„Deutschland muss sich entscheiden“
Die neue DGAP-Direktorin und USA-Expertin über Berlin zwischen Washington und Peking, eine brisante Weltlage und eine zu wenig vorbereitete deutsche Bevölkerung.
Cathryn Clüver Ashbrook im Gespräch mit der IP
IP: Die Bundesregierung und vor allem die Kanzlerin haben sich der neuen Biden-Regierung gegenüber recht kühl verhalten. Hat Deutschland einen transatlantischen Neustart verschlafen?
Cathryn Clüver Ashbrook: Die Kanzlerin will erstens in den letzten Tagen ihrer Amtszeit einer neuen Bundesregierung nicht vorgreifen. Sie spiegelt zweitens die begründete Skepsis, die in der deutschen Bevölkerung weiter herrscht. Der Vertrauensverlust über die vergangenen vier Jahre reicht tief. Natürlich hängt die Sicht der Deutschen und auch der deutschen Politik immer sehr vom jeweiligen Präsidenten ab; aber die Sorge um den demokratischen Zusammenhalt Amerikas, um das, was politisch auf Deutschland zukäme, wenn es mit der nächsten Wahl wieder in eine Trump-ähnliche Situation umschlägt, schwingt mit.
Die Regierung Biden hat klar verstanden, dass sie nach den Jahren unter Donald Trump eine Bringschuld hat, nicht nur gegenüber Deutschland, sondern gegenüber Europa allgemein. Dass sich Kernorganisationen der Vereinten Nationen finanziell über Wasser haben halten können, ist dem beherzten finanziellen Aufschlag europäischer UN-Partner zu verdanken – und ihrer Zusage, durch die erweiterte Allianz für den Multilateralismus für internationales Recht und Institutionen einzustehen. Die Biden-Regierung mit ihrer großen Europa-Expertise hat das gesehen und ist erst einmal in eine Angebotsvorlage gegangen. Dennoch macht das Team außenpolitische Fehler: Es informiert europäische Partner nicht nahtlos und frühzeitig zu wichtigen Entscheidungen, sei es zum Afghanistan-Rückzug oder in der Entscheidung zu den Impfstoffpatenten. Das bestärkt die Europäer in ihrer Distanz.
Da steht auch sofort die Frage zum Verhältnis USA-China im Raum …
Ja, allerdings. Die nächste Bundesregierung wird den Amerikanern schnell Angebote machen müssen. Deutschland und Europa müssen in ihrem direkten Umfeld, aber auch in der China- und Indo-Pazifik-Politik einiges leisten, um Biden den Rücken freizuhalten. Er muss innenpolitisch beweisen, dass seine außenpolitische Linie die bessere ist. Hier kann Europa helfen.
Aus dem Kanzleramt hörte man anhaltend großes Misstrauen den USA gegenüber. Dass andersherum Nord Stream 2 ein Punkt ist, bei dem sich Merkel überhaupt nicht bewegen wollte, ist auch in Washington vermerkt worden.
Die Regierung Trump hat Deutschland und die Bundeskanzlerin zum Feindbild stilisiert. Nun hofiert Biden Berlin bei allem, was für Amerika strategisch relevant wird. Auch wenn beide Partner die Probleme nüchtern und auf Augenhöhe angehen wollen, bleiben Spannungen. Biden geht auf die Bundesregierung zu, indem er trotz erheblichen innenpolitischen Drucks aus beiden Parteien und Kongresskammern, Nord Stream 2 mit stärkeren Sanktionen zu belegen und diese auf Deutschland zu erweitern, standhält. Stattdessen setzt er auf alle diplomatischen Mittel, inklusive der geplanten Ernennung eines Sonderbeauftragten, um das Problem konstruktiv zu lösen, auch wenn er prinzipiell gegen das Projekt ist.
Gibt es Verletzungen aus den Trump-Jahren, die bleiben werden?
Mit der Wahl Bidens können die innenpolitischen und die antidemokratischen Bewegungen in den USA ja nicht unter den Teppich gekehrt werden, es ist ja jetzt nicht „alles wieder gut“. Europa ist in den ersten zwei Jahren der Trump-Regierung in eine Art Schockstarre verfallen; seitdem erleben wir einen Reifeprozess, sowohl in der deutschen wie auch zum Teil in der europäischen Außenpolitik. Die Diskussion um die europäische Souveränität oder die Kapazität, eigene, internationale Interessen funktional vertreten zu können, ist Resultat dieses Reifeprozesses.
Darüber hinaus brauchen wir aber ein neues transatlantisches Narrativ. Die innenpolitischen Veränderungen in den USA erzwingen jetzt schon eine neue Daseinsbegründung: Anstatt als Wert an sich werden die transatlantischen Beziehungen den amerikanischen Wählern als Bollwerk gegen autoritäre Staaten wie Russland und China dargestellt. Die Staaten des „erweiterten Westens“, aus Sicht der Biden-Regierung sind das auch die Demokratien in Asien und im Indo-Pazifik, müssen sich gerade der Herausforderung durch China stellen. Deutschland wird entscheiden müssen, ob diese Interpretation der transatlantischen Beziehungen passt. Es kann auch einer neuen Bundesregierung nicht recht sein, wenn die innenpolitischen Spannungen in den USA zu einem Wiedererstarken des Trumpismus führen.
Wäre jetzt nicht eine gute Zeit, um auch auf deutscher oder auch europäischer Seite Angebote an die neue US-Regierung zu formulieren?
Absolut. Das impliziert auch, was die Biden-Administration erwartet, aber nicht explizit sagt: Gerade, wenn es um die östliche und südliche Sicherheit Europas geht, müssen NATO und EU viel mehr tun. Dieser Präsident verbindet alles, auch innenpolitische Dynamiken, mit dem Großmachtringen mit China. Meiner Meinung nach wäre es diplomatisch klug, wenn sich die Bundesregierung und Europa in Vorlage begäben und zum Beispiel die EU-NATO-Projekte noch schneller und besser finanziert umsetzen würden. Aber wir haben eben auch unsere eigenen innenpolitischen Gegebenheiten mit einer Bundestags- und dann einer französischen Wahl 2022. Entscheidungen zur erweiterten militärischen Kapazität Europas brauchen traditionell Zeit. Allerdings könnte es hier mit einem aggressiven Russland zu brenzligen Situationen und Komplikationen kommen.
Sollte sich der transatlantische Kurs einer neuen Bundesregierung von Merkel abgrenzen, und wenn ja, wo?
Das erste muss ein klares Bekenntnis zu Deutschlands Rolle in der Welt sein, ein ehrlicher Umgang damit, was Deutschland leisten kann und leisten möchte. Die Amerikaner werden schnell eine deutliche Positionierung im Verhältnis Deutschland, USA und China verlangen, auch wenn sie es zurzeit offiziell abstreiten. Das wird die nächste Bundesregierung in eine extreme Situation bringen, zumindest aber in eine Dauererklärungsnot. Angesichts des deutschen Wirtschaftsmodells wird eine Positionierung auch für die nächste Regierung in der Klarheit, wie sie sich die Amerikaner erhoffen, kaum möglich sein.
Weil Kernsegmente der Wirtschaft zu abhängig sind vom China-Geschäft?
Deutschland wird immer versuchen müssen, sich als Ausgleichsmacht zu positionieren, um die eigene Stellung in diesem Spannungsverhältnis zu halten. Dennoch muss es angesichts der großen Bedrohungen eine gute Absprache mit den USA gerade zu den umfassenden Systemfragen geben. Das heißt nicht, dass Berlin Washington auf Schritt und Tritt Folge leisten wird, das wird im Sinne der eigenen Souveränität und Handlungsfreiheit nicht gehen. Eine neue Bundesregierung sollte von Anfang an Klarheit schaffen, indem sie eine nationale Sicherheitsstrategie formuliert und diese auch systematisch umsetzt, durch vernetzte, interministerielle Absprache als Teil eines erweiterten Nationalen Sicherheitsrats. Dadurch würden auch die Priorisierung und Berechenbarkeit einer deutschen Außenpolitik deutlicher. Das nicht zu tun, wäre angesichts der überwölbenden Fragen, die sich über Deutschland zusammenbrauen, ein großer Fehler.
Welche Fragen meinen Sie?
Wir werden wohl erst im Dezember oder noch später eine sprechfähige Regierung haben. Dann wählt Frankreich. Es ist leider eine Tradition großer Wahlen in Europa, sowohl im Wahlkampf als auch danach erst einmal Nabelschau zu betreiben. In einem europäischen Superwahljahr bieten die EU und ihre Mitgliedsländer zu viele Einfallstore für Eingriffe autoritärer Staaten wie Russland und China, die Momente des Wechsels strategisch nutzen wollen.
Wenn Deutschland und Frankreich über viele Monate innenpolitisch konzentriert sind, fehlt einer EU-Kommission, die geopolitisch denken will, die nötige Rückendeckung. Zuletzt haben wir angesichts Russlands, Chinas und der Türkei gesehen, wie schwierig es bleibt, Europa außenpolitisch mit einer Stimme sprechen zu lassen. Russland scheut, wie zuletzt in der Ukraine und auf andere, nichtmilitärische Weise in Belarus, nicht vor aggressiven Methoden zurück. Es erweitert sein Cyber-Repertoire mit Angriffen russlandbasierter Netzwerke auf amerikanische und europäische Ziele, hat eine große Modernisierung seiner Nuklearwaffen hinter sich und rüstet auch generell technologisch Waffensysteme nach, ohne dass wir dafür mit Ausnahme von New START ein auf globale Realitäten zugeschnittenes Kontrollsystem hätten. Ein neuer Cyber-Angriff auf den Deutschen Bundestag, die Wahlen in Frankreich oder kritische Infrastruktur ist völlig im Rahmen des Möglichen – das gab es schon und es ist nicht umfassend aufgearbeitet worden.
Außerdem könnte Chinas neue außenpolitisch aggressive Diplomatie dazu führen, dass das EU-China-Abkommen zwar nie ratifiziert wird, Europa dennoch den Kürzeren zieht und wenig erreicht im Sinne des Einwirkens auf die Weltmacht, Menschenrechte und die Sonderrollen Taiwans und Hongkongs zu respektieren. Europa hat große Kreativität gezeigt, seine Wirtschaft gemeinsam durch diese Pandemie zu bringen. Nun aber stehen dringende Fragen im Raum: Wie kann die Integration der Eurozone weiter funktionieren, wie können Volatilitäten in der Eurozone und Schuldenumlagerungen austariert werden? Das wird für die europäische Solidarität schwierig werden. Das alles sehe ich als Gefahr für die Stärke des europäischen Projekts.
Gibt es in Deutschland ein ausreichend großes Bewusstsein dafür, was sich wirklich ändern muss?
Die kurze Antwort ist Nein. Die Tatsache, dass man Szenarien, strategische oder antizipatorische Planung nur innerhalb eines Ministeriums anstellt, aber nicht die Kapazitäten hat, diese nachvollziehbar mit der Öffentlichkeit zu teilen, ist für mich ein großer Schwachpunkt. Schauen Sie – trotz der Corona-Krise geht es der deutschen Volkswirtschaft doch vergleichsweise gut. Das liegt auch daran, dass sie eng mit China verknüpft ist und China sich so schnell von dieser Pandemie erholt hat wie keine andere Volkswirtschaft. Das sind geoökonomische Realitäten. Aber welche langfristigen Konsequenzen können diese Verflechtungen haben? Wie müssen Wertschöpfungsketten aussehen, die der speziellen Wirtschaftsstruktur Deutschlands Rechnung tragen? Und: Innen- und außenpolitische Fragen lassen sich nicht mehr trennen.
Die deutsche Bevölkerung aber wird noch nicht ausreichend systematisch auf solche oder neue, auch bedrohliche Fragestellungen vorbereitet. Das macht mir große Sorgen. Wenn man in deutschen Großstädten unterwegs ist, ist die Konsumlust noch relativ groß. Ob das über die nächsten 20 oder 30 Jahre haltbar ist angesichts des Drucks, der sich zwischen den USA und China über Deutschland aufbaut, ist zumindest ungewiss.
Deutschland hat sich mit seiner Kritik an China in Fragen von Menschenrechten eher zurückgehalten. Wie wird das in Washington interpretiert?
Ich würde vielleicht den Ausdruck eines fokussierten deutschen Merkantilismus wählen. Die Verknüpfungen gerade in den Kernindustrien wie Automobil- und Maschinenbau sind sehr stark. Das sind eben nicht nur ausgeglichene Wirtschaftsbeziehungen, sondern Anfänge von Abhängigkeiten. Trotzdem ist diese Abhängigkeit auch gegenseitig, jedenfalls noch eine Zeit lang, bis China Maschinen ebenso effizient, aber billiger bauen kann als wir.
Bislang ist es ja nicht so, dass Deutschland am chinesischen Tropf hinge und Menschenrechtsverletzungen akzeptieren müsste. Das ist das Argument der Amerikaner: Nutzt den Vorteil eng verknüpfter Wertschöpfungsketten! Dass eine Bundesregierung das EU-China-Investitionsabkommen in dieser Form auf den Weg bringt, dass deutsche politische Organisationen und Stiftungen in China von Chinesen geführt werden sollen, die Sanktionen gegen Politiker und Think-Tanks verhängen – dies setzt in Deutschland ein Umdenken in Gang. Denn China fängt an, in Grundwerte und Entscheidungsfreiheiten Deutschlands einzugreifen.
Ist die Zeit nach Merkel reif für neue große Würfe à la TTIP oder ein großes transatlantisches Projekt? Oder müssen wir uns auf ein eher themenbezogenes Verhältnis einstellen?
Die großen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Würfe wird es nicht mehr geben, weil sich das gesamte Umfeld verändert hat. Auch angesichts des anhaltenden Vertrauensdefizits auf beiden Seiten ist es ratsam, sich erst einmal darum zu kümmern, das System liberalkapitalistischer westlicher Demokratien zu erhalten. Es geht jetzt um isolierte Themen wie den Abbau von Industriezöllen, ein gemeinsames Voranbringen internationaler Standards zum Beispiel im Digital- und Cyberbereich, eine Digitalsteuer, den Technologiebereich. Es muss dabei immer klar gemacht werden, wie das sowohl der Demokratie als auch den Bevölkerungen hilft.
Die Vertrauensgrundlage wieder so herzustellen, dass man sich größeren Projekten widmen könnte, das wäre ein großer Wurf zum Neudenken der multilateralen Architektur, zum Beispiel einer größeren Koordination zwischen NATO und dem erstarkenden Quad-Format in Asien. Oder wie eine neue Sicherheitsarchitektur aussehen könnte, die Atlantik und Pazifik im Sinne der Amerikaner abdeckt – das wären wirklich große Räder, dort könnten auch Deutsche und Europäer eine Rolle spielen. Aber das lässt sich mit den Bevölkerungen zurzeit so nicht drehen.
Apropos Bevölkerungen: Ist die Ebene der Städte eine mit Potenzial abseits der ganz großen Projekte?
Städte haben in den vergangenen zehn bis 15 Jahren international aus Eigeninteresse funktionale Netzwerke geschaffen, um sich transnationalen Problemen stellen zu können, die in einer Stadt durch die Dichte des Zusammenlebens potenziert werden. Denken wir an C40, das Global Parliament of Mayors oder auch bi- und trilaterale Verbindungen zur Terrorismusprävention. Während der Trump-Regierung waren es US-Städte, Bundesstaaten und Unternehmen, die es ermöglicht haben, die Pariser Klimaziele weiterzuverfolgen. Die NATO ist bereits vor einigen Jahren zu dem Schluss gekommen, dass militärische Auseinandersetzungen der Zukunft urbaner sein werden, denken wir nur an Syrien. Generell sollten Regierungen in Demokratien das, was Städte im Zusammenschluss zu transnationalen Fragen erarbeitet haben, in ihre Politikplanung aufnehmen.
Städtediplomatie, Transatlantisches, China oder Russland: Sind das auch erste Umrisse für Ihre Arbeit in der DGAP?
Die DGAP muss sich größeren und ambitionierteren Fragen stellen. Das internationale Umfeld für Deutschland verändert sich rapide, ohne dass die breite Bevölkerung auf diesen Wandel vorbereitet wäre. Die Pax Americana beginnt nicht nur an der Fassade, sondern auch im Grundsatz zu bröckeln, weil Chinas Wirtschaftskraft die Welt vor neue Fragen stellt, wie es die Sowjetunion damals nicht vermocht hat. Das war ein Systemrivale, der aber an Wirtschaftsleistung, an Innovationskraft und an globaler Wirkung dem Westen nie bedrohlich werden konnte. China aber hat die militärischen, wirtschaftlichen und innovativen Kapazitäten. In den nächsten zehn Jahren werden autoritäre Staaten eine größere Wirtschaftsleistung erbringen als Demokratien.
Wie ist das deutsche exportorientierte Wirtschaftssystem darauf vorbereitet? Was bedeutet internationale Verantwortung für Deutschland und Europa? Wie muss deutsche Außenpolitik gestaltet werden, um das Projekt Europa zusammenzuhalten – und wie können wir umgekehrt als ausgleichende Kraft mit eigenen, klar formulierten Interessen mit den Großmächten USA und China interagieren? Dazu muss man sich übergreifend neue Gedanken machen, dafür muss man das Gespräch mit der Bevölkerung suchen.
Was bedeutet das für die DGAP?
Für mich ist die DGAP in dieser Situation die ideale Institution. Ihre Struktur verbindet die Kapazität evidenzbasierter Analyse und Vorausschau mit einer Nähe zur Bevölkerung, wie sie kein anderer Think Tank und – seien wir ehrlich – auch die Berliner Regierungsebene so haben kann. Offen neue, kritische und provokante Fragen zu stellen, diese wissenschaftlich zu bearbeiten, zu belegen und neue Handlungswege aufzuweisen, das ist für mich die Aufgabenstellung für die DGAP.
Diese Fragen werden auch die Partner an Deutschland stellen, sowohl in der EU als auch das Vereinigte Königreich, die USA wie auch die anderen großen Weltdemokratien. Zu einer Berechenbarkeit in der deutschen Außenpolitik gehört eine klarere Positionierung gegenüber der Bevölkerung und den internationalen Partnern. Das sind große Herausforderungen. Die DGAP ist wie keine andere Organisation in Deutschland gerüstet, aus diesen Herausforderungen neue Herangehensweisen zu erarbeiten, wie das bereits in den vergangenen Jahren begonnen hat. Auf diese Arbeit freue ich mich ganz besonders.
Die Fragen stellte die IP-Redaktion.
Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 18-24