Die „Achse des Guten“
Realpolitischer Antiamerikanismus oder theorielastiger Fehlschluss?
Die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Russland und Frankreich in der Irak-Krise ist
sicherlich ein Präzedenzfall. Der an der Helmut-Schmidt-Universität
in Hamburg lehrende Professor beschreibt anschaulich die praktische Abstimmung zwischen
den drei Akteuren und fragt nach der theoretischen Bewertung einer solchen Achsenbildung.
Dabei unterscheidet er zwischen „Institutionalisten“, die eher auf das Völkerrecht und die
Vereinten Nationen setzen, und „Realisten“, die sich mehr an der Machtpolitik orientieren.
Die Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Russland während der Irak-Krise 2002/03 wurde von vielen Beobachtern und Analysten als bis dahin einmalig bewertet. So eng hatten diese Länder in einer wichtigen Frage der internationalen Politik noch nie zusammengearbeitet.
Die Mehrheit der Deutschen, die dem angekündigten Krieg der Vereinigten Staaten gegen Irak wenig abgewinnen konnte, dankte es Gerhard Schröder und Joschka Fischer. SPD und Grüne konnten im September 2002 bei den Bundestagswahlen einen knappen Sieg erringen. Einige Politiker der Opposition und ihr nahe stehende Intellektuelle sahen im Verhalten der Regierung allerdings einen Paradigmenwechsel. Dabei ging es nicht nur um den Vorwurf, es sei das erste Mal gewesen, dass innenpolitische Machtfragen die außenpolitische Agenda in einer so entscheidenden Frage wie dem deutsch-amerikanischen Verhältnis bestimmt hätten, und dass der Kanzler die guten Beziehungen zu den USA einem antiamerikanischen Populismus geopfert habe, um die Wahlen zu gewinnen. Vielmehr sei Grundsätzliches zu konstatieren: die Abkehr Deutschlands von den USA und Großbritannien, eine Hinwendung zu Frankreich und Russland, eine neue Ost- statt Westorientierung, der Aufbau einer antiamerikanischen Achse in Europa, Deutschland am Rockzipfel Frankreichs hängend, opportunistisch nach Moskau schielend, einen „deutschen Weg“ und damit wieder einen Sonderweg einschlagend – derartige Vorhaltungen waren vor allem, aber nicht nur in deutschen Medien präsent.
Wenn man einmal von vorn beginnt und nach dem Anlass für die deutsch-französisch-russische Kooperation sucht, dann ist nicht an erster Stelle der deutsche Wahlkampf oder ein offener oder heimlicher Antiamerikanismus der Franzosen und Russen zu finden, sondern eine Wende im amerikanischen „Krieg gegen den Terror“. Bis zur Verkündigung der „Achse des Bösen“ durch George W. Bush in seinem „Bericht zur Lage der Nation“ vom 29. Januar 20021 war von einer solchen „Achsenbildung“ nicht nur nichts zu merken gewesen – vielmehr hatten Deutschland, Frankreich und Russland in der Antiterrorkoalition fest an der Seite der Vereinigten Staaten gestanden. Der deutsche Bundeskanzler war mit der Versicherung „uneingeschränkter Solidarität“ mit Washington so weit gegangen, dass er die Abstimmung im Bundestag über eine militärische Beteiligung Deutschlands am Afghanistan-Krieg am 16. November 2001 mit der Vertrauensfrage verbunden hatte.
Die Wende kam mit den ab Februar 2002 eingeleiteten Vorbereitungen für den Krieg gegen Irak. Dabei waren die ersten Einwände, die gegen den Kurs Washingtons vorgetragen wurden, z.B. Stellungnahmen des deutschen Außenministers, noch ganz getragen vom Verständnis für die mentale Lage in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und vom Bemühen, einem latenten Antiamerikanismus keinen Auftrieb zu geben. Erst Monate später kam es zu koordinierten Schritten der Kriegsgegner. Zuvor war immer deutlicher geworden, dass sich der amerikanische Präsident von diplomatisch vorgebrachten Zweifeln an der Klugheit eines Irak-Krieges nicht abbringen lassen würde, den geplanten Feldzug zu führen. Ende Juli 2002 verlautbarten der deutsche Kanzler und der französische Staatspräsident ihre erste gemeinsame Deklaration, in der sie sich gegen ein unilaterales militärisches Vorgehen der USA aussprachen.
Dagegen kam die Kooperation Berlins mit Moskau relativ spät. Bei den bilateralen Gesprächen 2002 standen wirtschaftliche Fragen – von den Schulden, die Russland von der Sowjetunion gegenüber der ehemaligen DDR geerbt hatte, bis zu einem Abkommen (zusammen mit der Ukraine) über eine Pipeline-Infrastruktur – und zwischenstaatliche politische Themen – von der Kooperation zwischen Bayern und Oblast Moskau bis zur Kaliningrader Transitfrage – im Vordergrund. In der Auseinandersetzung über eine Sicherheitsratsresolution im Oktober und November 2002 kam es eher zwischen der französischen und russischen UN-Delegation zu Gesprächen und Konsultationen. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt Deutschland noch nicht Mitglied des Sicherheitsrats; es gehörte dem Gremium als nichtständiges Mitglied ab 1. Januar 2003 an.
Erst fünf Wochen vor dem Krieg, als sich trotz der negativen Berichte der UN-Waffeninspektoren, die in Irak seit Dezember 2002 nach vermuteten Massenvernichtungswaffen gesucht hatten, der bevorstehende Waffengang immer deutlicher abzeichnete, kam es zu verstärkten gemeinsamen Anstrengungen Deutschlands, Russlands und Frankreichs, im Sicherheitsrat doch noch eine „friedliche Lösung“ durchzusetzen. Am 9. Februar 2003 reiste der russische Präsident Wladimir Putin nach Berlin, um das „Jahr der russischen Kultur in Deutschland“ zu eröffnen, deklarierte aber gleich nach seiner Ankunft explizit das gemeinsame Ziel, den Krieg zu verhindern. Er sprach zu diesem Zeitpunkt das erste Mal davon, dass die Außenminister der drei Länder und ihre Repräsentanten bei den Vereinten Nationen „ihre Aktionen koordinieren“.
Lagerbildung im UN-Sicherheitsrat
Ebenso wie Schröder betonte Putin aber, dass man keinen Bruch mit den USA wolle. Im Gegenteil, eine Aufsplitterung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten „würde für die Entwicklung in der Welt eine schlechte Option darstellen – schlecht für die Vereinigten Staaten und für Europa“. In einem Interview für das französische Fernsehen gab er sich sogar zu diesem Zeitpunkt noch überzeugt, dass „Bush keinen Krieg will“. Und dass man sich mit den USA einig darüber sei, „sicherzustellen, dass Irak nicht über Massenvernichtungswaffen verfügt“. Zeitgleich verkündete der russische Verteidigungsminister Sergeij Iwanow am 9. Februar auf der 39. Internationalen Sicherheitskonferenz in München, dass Russland einen angeblichen deutsch-französischen Plan unterstütze, der als Alternative zu einem von den USA geführten militärischen Schlag vorliege. Nach diesem (wie sich kurze Zeit später herausstellte: fiktiven) Plan sollten die UN mehrere Tausend „peacekeeping forces“ zusammen mit drei Mal soviel Inspektoren wie bisher nach Irak schicken; daran hätte sich Russland beteiligen wollen.
Auch beim unmittelbar an Berlin anschließenden Besuch Putins in Paris stand eine mögliche diplomatische Koalition zwischen Russland, Frankreich und Deutschland im Mittelpunkt der Beratungen. Am 10. Februar wurde eine Erklärung veröffentlicht, die von den Regierungen der drei Staaten unterzeichnet war und den Tenor hatte: Es gibt noch eine Alternative zum Krieg.2 Einen Tag später kündigte Putin in einem Interview das Veto Moskaus im Sicherheitsrat an, falls die USA eine Kriegsresolution einbrächten. Er hoffe aber, dass Russland, Frankreich und Deutschland Bush davon abhalten könnten, einen Militärschlag gegen Bagdad zu führen. Dabei ging es ihm aber offenkundig auch um eine Veränderung der strategischen Konstellation: Er gab seiner Hoffnung Ausdruck, die gemeinsame Stellungnahme der drei Länder werde „der erste Baustein in der Konstruktion einer multipolaren Welt“ sein. Allerdings beeilte er sich hinzuzufügen, dies stelle kein Zeichen für die Entstehung einer „neuen politischen Achse“ dar.
Knapp zwei Wochen später sandten Deutschland, Frankreich und Russland ein gemeinsames Memorandum an den UN-Sicherheitsrat, das nach einer Ausweitung der Waffeninspektionen durch die Vereinten Nationen für weitere vier Monate verlangte, um „Irak friedlich abzurüsten“.3 Am 26. Februar kam Schröder nach Moskau, um sich mit dem russischen Präsidenten über die Irak-Frage und das Vorgehen im Sicherheitsrat abzusprechen, nachdem zwei Tage zuvor die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Spanien einen kriegslegitimierenden Resolutionsentwurf in das Gremium eingebracht hatten.
Am 5. März 2003 trafen die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Russlands, Joschka Fischer, Dominique de Villepin und Igor Iwanow, in Paris zusammen. In einer gemeinsamen Stellungnahme kündigten sie an, eine „Kriegsresolution“ im Sicherheitsrat zu blockieren. Dies heiße auch, so Iwanow, dass Frankreich und Russland notfalls von ihrem Vetorecht Gebrauch machen würden. Wenige Tage später, am 10. März, sprachen Putin und Schröder am Telefon über die modifizierte Sicherheitsratsresolution, die von den USA und Großbritannien vorgelegt worden war, sowie über die letzten Berichte, die die UN-Chefinspektoren Hans Blix und Mohammed el-Baradei vorgetragen hatten. Putin und Schröder waren einer Meinung, dass diese Berichte „keine Basis für eine Unterbrechung der Inspektionen“ darstellten. Danach telefonierte Putin mit Präsident Jacques Chirac, der dieser Bewertung zustimmte.
Schließlich wurde von Deutschland, Frankreich und Russland kurz vor Kriegsbeginn, am 15. März 2003, eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht, in der es hieß, dass „unter den gegenwärtigen Umständen keine Rechtfertigung existiert, die Inspektionen zu stoppen und Gewalt anzuwenden“. Die drei Länder verlangten die Einberufung einer Notstandssitzung des Sicherheitsrats auf Außenministerebene. Aber der amerikanische Außenminister Colin Powell verkündete am nächsten Tag, dass es nichts mehr gebe, was die Einberufung einer solchen Notstandssitzung sinnvoll mache. Am 17. März richtete Präsident Bush das Ultimatum an Saddam Hussein, binnen 48 Stunden Irak zu verlassen. Am 20. März begann der Krieg.
Schröder, Chirac und Putin kamen erst wieder am 11. April in St. Petersburg zusammen, um den Irak-Konflikt und die Konsequenzen zu diskutieren. Auf diesem Treffen und diversen nachfolgenden Konsultationen wurde vor allem der gemeinsame Standpunkt bekräftigt, dass die Vereinten Nationen eine stärkere Rolle in der Nachkriegsordnung Iraks spielen sollten.
Theorie und Praxis von Achsenbildung
Wie man den Schritt bewertet, dass sich Verbündete der USA – zusammen mit Dritten – gegen die USA stellen, wenn deutlich wird, dass sich deren Regierung zum Krieg entschlossen hat, hängt von der politischen Prämissensetzung ab. „Institutionalisten“, die eher auf das Völkerrecht und die Vereinten Nationen setzen, sind mit dem Verhalten der Bundesregierung in der Irak-Krise im Wesentlichen zufrieden. Ein (offenes oder stillschweigendes) Mitmachen Deutschlands bei völkerrechtswidrigen Akten wie dem Irak-Feldzug würde von ihnen – je nach Emotionalisierung – als für die internationale Ordnung kontraproduktiv oder als Kriegsverbrechen verurteilt.
Jenen „Realisten“, die von Völkerrecht und Multilateralität weniger, dafür umso mehr von Machtpolitik und in diesem Zusammenhang von einer engen Anlehnung der Bundesrepublik an die USA halten, erscheint die Abwendung von der Vormacht – je nach Grad der Emotionalisierung – als machtpolitisch unklug oder als Sündenfall. Christian Hacke z.B. meint, die weltpolitische Bedeutung Deutschlands sei nach dem Zerwürfnis mit Washington „noch nie so gering wie heute gewesen“, die rot-grüne Regierung habe sich mit ihrer Politik gegenüber den USA „aus der Weltpolitik ausgeklinkt“, Deutschland sei „international die finsterste Provinz“ und werde „nicht mehr ernst genommen“.4
Dagegen erkennen andere „Realisten“ in der deutsch-französisch-russischen Kooperation die notwendige Gegenmachtbildung, die dem Aufstieg der USA zur Hypermacht und deren Hegemonialstreben entspreche. Diese Gruppe geht nicht etwa von einem Abstieg, sondern im Gegenteil von einem machtpolitischen Aufstieg Berlins aus. So sieht Gregor Schöllgen Deutschland seit der Irak-Krise in der „Führungsrolle als Gegenmacht der USA“5 – eben als Führungsmacht in einem Europa, das nun ein Gleichgewicht gegenüber den USA herzustellen suche. Indem Schröder in der Irak-Krise ausgesprochen habe, „was sämtliche Vorgänger gedacht, aber niemals zu sagen gewagt“6 hätten, habe er den „wohl radikalsten Bruch bundesrepublikanischer Außenpolitik mit ihrer eigenen Tradition“ eingeleitet.7
Kommt man noch einmal empirisch auf den Verlauf der „Achsenbildung“ zurück, dann zeigt sich auch hier, dass die Theorie durchaus den Blick auf die Wirklichkeit verstellen kann. Die Auseinandersetzung zwischen den USA und einer Anzahl europäischer (und einem Großteil außereuropäischer) Länder ergab sich nach der Deklaration der „Achse des Bösen“. Bereits frühzeitig, nämlich noch im Februar 2002, schwenkte der britische Premierminister Tony Blair auf die Linie Bushs ein. Von da an gab es ein enges Zusammenwirken zwischen Washington und London, das von koordinierten Auftritten in der Öffentlichkeit bis zu Resolutionsentwürfen reichte, die gemeinsam in den UN-Sicherheitsrat eingebracht wurden.
Ist man bereit zu konzedieren, dass Russland, Frankreich und Deutschland nach ihrem Schulterschluss mit den USA nach dem 11. September 2001 nicht nur auf den Augenblick gewartet haben, in dem man eine Achse gegen Washington bilden könne, und dass es ihnen nicht nur um Antiamerikanismus, Weltmachtambitionen und Wahlkampf ging, sondern vorrangig darum, einer für falsch erachteten Politik an einem für zentral gehaltenen Punkt entgegenzuwirken, dann stellte sich angesichts des formierten und sehr zielstrebig vorgehenden amerikanisch-britischen „Kriegslagers“ die Frage danach, wie eine Bündelung der Kräfte der Kriegskritiker erfolgen sollte.
Bevor die amerikanische Regierung schließlich Anfang 2004 eingestand, es gebe möglicherweise doch keine Massenvernichtungswaffen in Irak, meinten „Realisten“ wie Joachim Krause, die deutsche Regierung hätte sich wie die britische verhalten sollen: eine Drohkulisse aufbauen, dann hätte Saddam Hussein ernsthaft wie von den USA gefordert seine biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen abgerüstet, und damit wäre ein Krieg vermeidbar gewesen. Dieses Argument stellte sich sowohl unter machtpolitischen als auch unter sachlichen Aspekten als falsch heraus. London hatte keinen wirklichen Einfluss auf den Gang der Dinge in Washington; als Saddam Hussein im Oktober 2002 nachgab und die geforderten Waffeninspektoren ins Land ließ, erklärte Bush, das nütze nichts, es gehe um einen Regimewechsel. Der Clou aber war, dass Saddam Hussein offenbar tatsächlich nicht hatte, was vermutet und weswegen der Krieg geführt wurde. Also hätte er bei noch so großer Drohkulisse nicht abrüsten können.
Richtig ist stattdessen, dass, wenn überhaupt, nur die britische Regierung Washington vom Krieg hätte abbringen können, und zwar durch eine Haltung, wie sie die deutsche, französische und russische Regierung einnahmen. Bei den Senatsanhörungen im September und Oktober 2002 wurde Bush – auch von Parteifreunden wie Senator Chuck Hagel – vorgeworfen, er bringe mit seinem Unilateralismus selbst die besten Verbündeten und Russland als Partner in der internationalen Antiterrorfront gegen sich auf. Der Präsident verwies immer auf den britischen Premierminister, der sich in Bezug auf Saddam Hussein zeitweise noch radikaler als er selbst gebärdete, und auf den britischen Geheimdienst, der die (CIA-)eigenen Erkenntnisse bestätige.
Die „Achsenbildung“ Berlin-Paris- Moskau lag also in der Logik der Entwicklung – wenn man den Blick auf wenige Hauptakteure in der transatlantischen Zone beschränkt. In Wirklichkeit wuchs die Kooperation zwischen unterschiedlichsten Akteuren, Regierungen und internationalen Organisationen zur Verhinderung des Krieges in einem global wohl noch nie da gewesenen Ausmaß, von der Arabischen Liga bis zum NATO-Verbündeten und Nachbarn Kanada, von Nelson Mandela über den Papst bis zu Senator Edward Kennedy. Die „Achse“ Paris-Berlin-Moskau (und weiter nach Peking) stach deswegen hervor, weil diese Länder im Sicherheitsrat der UN vertreten waren und sich auf dieser Bühne ein relevanter Teil der global-öffentlichen Auseinandersetzung über die Vorgehensweise gegen Irak abspielte. Die Frontenbildung war relativ einfach: auf der einen Seite diejenigen, die eine Legitimation der UN für den (beschlossenen) Krieg wollten, auf der andern diejenigen, die angesichts nicht vorweisbarer Funde für eine Verlängerung der Inspektionen und damit gegen den Krieg plädierten.
Perspektiven
Abgesehen von dieser konkreten Konstellation stellt sich die Frage nach der Perspektive einer sicherheitspolitischen Kooperation zwischen Frankreich, Deutschland und Russland. Ist die während der Irak-Krise zustande gekommene Kooperation Indiz für eine künftige „Achsenbildung“, die dem von Robert Kagan entworfenen Paradigma der realpolitisch-offensiv agierenden USA versus postnationalstaatlich-paradiesischem Europa entspricht? Oder – eine andere „realistische“ Lesart – dem Paradigma der hegemonialen USA, gegen die sich ein zunehmend selbstbewussteres Europa formiert? Sicher spiegeln der Berliner Widerspruch wie die deutsch-französisch-russische Kooperation in der Irak-Frage die sukzessive Emanzipation Europas von den USA nach dem Ende des Kalten Krieges wider.
Der Sachverhalt, dass Europa weniger als in der Vergangenheit von den Sicherheitsgarantien der USA abhängig ist, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere besteht darin, dass europäische Eliten real wie auch in der Eigenperzeption in einem höheren Maße als früher für die Sicherheit des Kontinents verantwortlich sind. Da es nicht nur um größeres Selbstbewusstsein, sondern auch um größere Selbstverantwortung geht, liegt die zunehmende Integration europäischer Sicherheit und europäischer Sicherheitspolitik in der Logik der Entwicklung – bei allen zuwiderlaufenden Tendenzen, die wegen Befürchtungen einer deutschen Übermacht, einer deutsch-französischen Dominanz, einer „Achse“ Berlin-Moskau oder auch eines deutsch-französisch-britischen „Direktoriums“ auf die Beibehaltung amerikanischer Arbitrage in Europa gerichtet sind.
Wie in der Vergangenheit ist die russische Stabilität eine der Voraussetzungen für die europäische Stabilität. Russland schrumpft politisch auf europäische Größe; das Sozialprodukt ist ohnehin kaum größer als das Belgiens. Damit wird Russland zunehmend ein europäisches Problem. Europa kann durch eine enge Anbindung Moskaus an Brüssel nur gewinnen. Wenn es richtig ist, dass die interne Instabilität das russische (und damit das auf Russland bezogene europäische) Sicherheitsproblem Nr. 1 ist, dann sollte die wirtschaftliche und politische Kooperation mit der Europäischen Union erste Priorität auf der außenpolitischen Werteskala des Kremls und an herausgehobener Stelle der EU-Außenpolitik sein. Wie sich das europäisch-russische Verhältnis gestaltet, hängt vor allem davon ab, ob sich diese Erkenntnis in Moskau durchsetzt. Aber dass Deutschland in Bezug auf die Einbindung Russlands – ebenfalls wie in der Vergangenheit – wegen seiner spezifischen Nähe und seines spezifischen Potenzials eine besondere Verantwortung hat, ist ebenfalls evident.
Aus den Stellungnahmen Putins, Schröders und Chiracs lässt sich eigentlich nur im Prisma einer sehr theorielastigen Konstruktion ableiten, dass eine strategische Achsenbildung gegen die USA beabsichtigt war oder ist. Bei nüchterner Betrachtung stand eher die Sorge im Vordergrund, dass eine falsche Politik Washingtons die Verfolgung gemeinsamer Ziele und die Bewältigung gemeinsamer Gefahren und Risiken behindern könnte. Die „neue Unübersichtlichkeit“ nach dem Kalten Krieg hat nicht weniger Ängste vor einer isolationistischen Ausrichtung als vor einer arroganten Machtpolitik Washingtons kreiert. Schon im Vorfeld der Eskalation der Irak-Krise konnte man die einsetzende Ausgleichsdiplomatie beobachten. Mit dem Fait accompli setzten die Beteuerungen ein, man müsse in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit blicken. Überdeutlich sind die Bemühungen um innereuropäischen Gleichklang.
Die Verunsicherung und die Wankelmütigkeit in der Einschätzung von Akteurskonstellationen sind ein weiteres Indiz dafür, dass die Behauptung einer strategischen Achsenbildung vor allem die Konstruktion einer Theorieschule ist. Firmierte das Verhältnis zwischen Blair, Chirac und Schröder gestern noch als „irreparables“ und „tiefstes Zerwürfnis“ in der europäischen Nachkriegsgeschichte, wurde es nach dem Berliner Treffen der Drei im Februar 2004 in der europäischen Öffentlichkeit vielfach als nicht akzeptable „Gefahr eines Direktoriums“ bezeichnet. Schon diese schnellen Perzeptionswechsel relativieren die vordergründige Erregung über einen „deutschen Sonderweg“ oder neue Achsenbildungen. Davon abgesehen ist bei aller Aufgeregtheit über bi- oder trilaterale Treffen, Konsultationen und Absprachen festzuhalten: Die Europäische Union ist eine Organisation mit jetzt 25 Mitgliedern, in der auch eine „Achse der drei oder vier Mächtigen“ ihren Willen nur durchsetzen kann, wenn sie einen Großteil der Anderen für ihre Vorhaben gewinnt.
Ein Präzedenzfall dürfte die enge Zusammenarbeit in der Irak-Krise zwischen Deutschland, Russland und Frankreich dennoch gewesen sein. Zwar ist man in dieser Angelegenheit am Willen der Regierung Bush, den Krieg zu führen, gescheitert. Aber nicht nur die Schwierigkeiten in Irak, die viele der Vorbehalte der „Achse der Unwilligen“ bestätigt haben, sondern auch das Sichtbarmachen der politischen Kosten und der Tendenz der Gegenmachtbildung, die solcher Unilateralismus zeitigt, dürften maßgeblich dafür sein, dass in Washington heute kaum noch jemandem die Metapher von der „Achse des Bösen“ über die Lippen kommt, und dass stattdessen ein neuer Multilateralismus Platz greift.
Anmerkungen
1 Vgl. die Auszüge, abgedruckt in: Internationale Politik (IP), 3/2002, S. 119 ff.
2 Vgl. den Wortlaut der Erklärung in: IP, 3/2003, S. 119 f.
3 Vgl. den Text des Memorandums in: IP, 3/2003, S. 125 ff.
4 „Deutschland hängt am Rockzipfel der Franzosen.“ Interview mit Christian Hacke, in:Hamburger Abendblatt, 25.9.2003.
5 Gregor Schöllgen,Der Auftritt, Berlin 2003, S. 130.
6 Ebd., S. 129.
7 Ebd., S. 141.
Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 51-58
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