Deutsche Russland-Politik
Die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt und das Ende von Medwedews Modernisierungskurs haben für Ernüchterung in Deutschland gesorgt. Sollten wir auf Distanz zu Moskau gehen und uns auf pragmatische Wirtschaftsbeziehungen beschränken? Nein. Und das ist nur einer von vielen Irrtümern in der deutschen Russland-Politik.
» Die Modernisierungspartnerschaft ist das ideale Mittel, um Russland bei seinem Reformprozess zu unterstützen «
Falsch. Das System Putin ist resistent gegenüber jeglichen Modernisierungsbestrebungen. Während die deutsche Seite über wirtschaftliche Zusammenarbeit auch eine politische Modernisierung anstoßen möchte, sind die russischen Eliten ausschließlich an Technologietransfer und Investitionen interessiert. Deutschland bemüht sich darum, die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und eine Verbesserung des Handlungsrahmens für kleine und mittlere Unternehmen zu fördern – Russlands Eliten möchten genau das verhindern. Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit sind Systemmerkmale des unter Wladimir Putin entstandenen politischen Systems. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass sich die Eliten ungestraft bereichern können. Die Dominanz des Staates in der Wirtschaft sichert den russischen Eliten weitere Einnahmen.
Die deutsche Politik des Wandels durch Annäherung mag in den siebziger und achtziger Jahren wichtige Impulse für die Vertrauensbildung gegenüber der Sowjetunion gegeben haben. Aber für das heutige System des autoritären Rent-seeking-Kapitalismus dient diese Politik eher der Legitimierung eines undemokratischen und modernisierungsfeindlichen Systems. Die entscheidenden Elitenzirkel in Russland haben kein Interesse an einer langfristigen Moder-nisierung des Landes. Sie verdienen prächtig mit den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft und verfolgen auch aufgrund fehlender Rechtsstaatlichkeit eher kurzfristige als langfristige Ziele. Deshalb existiert bis auf die Ostsee-Pipeline bisher kein weiteres sichtbares Großprojekt der Modernisierungspartnerschaft.
Die deutsche Passion, Russland nach innen zu demokratisieren und in Europa zu integrieren, basiert auf naiven Annahmen und führt letztlich zu Frustration. So begrüßten Deutschlands führende Politiker und Wirtschaftsvertreter mit Begeisterung die Reformankündigungen des 2008 gewählten Präsidenten Dmitrij Medwedew. Dass das Tandem Putin-Medwedew ein integraler Bestandteil des Systems Putin war, wurde dabei ignoriert. Medwedew wurde von der russischen Elite als Präsident ausgewählt, da er leichter zu kontrollieren schien und einer dritten Amtszeit von Wladimir Putin nicht im Wege stand. Gleichzeitig bestand seine Aufgabe darin, die gravierenden Auswirkungen der globalen Finanzkrise 2008/09 auf die russische Wirtschaft abzufedern. Indem er gegenüber der EU einen kooperativen Ansatz verfolgte, suggerierte Medwedew Reformbereitschaft und sollte damit dringend benötigte Investitionen und Technologietransfers garantieren.
Die Entscheidung für die Rochade Putin-Medwedew zeigt jedoch, dass Russlands Elite nicht ernsthaft zur Modernisierung des Landes bereit ist. Denn das würde einen politischen Machtverlust bedeuten. In Teilen der russischen Elite wuchs die Befürchtung, dass die Reformrhetorik in einer zweiten Amtszeit Medwedews tatsächlich in die politische Praxis umgesetzt werden könnte. In Wladimir Putins Idealvorstellung soll eine Modernisierung des Landes über umfassende Investitionen in die Militärindustrie erfolgen, sodass diese zum Zugpferd für die gesamte russische Wirtschaft würde. Jedoch hat Russland auch auf diesem Sektor in den vergangenen Jahren den Anschluss an die internationale Konkurrenz verloren. Es fehlt sowohl an Fachkräften als auch an ökonomischen Rahmenbedingungen, um eine echte Modernisierung auf diesem Sektor zu ermöglichen.
» Ohne Deutschland kann es keine funktionierende europäische Russland-Politik geben «
Stimmt. Als wirtschaftliches und politisches Schwergewicht der Europäischen Union war die Bundesrepublik in der Vergangenheit die treibende Kraft bei der Osterweiterung der EU und bei der Politikgestaltung gegenüber den postsowjetischen Staaten. Deutschland verfügt über enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland und hat während seiner EU-Ratspräsidentschaft 2007 Konzepte für Zentralasien, die erweiterte Schwarzmeer-Region und die östliche Nachbarschaftspolitik entwickelt. In Russland gilt Berlin aufgrund seiner Wirtschaftsmacht und seines Investitionsvolumens als der wichtigste Partner in der EU. Die Union und ihre Mitgliedstaaten sind darauf angewiesen, dass Berlin eine zentrale Rolle in den Beziehungen zu Russland spielt, da nur Deutschland in Kooperation mit anderen Mitgliedstaaten die russische Führung zu Kompromissen bewegen kann. Doch genau dieses Engagement lässt die Bundesregierung im Moment vermissen.
Berlin ist mit der Euro-Krise, den Ereignissen in der arabischen Welt und dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr überlastet. Gleichzeitig verzichtet Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht auf Kritik an Putins Russland und den wachsenden autoritären Tendenzen in der Ukraine und Belarus. Jedoch fehlen neue Ideen für eine konstruktive Russland-Politik. Die unter dem sozialdemokratischen Außenminister Frank-Walter Steinmeier entwickelte Modernisierungspartnerschaft gegenüber Russland läuft weiter, ohne dass neue Akzente gesetzt werden. Merkels Nüchternheit gegenüber Putin nach Jahren der Männerfreundschaften zwischen Kohl und Jelzin sowie Schröder und Putin kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesregierung kein eigenes Konzept für die Russland-Politik hat, das den Realitäten angepasst wäre. Gleiches gilt für die Sanktionspolitik gegenüber der belarussischen Führung und für die Ultimatumspolitik gegenüber der Ukraine unter Viktor Janukowitsch. Beide Ansätze haben nicht zu den erhofften Ergebnissen geführt, jedoch den Spielraum deutscher Politik gegenüber den Ländern stark eingeschränkt. Auch dem sicherheitspolitischen Dialog mit Russland um den Transnistrien-Konflikt im Rahmen des so genannten Meseberg-Prozesses fehlt ein stärkeres persönliches Engagement der Kanzlerin sowie eine frühzeitige Einbindung in den EU-Rahmen. Infolgedessen hatte die russische Führung nie das Gefühl, dass Kompromisse nötig oder lohnend wären.
Russland und die postsowjetischen Staaten sind keine Priorität für die aktuelle Bundesregierung – und das ist nicht gut für die EU. Denn ohne deutsche Führung wird die EU aus der Sackgasse ihrer Beziehungen zu Russland nicht herauskommen. Der pragmatische Ansatz der polnischen Führung gegenüber Russland birgt enorme Chancen für eine Reform der EU-Russland-Beziehungen. Ohne umfassende deutsche Unterstützung fehlt es allerdings an politischem Gewicht hinter diesen Initiativen.
» Wir müssen unsere Politik gegenüber den postsowjetischen Staaten eng mit Moskau abstimmen «
Nein. Dieses Mantra deutscher Politik ist überholt. Es widerspricht der Realität russischer Beziehungen zu diesen Staaten und wird zu einem Einflussverlust in der gesamten Region führen. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion haben sich die meisten postsowjetischen Länder als eigenständige Staaten etabliert; sie versuchen, ihre Souveränität gegenüber Moskau zu wahren und den russischen Einfluss zurückzudrängen. Die starke Fokussierung auf Russland als Regionalmacht wird den kooperativen und zum Teil integrativen Ansätzen der anderen postsowjetischen Staaten gegenüber der EU nicht gerecht. Eine Politik, die die russischen Interessen zu stark berücksichtigt, führt zu Frustration und behindert die nötige Modernisierung in den Ländern selbst.
Auch wenn Russland qua Größe und wirtschaftliche Macht das wichtigste Land im postsowjetischen Raum bleiben wird, sollte die Bundesregierung ihre Politik gegenüber der Region stärker differenzieren und von Russland abkoppeln. Das Ziel der russischen Eliten ist es, vom Westen als Regionalmacht im postsowjetischen Raum anerkannt zu werden. Gleichzeitig möchte man eine weitere Demokratisierung und Integration dieser Staaten in EU und NATO verhindern. Russlands Interessen laufen damit oftmals konträr zu den Interessen der EU und Deutschlands. Gleichzeitig hat Moskau im Unterschied zur EU kein Interesse an Konfliktlösungen in der Region. Im Gegenteil, es nutzt die ethnischen und territorialen Konflikte, um seinen Einfluss aufrechtzuerhalten. Das zeigt sich etwa daran, dass Russland gleichzeitig Waffen an Armenien und an Aserbaidschan liefert und damit an der Rüstungsspirale in der Region dreht.
Deutschland und die EU sollten sich darauf einstellen, dass Russland aufgrund seiner inneren Modernisierungsdefizite immer weniger dazu in der Lage sein wird, als Ordnungsmacht im postsowjetischen Raum aufzutreten und Konflikte in Zentralasien oder im Südkaukasus einzuhegen. Die Erfahrungen im Nordkaukasus zeigen, dass Moskau keine Konzepte besitzt, mit denen sich ethnische Konflikte eindämmen ließen. Die russische Politik kann nicht angemessen auf Krisen reagieren und hat keine Instrumente zur zivilen Konfliktbearbeitung entwickelt. Trotz der nach dem russisch-georgischen Krieg 2008 gestarteten Militärreform ist die russische Armee weder organisatorisch noch technologisch auf die Konflikte des 21. Jahrhunderts vorbereitet.
Russlands aktuelles „multilaterales“ Projekt der Eurasischen Union sollte deshalb nicht als realistischer Rahmen für die Integration der postsowjetischen Staaten um einen russischen Kern interpretiert werden, sondern als letzter Versuch, eine ökonomische Schwächephase der EU auszunutzen, um die Länder der Region an sich zu binden. Jedoch ist die politische wie wirtschaftliche Attraktivität Russlands überschaubar. Kurzfristige ökonomische Angebote wie Kredite und niedrige Gaspreise sind kein Ersatz für eine langfristige, attraktive Politik.
» Russland-Politik sollte nicht auf Kritik fixiert sein, denn das könnte zu einer Isolierung des Landes führen «
Falsch. Um eine glaubwürdige Russland-Politik verfolgen zu können und das Ziel einer Demokratisierung und Modernisierung nicht aus den Augen zu verlieren, bedarf es eines Dialogs mit der russischen Führung, der auf Kritik nicht verzichtet. Russlands Eliten sind europäische Eliten. Sie besitzen Immobilien in der EU und schicken ihre Kinder auf europäische Hochschulen. Russische Staatsunternehmen und Oligarchen investieren in Europa. 60 Prozent der Exporte von Gazprom gehen in die EU, womit die EU-Staaten mit Abstand die wichtigsten Abnehmer russischen Gases sind. Angesichts der europäischen Klima- und Energiepolitik dürfte die EU allerdings langfristig als Absatzmarkt für Gas- und Ölexporte an Bedeutung verlieren. Eine Entwicklung, die aus russischer Sicht zu dem führt, was in der Sprache der Wirtschaftswissenschaften als Diversifizierungsproblem bezeichnet wird; hat man doch erst vor Kurzem damit begonnen, sich für seine Rohstoffexporte alternative asiatische Märkte zu erschließen.
Das Argument einiger russischer Politiker, wonach sich das Land Asien zuwenden werde, wenn die EU keine engere Kooperation mit Russland wolle, ist eher rhetorischer Natur. Zwar hat Russland mittlerweile damit begonnen, seine Pipeline-Infrastruktur nach Asien zu erweitern. Jedoch bedarf es enormer Investitionen, um hier eine ähnliche Infrastruktur wie Richtung Europa zu schaffen, sei es bei den Pipelines beziehungsweise inzwischen viel wichtiger bei Flüssiggas. Außerdem ist China nicht bereit, die gleichen Preise für Rohstoffe wie die EU-Mitgliedstaaten zu zahlen.
Aufgrund anderer Quellen und des wachsenden Wettbewerbs wird es für Russland viel schwieriger sein, langfristige Verträge mit asiatischen Partnern abzuschließen, als das mit europäischen Unternehmen möglich war. Asiatische Investitionen können bei der Modernisierung der russischen Infrastruktur insbesondere in Sibirien eine wichtige Rolle spielen. Jedoch haben diese Länder kein Interesse an einer nachhaltigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Modernisierung des Landes.
Der einzige Weg zu einer Modernisierung Russlands führt über Europa. Dafür ist jedoch auch Kritik am bestehenden Politik- und Wirtschaftssystem in Russland nötig – an der fehlenden Rechtsstaatlichkeit, an der grassierenden Korruption, an der Dominanz des Staates in wichtigen Wirtschaftssektoren, am mangelnden Wettbewerb. Wenn Deutschland ein echtes Interesse an einer Modernisierung Russlands hat, dann sollte es keine „russischen Regeln“ für Kooperation akzeptieren, weder in der Zivilgesellschaft noch in der Wirtschaft. Dabei geht es auch um die Glaubwürdigkeit deutscher Politik gegenüber den Akteuren in der russischen Gesellschaft, die eine Modernisierung des Landes anstreben. Auch die deutsche Wirtschaft braucht Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und offene Marktzugänge.
» Deutsche und EU-Politik sollten sich weitestgehend auf pragmatische Wirtschaftsbeziehungen beschränken «
Das nun auch wieder nicht. Ein langfristiger Wandel und eine Demokratisierung Russlands liegen im deutschen Interesse und bedürfen der aktiven Förderung. Die derzeitige Frustration in der deutschen Politik über die Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt hat ihre Ursachen in falschen Erwartungen. Hegte man unter Dmitrij Medwedew noch große Hoffnungen auf einen Wandel Russlands, so wird Putins dritte Amtszeit vor allem mit wachsenden autoritären Tendenzen in Verbindung gebracht. Jedoch sollte nicht vergessen werden, dass unter Putin zwischen 2000 und 2008 nicht nur der russische Staat deutlich an Stabilität gewann; auch das Wohlstandsniveau in der Bevölkerung wuchs enorm. So stieg der durchschnittliche Monatslohn von 1999 bis 2012 von 62 auf 844 Dollar. Deshalb ist Putin mit einer realen Zustimmungsrate von über 50 Prozent noch immer mit Abstand der beliebteste Politiker Russlands. Gleichzeitig befindet sich die Bevölkerung in einem dynamischen Wandlungsprozess, mit dem die politischen Entscheidungsträger nicht Schritt halten können. So hat sich vor allem in den großen Städten eine wachsende Mittelschicht herausgebildet, die von der Führung eine Modernisierung des Landes einfordert.
Dass die politische Führung diese Entwicklungen ignoriert, führt zu wachsender gesellschaftlicher Polarisierung. Das Regime reagiert mit Abschreckung (wie beim Prozess gegen die Mitglieder von „Pussy Riot“), gewissen Zugeständnissen (Erleichterung bei der Zulassung von Parteien), einer Verschärfung der Gesetzgebung gegenüber zivilgesellschaftlichen Institutionen und einer härteren Rhetorik gegenüber dem Westen. Das führt zu einer weiteren Entfremdung zwischen dem System Putin und der Bevölkerung sowie zu Differenzen innerhalb der Elite selbst, da er die berechtigte Kritik an der Dysfunktionalität des politischen Systems ignoriert. Damit untergräbt die Führung die Stabilität des Systems.
Russland ist heute so offen wie noch nie in seiner Geschichte, der Grad der Verwestlichung und Informiertheit in weiten Teilen der Bevölkerung ist enorm gestiegen. Sich in einer solchen Phase des Wandels frustriert von Russland abzuwenden, verkennt die Bedeutung dieser Prozesse und widerspricht unseren Interessen. Nur über einen umfassenden und langfristigen Dialog mit der russischen Gesellschaft und den Eliten kann Deutschland die Wandlungsprozesse in Russland unterstützen. Das Scheitern westlicher Politik in der arabischen Welt sollte eine Lehre dafür sein, dass weder die einseitige Fixierung auf die Eliten noch auf scheinbar alternative Oppositionskräfte ein funktionsfähiger Ansatz für eine Demokratisierung sind.
Dr. Stefan Meister ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Mittel- und Osteuropa der Robert Bosch Stiftung im Forschungsinstitut der DGAP.
Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 54-59