptstadtbüros der Körber-Stiftung

Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Reclam 2000



Thukydides meint, ein Krieg sei unausweichlich gewesen angesichts der wachsenden Macht Athens und der Angst, die sein Aufstieg in Sparta ausgelöst habe. In Zeiten wachsender chinesisch-amerikanischer Spannungen lohnt es, darüber nachzudenken, wie sich heute ein Zuschnappen der „Thukydides-Falle“ verhindern ließe.



 

Michelle Müntefering, Staatsministerin, Auswärtiges Amt

Ngugi wa Thiong: Dekolonisierung des Denkens. Unrast Verlag 2017



Der kenianische Autor analysiert, wie der europäische Kolonialismus selbst nach der offiziellen Befreiung und Unabhängigkeit afrikanischer Länder auf geistiger Ebene fortwirkt. Ein zeitlos wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Geschichte.

 



Rolf Mützenich, Kommissarischer Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion

Perry Anderson: Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs. Suhrkamp 2018



Perry Anderson, Professor für Geschichte und Soziologie an der University of California, liefert eine fundierte und brillante Begriffsgeschichte der „Hegemonie“. Damit ist dem britischen Historiker ein enzyklopädisches, theoretisch umfassendes und zugleich ausgesprochen gut lesbares Buch gelungen.



 

Omid Nouripour, Außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen

Lawrence Freedman: Strategy. A History. Oxford University Press 2013



Als „historisches Werk“ verkleidet, ist Lawrence Freedman ein epochaler Augenöffner über die Essenz von Strategie gelungen. Zeitlos, spannend, klug und mutig geschrieben, ist „Strategy“ eine Pflichtlektüre für Praktiker wie für Wissenschaftler.



 

Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik

Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute. Deutsche Verlagsanstalt 2018 



Natürlich gibt es viele Bücher über die europäische Nachkriegsgeschichte. Aber eben nicht viele gute, die Gesamteuropa in den Blick nehmen und dabei so überzeugend immer wieder die Frage nach der Bedeutung einzelner Personen im Kontext struktureller Entwicklungen stellen.

 



Frank N. Pieke, Direktor des Mercator Institute for China Studies

Julia Lovell: Maoism: A Global History. The Bodley Head 2019



Sind Mao und der Maoismus Geschichte? „Nein“, sagt Julia Lovell. Xi Jinping habe viele Aspekte der maoistischen politischen Kultur wiederbelebt; der Maoismus sei weiterhin eine globale Macht. Das Buch ist ein Muss für alle, die den Aufstieg Chinas jenseits der Schlagzeilen verstehen möchten.



 

Ines Pohl, Chefredakteurin der Deutschen Welle

Carolin Emcke:  Gegen den Hass. S. Fischer Verlag 2016



Auf Unsicherheiten mit Hass zu reagieren, wird unsere Gesellschaften über kurz oder lang zerreißen. Deshalb lege ich allen, die zuhören wollen und allen, die verstehen wollen, dass Unterschiede eben auch eine Bereicherung sind, Carolin Emckes Buch „Gegen den Hass“ ans Herz.



 

Armgard von Reden, Vorstandsvorsitzende von Women in International Security Deutschland

Cathy O‘Neil: Weapons of Math Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy. Crown Publishers 2016



In der guten amerikanischen Art des Sachbuchs beschreibt die promovierte Mathematikerin engagiert und kenntnisreich, welche diskriminierenden und verheerenden Auswirkungen mathematische Modelle und Algorithmen auf Einzelne und Gruppen, auf die Wirtschaft, Politik und letztlich auch auf die Sicherheit haben können.



 

Nils Schmid, Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion

Masha Gessen: Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor. Suhrkamp 2018



Durch ihre brillante Erzählung von ausgewählten Einzelschicksalen eröffnet die Journalistin Masha Gessen in „Die Zukunft ist Geschichte“ erkenntnisreiche Perspektiven auf die jüngere Geschichte Russlands. Das ist fesselnd von der ersten Seite an, und es hilft zu verstehen, warum die Schritte hin zu mehr Demokratie in diesem Land bislang gescheitert sind.



 

Constanze Stelzenmüller, Kissinger Chair at the Library of Congress’ Kluge Center

Robert Caro: Working. Knopf Publishing 2019



Das sind kurze Essays des größten lebenden amerikanischen Biografen (Robert Moses, Lyndon B. Johnson) über seine Arbeitsmethoden. Ihn zeichnen stupender Forschungsfleiß und Gewissenhaftigkeit aus, aber auch Einfühlungsvermögen und Empathie. Danach möchte man sofort alles lesen, was er je geschrieben hat.



 

Jürgen Trittin, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss für Bündnis 90/Die Grünen

Frank Bösch: Zeitenwende 1979: Als die Welt von heute begann. C.H. Beck Verlag 2019

Wer 1989 verstehen will, muss  1979 kennen. Das Ende der Blöcke nahm mit der Revolution im Iran und der Sowjet-Invasion in Afghanistan seinen Anfang. Mit Margaret Thatcher begann der Aufstieg des Neoliberalismus. China öffnete sich. In Harrisburg havarierte ein Atomreaktor; in Deutschland gründete sich eine neue Partei. Ein prägendes  Jahr, nachgezeichnet in einem lesenswerten Buch.



 

Almut Wieland-Karimi, Direktorin des Zentrums für internationale Friedenseinsätze

George Packer: Our Man. Richard Holbrooke and the End of the American Century. Knopf Publishing 2019



Vietnam, Bosnien, Afghanistan – die Darstellung der US-Außenpolitik und die Beschreibung der Persönlichkeit Holbrookes, beides in witzig-ironischem Ton, machen die Biografie so lesenswert. Eitel, ruppig und doch bewundert; brillant und doch verhasst – der legendäre und tragische Diplomat begleitete viele der wichtigsten Konflikte der vergangenen 50 Jahre.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 118-125

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