Deutschland: auf Terror schlecht vorbereitet
Nach den Anschlägen vom September 2001 wurden in Deutschland die so genannten „Otto-Pakete“
zur Verbesserung der Terror-Abwehr verabschiedet. Werthebach, ehemals Präsident des
Bundesverfassungsschutzes und Berliner Innensenator, hält Deutschland aus rechtlichen und organisatorischen
Gründen für nur „bedingt abwehrbereit“ und macht Änderungsvorschläge.
Es ist anzuerkennen, dass die deutschen Regierungen und Parlamente nach dem 11. September 2001 eine ganze Reihe von vor allem gesetzgeberischen Maßnahmen in dem guten Glauben auf den Weg gebracht haben, nunmehr der terroristischen Gefahr erfolgreicher begegnen zu können. Doch zahlreiche schwere Anschläge nach diesem Datum, die auch Deutsche trafen, beweisen, dass bestehende Zweifel berechtigt sind.
Man kann gar nicht genug darauf hinweisen, dass die aus der deutschen Nachkriegsrechtstradition hervorgegangene strikte Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten in Staatsschutzangelegenheiten eine systemimmanente Sollbruchstelle ist, die eine homogene Sicherheitsarchitektur von vornherein erschwert. Will man mit guten Gründen auch in Zukunft an dem etablierten Sicherheitsföderalismus festhalten, weil die Politik dies als Ausfluss der Erfahrungen mit dem Reichssicherheitshauptamt während der NS-Diktatur für unabweisbar hält, so sollte man jedoch über die verbliebenen Möglichkeiten wie Folgen pragmatisch und ideologiefrei diskutieren.
Dabei möchte ich auf die diesem System immanenten Fehlerquellen hinweisen. So entsteht beispielsweise in keiner der vielen zuständigen Behörden angesichts der unausweichlichen vertikalen und horizontalen Informationsübermittlungsdefizite ein vollständiges Lagebild über den Terrorismus, in das alle vorhandene Detail- und Einzelinformationen einfließen. Diese Schwäche verstärkt sich noch dadurch, dass die Teilaufgabe Verfassungsschutz und sein Informationsaufkommen auf 16 + 1 selbständige Behörden des Bundes und der Länder aufgeteilt sind. Tatsächlich befassen sich in Deutschland mehr als 36 selbständige Behörden getrennt voneinander mit Staats- und Verfassungsschutzangelegenheiten. Deshalb sollten wenigstens die pannenträchtigen Risiken reduziert werden; dafür bieten sich zwei Wege an:
– Die Aufgabe „Verfassungsschutz“ wird entweder im Grundgesetz als eine Bundesaufgabe bestimmt oder aber sie bleibt eine föderale Aufgabe, und im Wege von Staatsverträgen, die die Länder untereinander schließen, werden sechs oder sieben im Wesentlichen gleich leistungsstarke Landes-Verfassungsschutzämter geschaffen, die gemeinsam mit dem Bundesamt die Aufgabe „Verfassungsschutz“ bewältigen. Derartige länderübergreifende Fusionen von Behörden vollziehen sich derzeit schon bei anderen Fachaufgaben in den Regionen Hamburg und Schleswig-Holstein oder Berlin und Brandenburg.
– Um die systemimmanenten zwangsläufigen Informationsübermittlungsdefizite zwischen den 36 verschiedenen Sicherheitsdiensten drastisch zu verringern, wird die Errichtung einer gemeinsamen Datenbank „internationaler Terrorismus“ beschlossen. Alle Sicherheitsbehörden werden gesetzlich verpflichtet, anlassunabhängig die den internationalen Terrorismus betreffenden Informationen an die Datenbank zu übermitteln. Das geht deutlich über das von der Bundesregierung nach dem 11. 9. 2001 eingerichtete so genannte Informationsboard hinaus. Hinter diesem Board verbirgt sich (nur) eine turnusmäßig oder anlassbezogen tagende Arbeitsgruppe von Bundesbehörden , in die die verfügbaren, themenbezogenen Informationen eingebracht und anschließend getrennt in eigene Dateien eingestellt werden. Trotz dieser Hilfsbrücke wird das informationelle Defizit noch dadurch vergrößert, dass eine anlassunabhängige, umfassende Informationsübermittlung zwischen den Staats- und Verfassungsschutzbehörden selbst im Bereich des islamistischen Terrorismus in keine Richtung zulässig ist.
Die organisatorische oder zumindest informationelle Vernetzung deutscher Sicherheitsbehörden in Staats- und Verfassungsschutzangelegenheiten ist angesichts der fortdauernden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus zwingend geboten. Dabei wäre einer organisatorischen Neugliederung unter Effizienzgesichtspunkten ohne Zweifel der Vorzug einzuräumen, weil eine Datenbank einer fortwährenden politischen Auseinandersetzung über das Spannungsverhältnis „Daten- oder Täterschutz“ ausgeliefert wäre.
Terroranschläge, die den Tod Tausender Menschen zur Folge haben, wie auch verheerende Naturkatastrophen geben Anlass zu der Frage: Wer gewährleistet eigentlich den Schutz der Bevölkerung und der sensiblen Infrastrukturen bei nicht kriegsbedingten nationalen und internationalen Großschadenlagen?
Die föderale Sicherheitsarchitektur Deutschlands – in der Nachkriegszeit des Ost-West-Konflikts entstanden – trennt nach wie vor strikt die Aufgabenfelder „innere Sicherheit“ und „äußere Sicherheit“ sowie „Katastrophenschutz“ und „Zivilschutzvorsorge“, obwohl eine existenzgefährdende militärische Bedrohung durch andere Staaten faktisch nicht mehr besteht und eine neue asymmetrische durch den Terrorismus entstanden ist. Diese neue Form der asymmetrischen Bedrohung geht einher mit einer grundlegenden Veränderung der Gefahren für die äußere Sicherheit.
Wenn, wie es der Verteidigungsminister ausdrückt, die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch zu verteidigen ist, darf der Schutz der deutschen Bevölkerung nicht darunter leiden, dass wir uns aus historischen Gründen nicht in der Frage verständigen wollen, wo die „innere Sicherheit“ endet und wo die „äußere“ beginnt. Es scheint daher vor dem Hintergrund weitergehender politischer Auseinandersetzungen über die Bundeswehr sowie ihre zukünftigen Aufgaben und Strukturen sachgerecht und geboten, auch die Fragestellung eines neu definierten Inlandseinsatzes der Streitkräfte einzubeziehen.
Die bereits in Ansätzen durchaus bestehende Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Polizei, Feuerwehr und Hilfsdiensten unter Einbeziehung von BGS und THW ist konsequent auszubauen und durch gemeinsame Ausbildung und Übungen zu festigen. Die außerordentlich erfolgreiche Arbeit der Bundeswehr bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen in den letzten Jahren lässt erkennen, welcher zusätzliche Sicherheitsgewinn zugunsten der Bevölkerung erreichbar ist, ohne dass dabei Vorbehalte entstehen würden. Die herkömmlichen Bedrohungslagen und Katastrophenfälle sind nach einer verbesserten und intensivierten Zusammenarbeit beherrschbar. Dabei obliegt das Krisenmanagement den Ländern.
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen aber auch, dass bereits bei herkömmlichen Schadenlagen Informations- und Koordinationsdefizite auftraten, die nur durch eine stärkere Unterstützung durch Bundesstellen überwunden werden können. Das wieder errichtete Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe wird als Servicestelle des Bundes das Krisenmanagement der Länder in den Bereichen Information und Koordination deutlich unterstützen können.
Organisatorisch und personell unzureichend vorbereitet sind wir auf die neuen Formen schwerer terroristischer Anschläge, die auch eine veränderte Bedrohung für die Völkergemeinschaft und den Frieden bedeuten. In diesen Fällen ist ein integrierter Verbund der Sicherheitsorgane des Bundes und der Länder – wohlgemerkt nur für diese besondere Gefahrenlagen – notwendig und der Einsatz der Streitkräfte im Innern unverzichtbar. Die Bundesregierung hat mit dem am 5. 11. 2003 vom Kabinett beschlossenen Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes zum Schutz vor Angriffen auf den Luftverkehr, insbesondere zur Abwehr terroristischer Angriffe aus der Luft, im Grundsatz anerkannt, dass die unzureichenden polizeilichen Handlungs- und Sanktionsmittel den Streitkräfteeinsatz erfordern. Warum allerdings der Gesetzentwurf den Einsatz der Streitkräfte auf Angriffe aus der Luft beschränkt, ist nicht verständlich.
Inzwischen erwägen sowohl das Verteidigungsministerium als auch die Opposition die Schaffung einer nationalen Küstenwache zur Abwehr terroristischer Gefahren auf See. Es sind durchaus auch terroristische Angriffe von See vorstellbar und möglich, die von der Wasserschutzpolizei oder dem BGS schon mangels Distanzwaffen nicht unterbunden werden können. Darüber hinaus ist auch ein Einsatz besonders ausgebildeter Streitkräfte zum Schutz ziviler Objekte vor terroristischen Angriffen in den genannten besonderen Gefahrenlagen (also außerhalb des Spannungs- und Verteidigungsfalls sowie des Staatsnotstands) geboten.
Die in Deutschland bestehende strenge verfassungsrechtliche Selbstbeschränkung eines Streitkräfteeinsatzes im Inland ist einmalig in der westlichen Welt; sie geht auf die sehr belastenden Erfahrungen in der Weimarer Republik zurück, in der die Reichswehr gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wurde. Ein solcher Einsatz der Streitkräfte wäre heute nicht nur völlig unvorstellbar und selbstverständlich auch nicht durch eine Erweiterung ihrer Einsatzbefugnisse auf die Abwehr terroristischer Gefahren wahrscheinlicher. Im Gegenteil: Gerade durch eine Grundgesetzänderung wird eine politische Diskussion über Ziele und Grenzen eines genau umschriebenen Einsatztatbestands zwingend und unvermeidbar. Im Interesse eines besseren Schutzes der Bevölkerung vor terroristischen Angriffen großen Maßstabs schlage ich deshalb folgende Maßnahmen vor:
1. Die Vielzahl der in Deutschland für die Beobachtung und Bekämpfung des internationalen Terrorismus zuständigen Behörden wird organisatorisch zusammengefasst, hilfsweise durch eine gemeinsame Datenbank „islamistischer Terrorismus“ informationell vernetzt.
2. Die tradierte, zu starre föderale Sicherheitsarchitektur Deutschlands, die im Grundsatz die innere Sicherheit und den Katastrophenschutz als Aufgabe der Länder und Kommunen, die äußere Sicherheit und den Zivilschutz als Aufgabe des Bundes bestimmt, wird aufgehoben, um den Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Angriffen zu Lande, zu Wasser und aus der Luft zu verbessern. Durch Gesetz werden über die Amtshilferegelung des Artikels 35 Grundgesetz hinausgehend die originär und mitwirkend zuständigen Institutionen und Behörden des Bundes und der Länder zur Gefahrenabwehr, Zivilschutzvorsorge und zum Katastrophenschutz zu einem Sicherheitsverbund verknüpft.
3. Die Aufgaben des Schutzes der Bevölkerung vor den Gefahren des internationalen Terrorismus werden als eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern bestimmt. Dass die Mitwirkung des Bundes bedeutsam im Sinne des Artikels 91a Grundgesetz (= Gemeinschaftsaufgabe) und erforderlich ist, beweisen die aktuelle Sicherheitslage und die strukturellen Schwächen vieler Länder. Folglich ist Artikel 91a Grundgesetz zu ergänzen.
Eine Ergänzung des Grundgesetzes erscheint aus Gründen der Rechtssicherheit unverzichtbar. Die Regelung in der schweizerischen Bundesverfassung könnte als Vorlage dienen; dort heißt es in Artikel 58 Absatz 2 der Bundesverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft:„Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer außerordentlicher Lagen. Das Gesetz kann weitere Aufgaben vorsehen.“
Es ist an der Zeit, dass auch Deutschland seine rechtlichen und organisatorischen Strukturen der grundlegend neuen Bedrohung anpasst.
Internationale Politik 2, Februar 2004, S. 29‑33
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