Deutschland und die Zeitenwende – eine Verteidigung
Binnen weniger Jahre kann die Zeitenwende die strukturellen Probleme der deutschen Sicherheitspolitik nicht beseitigen. Sie konnte nie mehr sein als der Versuch, eine – hoffentlich irreversible – Trendwende etablierter politischer Verhaltensmuster einzuleiten. Ein Kommentar zum unangemessenen Urteil von Benjamin Tallis.
Erinnert sich noch jemand an den „Konsens von München“? 2014 wurde dieser Begriff von einigen Experten geprägt, die damals einen sicherheitspolitischen Aufbruch Deutschlands zu erkennen glaubten. Als bei der Münchner Sicherheitskonferenz Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen drei anscheinend aufeinander abgestimmte Reden hielten, in denen sie die Bereitschaft Deutschlands zur Übernahme von mehr sicherheitspolitischer Verantwortung erklärten, schien die von vielen erhoffte Wende in der deutschen Sicherheitspolitik endlich gekommen zu sein.
Auch im Ausland begrüßte man den Munich Consensus. Der Einwand einiger Pessimisten, Bundeskanzlerin Merkel – die einzige Person, die wirklich eine solche Wende hätte glaubhaft ankündigen können – habe sich zu dem Thema überhaupt nicht geäußert, schien ohne Belang. Deutschland sendete endlich die Signale, auf die so viele im In- und Ausland gehofft hatten. Das Land, so konstatierte eine aufmerksame Beobachterin, sei vom unsicheren Kantonisten zur Führungsmacht geworden.
Der Konsens von 2014: eine Chimäre
Allein – der vielbeschworene Munich Consensus erwies sich schon bald als Chimäre. Auch nach der Annexion der Krim durch Russland blieb Deutschland so, wie es war. Als die Kanzlerin der NATO eher halbherzig zusagte, den Verteidigungshaushalt perspektivisch auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, ließ ihr Außenminister verlauten, diese Vereinbarung sei für ihn nicht maßgebend. Die Verteidigungsministerin kündigte diverse Trendwenden an, ohne damit jedoch etwas am desolaten Zustand der notorisch unterfinanzierten Bundeswehr ändern zu können.
Man versuchte sich mit mäßigem Erfolg an einer Friedenslösung für die Ukraine, während man zugleich das Pipelineprojekt Nord Stream 2 vereinbarte, mit dem Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland nur noch größer wurde. Und alle maßgeblichen politischen Parteien vermieden es, das für sie leidige Thema der Modernisierung der Trägerflugzeuge für die in Deutschland stationierten amerikanischen Kernwaffen auch nur anzusprechen. Deutschland, so schien es, blieb sich selbst genug. Immerhin war man ja drittgrößter Truppensteller in Afghanistan.
Handelte es sich bei der von Bundeskanzler Scholz proklamierten Zeitenwende nun also um das strategische Erweckungserlebnis, das viele sich schon 2014 erhofft hatten? Die Antwort fällt zwiespältig aus. Zum einen ist es Scholz gelungen, einige grundlegende Defizite der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zumindest kurzfristig zu verdrängen. Das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr, das Bekenntnis zur Beschaffung neuer, nuklearfähiger Kampfflugzeuge, die erheblichen Waffenlieferungen an die Ukraine und die Bereitschaft, eine Brigade im geografisch exponierten Litauen stationieren zu wollen, wären vor der Zeitenwende kaum vorstellbar gewesen. Im Gegensatz zum lediglich rhetorischen Munich Consensus von 2014 hatte Scholz neue Fakten geschaffen – und die Mehrheit der Bevölkerung dabei hinter sich.
Die Strukturprobleme bestehen weiterhin
Bei näherer Betrachtung allerdings trübt sich das Bild. Denn die Zeitenwende hat es bislang nicht vermocht, die Strukturprobleme der deutschen Sicherheitspolitik zu überwinden. Dazu gehört zuerst und vor allem die Vernachlässigung der Bundeswehr. Denn weder das einmalige Sondervermögen noch die angestrebte kontinuierliche Erhöhung des Wehretats reichen aus, um eine über 30 Jahre unterfinanzierte Bundeswehr aus ihrer Misere herauszuführen. Die markige Wortwahl des Verteidigungsministers („Kriegstauglichkeit“) macht die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nur noch deutlicher. Die konfuse Diskussion um die Wiedereinführung einer wie auch immer gearteten Wehrpflicht ist ein weiteres Indiz für eine Sicherheitspolitik, der es nach wie vor an Orientierung mangelt.
Das Ergebnis ist ein in der Öffentlichkeit zwar beliebter, von seiner eigenen Partei jedoch alleingelassener Verteidigungsminister, der eine Zeitenwende umsetzen soll, für die man ihm die erforderlichen Mittel verweigert. Dies dürfte erst einmal so bleiben. Als Sozialstaat, der noch dazu politisch zunehmend fragmentiert erscheint, ist eine substanzielle Kursänderung Deutschlands, wie sie durch die Zeitenwende suggeriert wird, nur in kleinen Schritten möglich.
Verstärkt wird dieses Dilemma durch ein weiteres Strukturproblem der deutschen Sicherheitspolitik, das auch die Zeitenwende nicht kurzfristig zu überwinden vermag: ein sicherheitspolitischer Ideenhaushalt, der ungeachtet der Bekenntnisse zu stärkeren Streitkräften nach wie vor in erster Linie im Symbolischen zuhause ist. So fährt man zwar durch die Straße von Taiwan, um China eine klare Botschaft hinsichtlich der Freiheit der Schifffahrt zu senden, hat aber große Schwierigkeiten, einen militärisch signifikanten Beitrag zum Offenhalten bedrohter Seewege am Horn von Afrika zu leisten. Hinzu kommt das Fehlen genuiner militärischer Expertise in der sicherheitspolitischen Debatte, zumal sich die deutschen Militärs kaum zu Wort melden (dürfen). Das Ergebnis ist eine – zumeist entlang parteipolitischer Linien ausgetragene – hyper-moralisierende Diskussion über die Unterstützung der Ukraine, in der sich ausgerechnet der Initiator der Zeitenwende immer wieder dem Vorwurf der Zögerlichkeit ausgesetzt sieht.
Eine wichtige Weichenstellung
Es wäre vermessen zu erwarten, dass die Zeitenwende innerhalb weniger Jahre die strukturellen Probleme der deutschen Sicherheitspolitik beseitigen könnte. Schon aus diesem Grund erscheint das harsche Urteil von Benjamin Tallis, der die „Action Group Zeitenwende“ der DGAP leitete und die Zeitenwende pauschal als gescheitert bezeichnete, als unangemessen. Die Zeitenwende konnte nie mehr sein als der Versuch, eine – hoffentlich irreversible – Trendwende bei etablierten politischen Verhaltensmustern einzuleiten. Sie war nie eine Stilübung für den von Tallis propagierten „neo-idealistischen“ Politikansatz und sollte folglich auch nicht an solch lebensfernen Maßstäben gemessen werden. Im Gegensatz zum Munich Consensus war und bleibt die Zeitenwende eine wichtige Weichenstellung, ohne die sich Deutschland vermutlich ins außen- und sicherheitspolitische Abseits manövriert hätte. Dies gilt sogar dann, wenn die Zeitenwende am Ende viele der – auch von Deutschlands Verbündeten – in sie gesetzten hohen Erwartungen nicht erfüllen wird.
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