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20. Juni 2006

Die „Achse des Guten“

Realpolitischer Antiamerikanismus oder theorielastiger Fehlschluss?

Die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Russland und Frankreich in der Irak-Krise ist
sicherlich ein Präzedenzfall. Der an der Helmut-Schmidt-Universität
in Hamburg lehrende Professor beschreibt anschaulich die praktische Abstimmung zwischen
den drei Akteuren und fragt nach der theoretischen Bewertung einer solchen Achsenbildung.
Dabei unterscheidet er zwischen „Institutionalisten“, die eher auf das Völkerrecht und die
Vereinten Nationen setzen, und „Realisten“, die sich mehr an der Machtpolitik orientieren.

Die Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und
Russland während der Irak-Krise 2002/03 wurde von vielen
Beobachtern und Analysten als bis dahin einmalig bewertet. So
eng hatten diese Länder in einer wichtigen Frage der
internationalen Politik noch nie zusammengearbeitet. Dass
Frankreich und Russland zu einer solchen Politik
zusammenfanden, mochte noch eine gewisse Logik aufweisen oder
bestimmten Erwartungen entsprechen. Was aber verblüffte,
war das Verhalten Berlins. Zum ersten Mal in der Geschichte der
Bundesrepublik wagte eine Regierung offenen Widerspruch gegen
die Regierung in Washington.

Die Mehrheit der Deutschen, die dem angekündigten Krieg
der Vereinigten Staaten gegen Irak wenig abgewinnen konnte,
dankte es Gerhard Schröder und Joschka Fischer. SPD und
Grüne konnten im September 2002 bei den Bundestagswahlen
einen knappen Sieg erringen. Einige Politiker der Opposition
und ihr nahe stehende Intellektuelle sahen im Verhalten der
Regierung allerdings einen Paradigmenwechsel. Dabei ging es
nicht nur um den Vorwurf, es sei das erste Mal gewesen, dass
innenpolitische Machtfragen die außenpolitische Agenda in
einer so entscheidenden Frage wie dem deutsch-amerikanischen
Verhältnis bestimmt hätten, und dass der Kanzler die
guten Beziehungen zu den USA einem antiamerikanischen
Populismus geopfert habe, um die Wahlen zu gewinnen. Vielmehr
sei Grundsätzliches zu konstatieren: die Abkehr
Deutschlands von den USA und Großbritannien, eine
Hinwendung zu Frankreich und Russland, eine neue Ost- statt
Westorientierung, der Aufbau einer antiamerikanischen Achse in
Europa, Deutschland am Rockzipfel Frankreichs hängend,
opportunistisch nach Moskau schielend, einen „deutschen
Weg“ und damit wieder einen Sonderweg einschlagend
– derartige Vorhaltungen waren vor allem, aber nicht nur
in deutschen Medien präsent.

Wenn man einmal von vorn beginnt und nach dem Anlass
für die deutsch-französisch-russische Kooperation
sucht, dann ist nicht an erster Stelle der deutsche Wahlkampf
oder ein offener oder heimlicher Antiamerikanismus der
Franzosen und Russen zu finden, sondern eine Wende im
amerikanischen „Krieg gegen den Terror“. Bis zur
Verkündigung der „Achse des Bösen“ durch
George W. Bush in seinem „Bericht zur Lage der
Nation“ vom 29. Januar 20021 war von einer solchen
„Achsenbildung“ nicht nur nichts zu merken gewesen
– vielmehr hatten Deutschland, Frankreich und Russland in
der Antiterrorkoalition fest an der Seite der Vereinigten
Staaten gestanden. Der deutsche Bundeskanzler war mit der
Versicherung „uneingeschränkter
Solidarität“ mit Washington so weit gegangen, dass
er die Abstimmung im Bundestag über eine militärische
Beteiligung Deutschlands am Afghanistan-Krieg am 16. November
2001 mit der Vertrauensfrage verbunden hatte.

Die Wende kam mit den ab Februar 2002 eingeleiteten
Vorbereitungen für den Krieg gegen Irak. Dabei waren die
ersten Einwände, die gegen den Kurs Washingtons
vorgetragen wurden, z.B. Stellungnahmen des deutschen
Außenministers, noch ganz getragen vom Verständnis
für die mentale Lage in den USA nach den
Terroranschlägen vom 11. September 2001 und vom
Bemühen, einem latenten Antiamerikanismus keinen Auftrieb
zu geben. Erst Monate später kam es zu koordinierten
Schritten der Kriegsgegner. Zuvor war immer deutlicher
geworden, dass sich der amerikanische Präsident von
diplomatisch vorgebrachten Zweifeln an der Klugheit eines
Irak-Krieges nicht abbringen lassen würde, den geplanten
Feldzug zu führen. Ende Juli 2002 verlautbarten der
deutsche Kanzler und der französische Staatspräsident
ihre erste gemeinsame Deklaration, in der sie sich gegen ein
unilaterales militärisches Vorgehen der USA
aussprachen.

Dagegen kam die Kooperation Berlins mit Moskau relativ
spät. Bei den bilateralen Gesprächen 2002 standen
wirtschaftliche Fragen – von den Schulden, die Russland
von der Sowjetunion gegenüber der ehemaligen DDR geerbt
hatte, bis zu einem Abkommen (zusammen mit der Ukraine)
über eine Pipeline-Infrastruktur – und
zwischenstaatliche politische Themen – von der
Kooperation zwischen Bayern und Oblast Moskau bis zur
Kaliningrader Transitfrage – im Vordergrund. In der
Auseinandersetzung über eine Sicherheitsratsresolution im
Oktober und November 2002 kam es eher zwischen der
französischen und russischen UN-Delegation zu
Gesprächen und Konsultationen. Allerdings war zu diesem
Zeitpunkt Deutschland noch nicht Mitglied des Sicherheitsrats;
es gehörte dem Gremium als nichtständiges Mitglied ab
1. Januar 2003 an.

Erst fünf Wochen vor dem Krieg, als sich trotz der
negativen Berichte der UN-Waffeninspektoren, die in Irak seit
Dezember 2002 nach vermuteten Massenvernichtungswaffen gesucht
hatten, der bevorstehende Waffengang immer deutlicher
abzeichnete, kam es zu verstärkten gemeinsamen
Anstrengungen Deutschlands, Russlands und Frankreichs, im
Sicherheitsrat doch noch eine „friedliche
Lösung“ durchzusetzen. Am 9. Februar 2003 reiste der
russische Präsident Wladimir Putin nach Berlin, um das
„Jahr der russischen Kultur in Deutschland“ zu
eröffnen, deklarierte aber gleich nach seiner Ankunft
explizit das gemeinsame Ziel, den Krieg zu verhindern. Er
sprach zu diesem Zeitpunkt das erste Mal davon, dass die
Außenminister der drei Länder und ihre
Repräsentanten bei den Vereinten Nationen „ihre
Aktionen koordinieren“.

Lagerbildung im UN-Sicherheitsrat

Ebenso wie Schröder betonte Putin aber, dass man keinen
Bruch mit den USA wolle. Im Gegenteil, eine Aufsplitterung
zwischen Europa und den Vereinigten Staaten „würde
für die Entwicklung in der Welt eine schlechte Option
darstellen – schlecht für die Vereinigten Staaten
und für Europa“. In einem Interview für das
französische Fernsehen gab er sich sogar zu diesem
Zeitpunkt noch überzeugt, dass „Bush keinen Krieg
will“. Und dass man sich mit den USA einig darüber
sei, „sicherzustellen, dass Irak nicht über
Massenvernichtungswaffen verfügt“. Zeitgleich
verkündete der russische Verteidigungsminister Sergeij
Iwanow am 9. Februar auf der 39. Internationalen
Sicherheitskonferenz in München, dass Russland einen
angeblichen deutsch-französischen Plan unterstütze,
der als Alternative zu einem von den USA geführten
militärischen Schlag vorliege. Nach diesem (wie sich kurze
Zeit später herausstellte: fiktiven) Plan sollten die UN
mehrere Tausend „peacekeeping forces“ zusammen mit
drei Mal soviel Inspektoren wie bisher nach Irak schicken;
daran hätte sich Russland beteiligen wollen.

Auch beim unmittelbar an Berlin anschließenden Besuch
Putins in Paris stand eine mögliche diplomatische
Koalition zwischen Russland, Frankreich und Deutschland im
Mittelpunkt der Beratungen. Am 10. Februar wurde eine
Erklärung veröffentlicht, die von den Regierungen der
drei Staaten unterzeichnet war und den Tenor hatte: Es gibt
noch eine Alternative zum Krieg.2 Einen Tag später
kündigte Putin in einem Interview das Veto Moskaus im
Sicherheitsrat an, falls die USA eine Kriegsresolution
einbrächten. Er hoffe aber, dass Russland, Frankreich und
Deutschland Bush davon abhalten könnten, einen
Militärschlag gegen Bagdad zu führen. Dabei ging es
ihm aber offenkundig auch um eine Veränderung der
strategischen Konstellation: Er gab seiner Hoffnung Ausdruck,
die gemeinsame Stellungnahme der drei Länder werde
„der erste Baustein in der Konstruktion einer
multipolaren Welt“ sein. Allerdings beeilte er sich
hinzuzufügen, dies stelle kein Zeichen für die
Entstehung einer „neuen politischen Achse“ dar.

Knapp zwei Wochen später sandten Deutschland,
Frankreich und Russland ein gemeinsames Memorandum an den
UN-Sicherheitsrat, das nach einer Ausweitung der
Waffeninspektionen durch die Vereinten Nationen für
weitere vier Monate verlangte, um „Irak friedlich
abzurüsten“.3 Am 26. Februar kam Schröder nach
Moskau, um sich mit dem russischen Präsidenten über
die Irak-Frage und das Vorgehen im Sicherheitsrat abzusprechen,
nachdem zwei Tage zuvor die Vereinigten Staaten,
Großbritannien und Spanien einen kriegslegitimierenden
Resolutionsentwurf in das Gremium eingebracht hatten.

Am 5. März 2003 trafen die Außenminister
Deutschlands, Frankreichs und Russlands, Joschka Fischer,
Dominique de Villepin und Igor Iwanow, in Paris zusammen. In
einer gemeinsamen Stellungnahme kündigten sie an, eine
„Kriegsresolution“ im Sicherheitsrat zu blockieren.
Dies heiße auch, so Iwanow, dass Frankreich und Russland
notfalls von ihrem Vetorecht Gebrauch machen würden.
Wenige Tage später, am 10. März, sprachen Putin und
Schröder am Telefon über die modifizierte
Sicherheitsratsresolution, die von den USA und
Großbritannien vorgelegt worden war, sowie über die
letzten Berichte, die die UN-Chefinspektoren Hans Blix und
Mohammed el-Baradei vorgetragen hatten. Putin und Schröder
waren einer Meinung, dass diese Berichte „keine Basis
für eine Unterbrechung der Inspektionen“
darstellten. Danach telefonierte Putin mit Präsident
Jacques Chirac, der dieser Bewertung zustimmte.

Schließlich wurde von Deutschland, Frankreich und
Russland kurz vor Kriegsbeginn, am 15. März 2003, eine
gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht, in der es
hieß, dass „unter den gegenwärtigen
Umständen keine Rechtfertigung existiert, die Inspektionen
zu stoppen und Gewalt anzuwenden“. Die drei Länder
verlangten die Einberufung einer Notstandssitzung des
Sicherheitsrats auf Außenministerebene. Aber der
amerikanische Außenminister Colin Powell verkündete
am nächsten Tag, dass es nichts mehr gebe, was die
Einberufung einer solchen Notstandssitzung sinnvoll mache. Am
17. März richtete Präsident Bush das Ultimatum an
Saddam Hussein, binnen 48 Stunden Irak zu verlassen. Am 20.
März begann der Krieg.

Schröder, Chirac und Putin kamen erst wieder am 11.
April in St. Petersburg zusammen, um den Irak-Konflikt und die
Konsequenzen zu diskutieren. Auf diesem Treffen und diversen
nachfolgenden Konsultationen wurde vor allem der gemeinsame
Standpunkt bekräftigt, dass die Vereinten Nationen eine
stärkere Rolle in der Nachkriegsordnung Iraks spielen
sollten.

Theorie und Praxis von Achsenbildung

Wie man den Schritt bewertet, dass sich Verbündete der
USA – zusammen mit Dritten – gegen die USA stellen,
wenn deutlich wird, dass sich deren Regierung zum Krieg
entschlossen hat, hängt von der politischen
Prämissensetzung ab. „Institutionalisten“, die
eher auf das Völkerrecht und die Vereinten Nationen
setzen, sind mit dem Verhalten der Bundesregierung in der
Irak-Krise im Wesentlichen zufrieden. Ein (offenes oder
stillschweigendes) Mitmachen Deutschlands bei
völkerrechtswidrigen Akten wie dem Irak-Feldzug würde
von ihnen – je nach Emotionalisierung – als
für die internationale Ordnung kontraproduktiv oder als
Kriegsverbrechen verurteilt.

Jenen „Realisten“, die von Völkerrecht und
Multilateralität weniger, dafür umso mehr von
Machtpolitik und in diesem Zusammenhang von einer engen
Anlehnung der Bundesrepublik an die USA halten, erscheint die
Abwendung von der Vormacht – je nach Grad der
Emotionalisierung – als machtpolitisch unklug oder als
Sündenfall. Christian Hacke z.B. meint, die weltpolitische
Bedeutung Deutschlands sei nach dem Zerwürfnis mit
Washington „noch nie so gering wie heute gewesen“,
die rot-grüne Regierung habe sich mit ihrer Politik
gegenüber den USA „aus der Weltpolitik
ausgeklinkt“, Deutschland sei „international die
finsterste Provinz“ und werde „nicht mehr ernst
genommen“.4

Dagegen erkennen andere „Realisten“ in der
deutsch-französisch-russischen Kooperation die notwendige
Gegenmachtbildung, die dem Aufstieg der USA zur Hypermacht und
deren Hegemonialstreben entspreche. Diese Gruppe geht nicht
etwa von einem Abstieg, sondern im Gegenteil von einem
machtpolitischen Aufstieg Berlins aus. So sieht Gregor
Schöllgen Deutschland seit der Irak-Krise in der
„Führungsrolle als Gegenmacht der USA“5
– eben als Führungsmacht in einem Europa, das nun
ein Gleichgewicht gegenüber den USA herzustellen suche.
Indem Schröder in der Irak-Krise ausgesprochen habe,
„was sämtliche Vorgänger gedacht, aber niemals
zu sagen gewagt“6 hätten, habe er den „wohl
radikalsten Bruch bundesrepublikanischer Außenpolitik mit
ihrer eigenen Tradition“ eingeleitet.7

Kommt man noch einmal empirisch auf den Verlauf der
„Achsenbildung“ zurück, dann zeigt sich auch
hier, dass die Theorie durchaus den Blick auf die Wirklichkeit
verstellen kann. Die Auseinandersetzung zwischen den USA und
einer Anzahl europäischer (und einem Großteil
außereuropäischer) Länder ergab sich nach der
Deklaration der „Achse des Bösen“. Bereits
frühzeitig, nämlich noch im Februar 2002, schwenkte
der britische Premierminister Tony Blair auf die Linie Bushs
ein. Von da an gab es ein enges Zusammenwirken zwischen
Washington und London, das von koordinierten Auftritten in der
Öffentlichkeit bis zu Resolutionsentwürfen reichte,
die gemeinsam in den UN-Sicherheitsrat eingebracht wurden.

Ist man bereit zu konzedieren, dass Russland, Frankreich und
Deutschland nach ihrem Schulterschluss mit den USA nach dem 11.
September 2001 nicht nur auf den Augenblick gewartet haben, in
dem man eine Achse gegen Washington bilden könne, und dass
es ihnen nicht nur um Antiamerikanismus, Weltmachtambitionen
und Wahlkampf ging, sondern vorrangig darum, einer für
falsch erachteten Politik an einem für zentral gehaltenen
Punkt entgegenzuwirken, dann stellte sich angesichts des
formierten und sehr zielstrebig vorgehenden
amerikanisch-britischen „Kriegslagers“ die Frage
danach, wie eine Bündelung der Kräfte der
Kriegskritiker erfolgen sollte.

Bevor die amerikanische Regierung schließlich Anfang
2004 eingestand, es gebe möglicherweise doch keine
Massenvernichtungswaffen in Irak, meinten
„Realisten“ wie Joachim Krause, die deutsche
Regierung hätte sich wie die britische verhalten sollen:
eine Drohkulisse aufbauen, dann hätte Saddam Hussein
ernsthaft wie von den USA gefordert seine biologischen und
chemischen Massenvernichtungswaffen abgerüstet, und damit
wäre ein Krieg vermeidbar gewesen. Dieses Argument stellte
sich sowohl unter machtpolitischen als auch unter sachlichen
Aspekten als falsch heraus. London hatte keinen wirklichen
Einfluss auf den Gang der Dinge in Washington; als Saddam
Hussein im Oktober 2002 nachgab und die geforderten
Waffeninspektoren ins Land ließ, erklärte Bush, das
nütze nichts, es gehe um einen Regimewechsel. Der Clou
aber war, dass Saddam Hussein offenbar tatsächlich nicht
hatte, was vermutet und weswegen der Krieg geführt wurde.
Also hätte er bei noch so großer Drohkulisse nicht
abrüsten können.

Richtig ist stattdessen, dass, wenn überhaupt, nur die
britische Regierung Washington vom Krieg hätte abbringen
können, und zwar durch eine Haltung, wie sie die deutsche,
französische und russische Regierung einnahmen. Bei den
Senatsanhörungen im September und Oktober 2002 wurde Bush
– auch von Parteifreunden wie Senator Chuck Hagel –
vorgeworfen, er bringe mit seinem Unilateralismus selbst die
besten Verbündeten und Russland als Partner in der
internationalen Antiterrorfront gegen sich auf. Der
Präsident verwies immer auf den britischen
Premierminister, der sich in Bezug auf Saddam Hussein zeitweise
noch radikaler als er selbst gebärdete, und auf den
britischen Geheimdienst, der die (CIA-)eigenen Erkenntnisse
bestätige.

Die „Achsenbildung“ Berlin-Paris- Moskau lag
also in der Logik der Entwicklung – wenn man den Blick
auf wenige Hauptakteure in der transatlantischen Zone
beschränkt. In Wirklichkeit wuchs die Kooperation zwischen
unterschiedlichsten Akteuren, Regierungen und internationalen
Organisationen zur Verhinderung des Krieges in einem global
wohl noch nie da gewesenen Ausmaß, von der Arabischen
Liga bis zum NATO-Verbündeten und Nachbarn Kanada, von
Nelson Mandela über den Papst bis zu Senator Edward
Kennedy. Die „Achse“ Paris-Berlin-Moskau (und
weiter nach Peking) stach deswegen hervor, weil diese
Länder im Sicherheitsrat der UN vertreten waren und sich
auf dieser Bühne ein relevanter Teil der
global-öffentlichen Auseinandersetzung über die
Vorgehensweise gegen Irak abspielte. Die Frontenbildung war
relativ einfach: auf der einen Seite diejenigen, die eine
Legitimation der UN für den (beschlossenen) Krieg wollten,
auf der andern diejenigen, die angesichts nicht vorweisbarer
Funde für eine Verlängerung der Inspektionen und
damit gegen den Krieg plädierten.

Perspektiven

Abgesehen von dieser konkreten Konstellation stellt sich die
Frage nach der Perspektive einer sicherheitspolitischen
Kooperation zwischen Frankreich, Deutschland und Russland. Ist
die während der Irak-Krise zustande gekommene Kooperation
Indiz für eine künftige „Achsenbildung“,
die dem von Robert Kagan entworfenen Paradigma der
realpolitisch-offensiv agierenden USA versus
postnationalstaatlich-paradiesischem Europa entspricht? Oder
– eine andere „realistische“ Lesart –
dem Paradigma der hegemonialen USA, gegen die sich ein
zunehmend selbstbewussteres Europa formiert? Sicher spiegeln
der Berliner Widerspruch wie die
deutsch-französisch-russische Kooperation in der
Irak-Frage die sukzessive Emanzipation Europas von den USA nach
dem Ende des Kalten Krieges wider.

Der Sachverhalt, dass Europa weniger als in der
Vergangenheit von den Sicherheitsgarantien der USA
abhängig ist, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere
besteht darin, dass europäische Eliten real wie auch in
der Eigenperzeption in einem höheren Maße als
früher für die Sicherheit des Kontinents
verantwortlich sind. Da es nicht nur um größeres
Selbstbewusstsein, sondern auch um größere
Selbstverantwortung geht, liegt die zunehmende Integration
europäischer Sicherheit und europäischer
Sicherheitspolitik in der Logik der Entwicklung – bei
allen zuwiderlaufenden Tendenzen, die wegen Befürchtungen
einer deutschen Übermacht, einer
deutsch-französischen Dominanz, einer „Achse“
Berlin-Moskau oder auch eines
deutsch-französisch-britischen „Direktoriums“
auf die Beibehaltung amerikanischer Arbitrage in Europa
gerichtet sind.

Wie in der Vergangenheit ist die russische Stabilität
eine der Voraussetzungen für die europäische
Stabilität. Russland schrumpft politisch auf
europäische Größe; das Sozialprodukt ist
ohnehin kaum größer als das Belgiens. Damit wird
Russland zunehmend ein europäisches Problem. Europa kann
durch eine enge Anbindung Moskaus an Brüssel nur gewinnen.
Wenn es richtig ist, dass die interne Instabilität das
russische (und damit das auf Russland bezogene
europäische) Sicherheitsproblem Nr. 1 ist, dann sollte die
wirtschaftliche und politische Kooperation mit der
Europäischen Union erste Priorität auf der
außenpolitischen Werteskala des Kremls und an
herausgehobener Stelle der EU-Außenpolitik sein. Wie sich
das europäisch-russische Verhältnis gestaltet,
hängt vor allem davon ab, ob sich diese Erkenntnis in
Moskau durchsetzt. Aber dass Deutschland in Bezug auf die
Einbindung Russlands – ebenfalls wie in der Vergangenheit
– wegen seiner spezifischen Nähe und seines
spezifischen Potenzials eine besondere Verantwortung hat, ist
ebenfalls evident.

Aus den Stellungnahmen Putins, Schröders und Chiracs
lässt sich eigentlich nur im Prisma einer sehr
theorielastigen Konstruktion ableiten, dass eine strategische
Achsenbildung gegen die USA beabsichtigt war oder ist. Bei
nüchterner Betrachtung stand eher die Sorge im
Vordergrund, dass eine falsche Politik Washingtons die
Verfolgung gemeinsamer Ziele und die Bewältigung
gemeinsamer Gefahren und Risiken behindern könnte. Die
„neue Unübersichtlichkeit“ nach dem Kalten
Krieg hat nicht weniger Ängste vor einer
isolationistischen Ausrichtung als vor einer arroganten
Machtpolitik Washingtons kreiert. Schon im Vorfeld der
Eskalation der Irak-Krise konnte man die einsetzende
Ausgleichsdiplomatie beobachten. Mit dem Fait accompli setzten
die Beteuerungen ein, man müsse in die Zukunft und nicht
in die Vergangenheit blicken. Überdeutlich sind die
Bemühungen um innereuropäischen Gleichklang.

Die Verunsicherung und die Wankelmütigkeit in der
Einschätzung von Akteurskonstellationen sind ein weiteres
Indiz dafür, dass die Behauptung einer strategischen
Achsenbildung vor allem die Konstruktion einer Theorieschule
ist. Firmierte das Verhältnis zwischen Blair, Chirac und
Schröder gestern noch als „irreparables“ und
„tiefstes Zerwürfnis“ in der europäischen
Nachkriegsgeschichte, wurde es nach dem Berliner Treffen der
Drei im Februar 2004 in der europäischen
Öffentlichkeit vielfach als nicht akzeptable „Gefahr
eines Direktoriums“ bezeichnet. Schon diese schnellen
Perzeptionswechsel relativieren die vordergründige
Erregung über einen „deutschen Sonderweg“ oder
neue Achsenbildungen. Davon abgesehen ist bei aller
Aufgeregtheit über bi- oder trilaterale Treffen,
Konsultationen und Absprachen festzuhalten: Die
Europäische Union ist eine Organisation mit jetzt 25
Mitgliedern, in der auch eine „Achse der drei oder vier
Mächtigen“ ihren Willen nur durchsetzen kann, wenn
sie einen Großteil der Anderen für ihre Vorhaben
gewinnt.

Ein Präzedenzfall dürfte die enge Zusammenarbeit
in der Irak-Krise zwischen Deutschland, Russland und Frankreich
dennoch gewesen sein. Zwar ist man in dieser Angelegenheit am
Willen der Regierung Bush, den Krieg zu führen,
gescheitert. Aber nicht nur die Schwierigkeiten in Irak, die
viele der Vorbehalte der „Achse der Unwilligen“
bestätigt haben, sondern auch das Sichtbarmachen der
politischen Kosten und der Tendenz der Gegenmachtbildung, die
solcher Unilateralismus zeitigt, dürften maßgeblich
dafür sein, dass in Washington heute kaum noch jemandem
die Metapher von der „Achse des Bösen“
über die Lippen kommt, und dass stattdessen ein neuer
Multilateralismus Platz greift.

Anmerkungen

1 Vgl. die Auszüge, abgedruckt in:
Internationale Politik (IP), 3/2002, S. 119 ff.

2 Vgl. den Wortlaut der Erklärung
in: IP, 3/2003, S. 119 f.

3 Vgl. den Text des Memorandums in: IP,
3/2003, S. 125 ff.

4 „Deutschland hängt am
Rockzipfel der Franzosen.“ Interview mit Christian Hacke,
in:Hamburger Abendblatt, 25.9.2003.

5 Gregor Schöllgen,Der Auftritt,
Berlin 2003, S. 130.

6 Ebd., S. 129.

7 Ebd., S. 141.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 51-58

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