Der Wiederaufbau Afghanistans
Das Engagement von Weltbank, IWF und EU
Afghanistan ist heute ein verwüstetes Land, es gehörte schon vor der über 20 Jahre währenden Konfliktzeit zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Doch erfolgreiche Beispiele des Wiederaufbaus – Europa nach 1945 und die Länder des Balkans – können Hoffnung geben, wenn die internationale Gemeinschaft und Afghanistan gut kooperieren und die Hilfe koordiniert wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Wiederaufbau Europas von einem großen, engagierten Geber übernommen, nämlich von den Vereinigten Staaten. Von 1948 bis 1952 finanzierten die USA den 13 Milliarden Dollar (heute wären das schätzungsweise 70 bis 80 Milliarden) umfassenden Marshall-Plan, um Nachkriegseuropa wieder aufzubauen und durch die Schaffung der NATO für seine Sicherheit zu sorgen. Im Jahr 1979 war es erneut dieser eine Geber – die Vereinigten Staaten –, der half, das israelisch-ägyptische Friedensabkommen von Camp David zu vermitteln und zu finanzieren. Die amerikanische Unterstützung belief sich auf jährlich fünf Milliarden Dollar – zwei Milliarden Dollar für Ägypten und drei Milliarden für Israel; seit 1979 macht dies insgesamt 115 Milliarden Dollar.
Die Vereinigten Staaten sind nicht mehr länger in der Lage, alle finanziellen Erfordernisse zu erfüllen, um den Frieden in den Regionen mit konfliktreicher Vergangenheit zu sichern. Immer häufiger werden große multilaterale Allianzen geschmiedet, um den drängenden Bedürfnissen dieser Nachkriegsgesellschaften weltweit zu entsprechen.
Nachkriegsaufbau und wirtschaftliche Erholung bleiben kostspielige Prozesse, die Dutzende von Gebern betreffen. Im Fall des Westjordanlands und Gazas (Bevölkerungszahl: 2,9 Millionen) zum Beispiel sicherten 50 Geber für den Wiederaufbau eine Summe von 4,2 Milliarden Dollar über fünf Jahre zu, während in Bosnien-Herzegowina (Bevölkerungszahl: 3,9 Millionen) 60 Geber fünf Milliarden Dollar für ein Fünf-Jahre-Wiederaufbauprogramm zur Verfügung stellten. Afghanistan (Bevölkerungszahl: 26,6 Millionen) wieder aufzubauen und seine langfristige sozioökonomische Entwicklung sowie Lebensfähigkeit zu sichern, wird ebenfalls das dauerhafte Engagement vieler engagierter Geber und erhebliche Hilfssummen über die nächsten zehn Jahre hinweg erfordern.
Historisch betrachtet ist ein Aspekt des erfolgreichen Wiederaufbaus nach Konflikten gleich geblieben: die Notwendigkeit, eine stabile Staats-, Wirtschafts- und Sicherheitslage herzustellen, um den Frieden zu festigen. Die komplexe Interdependenz von wirtschaftlichen, politischen und sicherheitsbezogenen Aspekten der Friedensschaffung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Gedanken und Foren müssen einander durchdringen und sich gegenseitig bestärken.
Zerstörte Wirtschaft Afghanistans
Schon vor der Konfliktzeit gehörte Afghanistan zu den am wenigsten entwickelten Ländern in der Welt. Die wirtschaftlichen Aktivitäten drehten sich um Landwirtschaft, Viehhaltung und Kunsthandwerk. Das Land war autark in Bezug auf die Lebensmittelversorgung und exportierte sogar landwirtschaftliche Produkte.
Zwei Jahrzehnte des Konflikts (1979 bis 2001) zerstörten zunehmend die Wirtschaft des Landes. In diesem Zeitraum konzentrierten sich die wirtschaftlichen Aktivitäten auf die illegale Drogenherstellung und den Drogenhandel, den Waffenhandel und den Warenschmuggel. Die Drogenproduktion stieg an und ersetzte den Anbau anderer landwirtschaftlicher Produkte, was zur Lebensmittelknappheit führte. Zuletzt stammten 80 Prozent der weltweiten Opiumernte aus Afghanistan. Die Korruption blühte, die Inflation schoss in die Höhe und die staatlichen Institutionen und Versorgungen brachen zusammen. Natürliche Ressourcen wurden ausgebeutet, es gab extensiven Bergbau, der zu ernsthaften Umweltschäden führte. Das Land litt unter drei schwierigen Dürrejahren und noch dazu kam erst kürzlich ein erneutes Erdbeben.
Afghanistan ist heute ein verwüstetes Land und rangiert am unteren Ende des Development-Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP). Auf die Menschen bezogen heißt dies, dass die Lebenserwartung auf nur 44 Jahre geschätzt wird. Die Kindersterblichkeit beträgt 165 auf 1000 Geburten; sie ist damit eine der höchsten der Welt. Eines von vier Kindern stirbt, bevor es das fünfte Lebensjahr erreicht. Die Sterblichkeitsraten von Müttern sind ähnlich düster: schätzungsweise eine von zwölf Frauen stirbt bei der Geburt ihres Kindes. Die Zahlen im Bereich der Schulausbildung bzw. Erziehung sind auf allen Ebenen extrem niedrig: 38 Prozent der Jungen und nur drei Prozent der Mädchen besuchen Schulen. Das Analphabetentum ist mit 64 Prozent sehr hoch. Afghanistan hat die meisten Landminen und nicht gezündete Munition unter allen Ländern der Welt, mit der Folge, dass seine Bevölkerung weltweit die meisten Behinderten aufweist. Es gibt eine große Zahl von Witwen und Waisen. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung sind unterernährt, darunter 50 Prozent der afghanischen Kinder. Schätzungsweise vier Millionen Afghanen sind Flüchtlinge und 1,5 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene.1
Die Infrastruktur des Landes wurde in vielen Bereichen schwer beschädigt oder zerstört, darunter Straßen, Schienenwege, Bewässerungssysteme sowie der Gesundheits- und Erziehungssektor. Der Zugang zu sauberem Wasser und Hygiene ist stark eingeschränkt. Es gibt keine Banken und praktisch keine Kommunikationssysteme. Wichtige wirtschaftliche Einrichtungen – wie eine Zentralbank, Zoll, Gerichtswesen oder eine Staatskasse – fehlen entweder ganz oder sind sehr schwach. Die Regierungsstrukturen sind nicht mehr funktionsfähig und die Sicherheit bleibt ein Problem. Inzwischen stellen die Einrichtungen der Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) einige Hundert Millionen Dollar humanitäre Hilfe für die Bevölkerung zur Verfügung.
Weltbank-Engagement
Afghanistan trat der Weltbank im Jahr 1955 bei. Von 1964 bis 1979 stellte die Weltbank für Afghanistan 21 vergünstigte Kredite im Gesamtwert von 230 Millionen Dollar bereit (wovon 83 Millionen Dollar ausgezahlt und 147 Millionen Dollar später gestrichen wurden). Die Mittel wurden für die Finanzierung von Projekten in den Bereichen Landwirtschaft und Viehzucht, Ausbildung, Bewässerung, Energie und Verkehr verwendet.
Während der Konfliktjahre 1979 bis 2001 gewährte die Weltbank Afghanistan keine neuen Kredite. Doch setzte sie die Beobachtung der dortigen sozioökonomischen und politischen Entwicklungen fort und arbeitete eng mit anderen noch im Land präsenten Gebern und Einrichtungen, in erster Linie Einrichtungen der UN und NGOs, zusammen. Die Bank verwaltete zudem einen Treuhandfonds mehrerer Geber, um drei Projekte mit einem Volumen von insgesamt 81 Millionen Dollar durchzuführen, die auf die Einkommensgewinnung in Flüchtlingsgebieten abzielten. Fast 300 Unterprojekte wurden geschaffen, um öffentliche Aufgaben, Ausbildung, Forstwirtschaft und Landschaftsschutz sowie die Wiederherstellung der Infrastruktur in den Flüchtlingsgebieten der Nachbarstaaten zu unterstützen.
Von 1999 bis 2001 finanzierte der spezielle Post-Konflikt-Fonds der Weltbank das Beobachtungsmandat der Weltbank für Afghanistan, das gemeinsam mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen durchgeführt wurde. Es wurden Wirtschafts- und Sektorenberichte sowie Studien zu den afghanisch-pakistanischen Handelsbeziehungen, dem Viehzucht- und Landwirtschaftssektor, der Lebensmittelversorgung sowie den sozialen Auswirkungen von Geldüberweisungen erstellt. Konferenzen zu Fragen wie soziale Entwicklung, Mikrokredite, Infrastruktur, Erziehung, Gesundheitsversorgung usw. wurden abgehalten. Schließlich wurde auch die Ausbildung von afghanischen Frauen-NGOs finanziert und von Organisationen wie Save the Children, der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit und der US Agency for International Development (USAID) vor Ort durchgeführt.
Afghanistan ist derzeit bei verschiedenen multinationalen Entwicklungseinrichtungen, darunter der Weltbank, mit 23,6 Millionen Dollar im Rückstand und hat darüber hinaus Schulden von 15,1 Millionen Dollar bei der Asiatischen Entwicklungsbank und 9,6 Millionen Dollar beim Internationalen Währungsfonds (IWF) – das sind insgesamt 48,3 Millionen Dollar. Dies ist eine relativ geringe Summe an Schulden für ein Nachkriegsland, insbesondere wenn man es mit der Bundesrepublik Jugoslawien (1,7 Milliarden allein gegenüber der Weltbank) oder Bosnien-Herzegowina (445 Millionen Dollar gegenüber der Weltbank) vergleicht. Schulden- und Rückstandsprogramme umfassten bisher eine Kombination aus Reserven und Vermögenswerten des jeweiligen Landes, neuen Gebermitteln sowie anderen Übergangsfinanzierungen. Ohne Zweifel wird dies auch für Afghanistan der Fall sein.
Während die Fragen der Mitgliedschaft und der Rückstände noch der Lösung harrten, arbeitete die Weltbank mit der internationalen Gebergemeinschaft und ihren afghanischen Partnern daran, eine Schadens- und Bedarfsbeurteilung sowie ein mehrjähriges Wiederaufbauprogramm zu schaffen. Die Bank ist darüber hinaus bei der Koordinierung und Beschaffung von Hilfen für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung Afghanistans aktiv.
Die Rolle des IWF
Kurzfristig hat der IWF das Ziel, bei der Schaffung wichtiger Wirtschafts- und Finanzinstitutionen zu helfen und Afghanistans wirtschaftliche Steuerungsfähigkeit aufzubauen. Insbesondere soll er bei der Wiedereinrichtung eines funktionierenden Finanz- und Zahlungssystems für das Land aktiv werden. Er wird auch dabei helfen, eine neue zentrale Währungsbehörde zu schaffen oder die bestehende „Da Afghanistan Bank“ erneut als Zentralbank aufzubauen. Der IWF wird auch das Finanzministerium dabei unterstützen, die Wiederaufbauanstrengungen zu bewältigen, den Haushalt aufzustellen und die Staatseinkünfte und das Ausgabenmanagement zu regeln. In diesem Zusammenhang strebt der IWF ein dezentrales Steuersystem an, welches die verschiedenen autonomen Regionen Afghanistans berücksichtigen wird.
Um Kenntnisse und Fähigkeiten wieder aufzubauen, wird das IWF-Institut afghanischen Wirtschaftspolitikern Schulungsmaßnahmen und technische Unterstützung zur Verfügung stellen. Nach diesen Anfangsschritten wird in Absprache mit afghanischen Politikern, der Gebergemeinschaft und anderen internationalen Finanzinstitutionen ein IWF-Plan ausgearbeitet, der möglicherweise finanzielle Unterstützung einschließt.
Die Europäische Union
Die Europäische Union hat in Afghanistan eine wichtige politisch-diplomatische, wirtschaftliche und militärisch-sicherheitspolitische Rolle mit sehr beachtlichen Initiativen in sämtlichen Bereichen übernommen.
Die EU und insbesondere Deutschland waren an der politisch-diplomatischen Front aktiv. Deutschland war Gastgeber der Beratungen der Vereinten Nationen über Afghanistan in Bonn, in deren Verlauf das „Übereinkommen über vorläufige Regelungen in Afghanistan bis zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen“2 erreicht wurde. Deutschland führte darüber hinaus den Vorsitz des letzten jährlichen Treffens der humanitären Afghanistan Support Group3 im Dezember 2001 in Berlin. Und es ist ein deutscher Diplomat, Klaus-Peter Klaiber, der zum EU-Vertreter für Afghanistan bestimmt wurde und direkt an den Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Javier Solana, berichtet. Deutschlands aktive Rolle in Afghanistan geht zurück auf die lange Tradition seiner engen Beziehungen im letzten Jahrhundert sowie auf die 90 000 in Deutschland lebenden Afghanen – der größten afghanischen Gemeinschaft in einem europäischen Land.
Die Europäische Union – der größte Hilfsgeber der Welt – spielt ebenfalls eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau Afghanistans – sowohl hinsichtlich der finanziellen Unterstützung als auch bei der Mobilisierung von Geberhilfen. Die EU führte gemeinsam mit Japan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten den Vorsitz bei der ersten Geberkonferenz zum Wiederaufbau Afghanistans. Hinsichtlich der Notfall- und humanitären Unterstützung hat das Büro für Humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission (ECHO) die größte Hilfssumme zur Verfügung gestellt, insgesamt mehr als 400 Millionen Euro für den Zeitraum 1991 bis 2001. Ein Drittel der Notfall- und humanitären Unterstützung der EU stammt aus dem EU-Haushalt; die restlichen zwei Drittel kommen von den EU-Mitgliedstaaten, wobei Großbritannien, Frankreich und Deutschland die größten bilateralen Beiträge leisten.
Die Notfall- und humanitäre Unterstützung zielte auf die afghanischen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten, Rückkehrer und die binnenvertriebene Bevölkerung ab. Es wurden Programme eingerichtet für Wasser und Hygiene, medizinische und Ernährungsprogramme, Minen- und Bombenbeseitigung, Programme zur Linderung von Dürrefolgen, Erziehung, Gesundheitsversorgung, Hilfe für Frauen, Lebensmittelverteilung und Vorkehrungen für den Winter. Diese Hilfe wurde durch NGOs, UN-Einrichtungen, das Welternährungsprogramm und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz durchgeführt.
Ebenso sicherte die EU den größten Teil der Finanzierung im Hinblick auf den Wiederaufbau Afghanistans während der Geberkonferenz in Tokio zu. Und schließlich spielen die EU und ihre Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellung der militärischen Sicherheit in Afghanistan, indem sie schätzungsweise 3000 bis 5000 Soldaten für die Internationale Friedenstruppe (ISAF) bereitstellen.
Der Wiederaufbau
Die Lastenteilung unter den Gebern hat sich als ein Schlüsselanliegen erwiesen. Da die USA die Hauptverantwortung für militärische und Sicherheitsangelegenheiten in Bosnien, Kosovo und Afghanistan tragen, haben sie an andere Staaten und Organisationen appelliert, den Großteil des wirtschaftlichen Wiederaufbaus zu finanzieren. So erklärte kürzlich der amerikanische Kongressabgeordnete Tom Lantos mit Blick auf Afghanistan: „Wir haben den Hauptteil der militärischen Last getragen, wir werden nicht den Hauptteil der Last des Wiederaufbaus tragen. Wir glauben an eine Arbeitsteilung, und Arbeitsteilung bedeutet, dass wir einen bedeutenden Teil der Verantwortung übernehmen werden, aber nicht die führende Rolle.“4 In der Praxis hat dies dazu geführt, dass die EU die führende finanzielle Rolle beim Wiederaufbau übernommen hat. Die EU ihrerseits würde gern eine gerechtere Lastenteilung unter den Hauptgebern, d.h. der EU, den USA, Japan und den Golf-Staaten, für den Nachkriegsaufbau sehen.
Die Weltbank und andere Geber schätzen, dass Afghanistan in den nächsten zehn Jahren internationale Hilfe in einer Gesamthöhe von 14,8 Milliarden Dollar benötigen wird, davon 4,9 Milliarden Dollar in den nächsten zweieinhalb Jahren, und neun Milliarden Dollar in den nächsten fünf Jahren.5 Diese Schätzungen beinhalten auch die Erfordernisse für wiederkehrende Ausgaben.
Im Bereich der Sicherheit liegen die finanziellen Schwerpunkte auf der Beseitigung von Minen und nicht gezündeter Munition, der Beendigung des Drogenanbaus, der Organisation einer internationalen Sicherheits-/Friedensstreitkraft, dem Aufbau einer nationalen Armee und Zivilpolizei und der Wiedereingliederung von schätzungsweise 200 000 bis 300 000 regulären und – nur gelegentlich an Kampfhandlungen beteiligten – irregulären ehemaligen Kämpfern.
Die Internationale Sicherheitstruppe für Afghanistan mit ihren ungefähr 5000 in Kabul stationierten Soldaten ist viel zu klein und zu eingeschränkt in ihren Aufgaben, um Sicherheit für ein Land dieser Ausdehnung mit seinen ethnischen Rivalitäten und Stammesfehden zu garantieren. Andererseits erhielten andere, weitaus kleinere Länder und Gebiete in den auf einen Konflikt folgenden Zeiten weitaus mehr internationale Unterstützung: Bosnien 60 000 Soldaten und Kosovo 40 000 Soldaten.
Hinsichtlich des sozialen Sektors umfassen die Finanzierungsschwerpunkte den sozialen Schutz für schwache Gruppen wie Frauen, Waisenkinder, Kindersoldaten, Flüchtlinge und Vertriebene. Damit verbundene Projekte könnten die Schaffung öffentlicher Arbeitsplätze, Mikro-Kreditprogramme und Ausbildung einschließen. Hinsichtlich des Themas Gesundheit hat die Wiederzulassung von vorbeugenden und öffentlichen Gesundheitsleistungen allerhöchste Priorität. Im Bereich der Erziehung muss das Grund- und weiterführende Schulwesen wieder hergestellt werden.
Bezüglich der Infrastruktur liegen die Prioritäten auf der Beseitigung von Transportengpässen (wie Reparatur beschädigter Brücken und Straßen), der Wiedererrichtung eines Luftfahrtsystems für Notfälle, der Reparatur städtischer Wassersysteme und der Verbesserung des Zugangs zu Wasser in ländlichen Gegenden, der Wiederherstellung der Energieversorgung für Gesundheitseinrichtungen, Büros, Privat- und Geschäftshäuser sowie der Schaffung eines Rundfunksystems. Landwirtschaft und Lebensmittelstabilität sind ebenso entscheidende Faktoren für die wirtschaftliche Erholung. Auf kurze Sicht werden die Afghanen Hilfe bei Bewässerung, Saatgut, Viehhaltung und Gartenbau benötigen.
Um die dringenden und kurzfristigen Bedürfnisse Afghanistans zu finanzieren, hat die Weltbank einen Treuhandfonds mehrerer Geber geschaffen, um die zuvor beschriebenen Prioritäten zu unterstützen. Ein Teil der Geberhilfe – schätzungsweise 25 Prozent der Geberzusicherungen – würde diesem Fonds zugewiesen werden. Die Struktur des Treuhandfonds sähe so aus, dass die Unterstützung losgelöst und nicht für eine bestimmte Aktivität oder ein Projekt vorgesehen würde, wodurch Flexibilität hinsichtlich der im Fluss befindlichen Situation vor Ort ermöglicht würde. Eine örtliche Implementierungsgruppe aus Vertretern der Weltbank, des UNDP, der Asiatischen Entwicklungsbank, der Islamischen Entwicklungsbank und anderer Geber ist für die Koordination der Auszahlungen aus dem Treuhandfonds verantwortlich. Bis heute haben neun Geber zugestimmt, einen Beitrag zu dem Treuhandfonds zu leisten, eine große Zahl anderer hat Interesse bekundet.
Die Erfahrungen in anderen Post-Konflikt-Staaten haben die Vorteile der Schaffung eines Post-Konflikt-Treuhandfonds gezeigt: Transparenz und Verantwortlichkeit sowie eine Reihe von Beschaffungs-, Auszahlungs- und Berichtseinrichtungen und -vorkehrungen. Dies würde den Wiederaufbauprozess für die afghanische Verwaltung und für die durchführenden Agenturen erleichtern und entspannen; darüber hinaus würde ein zentraler Mechanismus dabei helfen sicherzustellen, dass der Wiederaufbau die nationale Einheit fördert und eine ausgewogene regionale, ethnische und geschlechtsspezifische Entwicklung gewährleistet. Ein solcher Treuhandfonds würde natürlich die direkte bilaterale Hilfe zwischen Gebern und Afghanistan nicht ausschließen, welche in den kommenden Jahren ebenfalls unerlässlich sein dürfte.
Gebergarantien
Während der Geberkonferenz im Januar 2002 in Tokio sicherten 82 Geber eine Gesamtsumme von 4,5 Milliarden Dollar für Afghanistans Wiederaufbau in den nächsten fünf Jahren zu. Von dieser Summe werden rund 1,8 Milliarden für das erste Jahr des Wiederaufbauprogramms vorgesehen sein.6
Die EU und ihre Mitgliedstaaten erwiesen sich erneut als die größten Geber von Wiederaufbauhilfe, indem sie 2,3 Milliarden Euro für den Zeitraum 2002 bis 2006 zusicherten. Diese Summe entspricht etwa 23 Prozent der Erfordernisse Afghanistans für die nächsten fünf Jahre und macht rund 45 Prozent der Gesamtzusicherungen der internationalen Gemeinschaft aus. Für das Jahr 2002 versprach die EU 600 Millionen Euro, was etwa 30 Prozent des geschätzten Bedarfs Afghanistans für dieses Jahr entspricht.
Die USA ihrerseits sicherten etwa 300 Millionen Dollar für das kommende Jahr zu, wobei sie betonten, dass der Krieg in Afghanistan sie pro Monat ungefähr eine Milliarde Dollar gekostet habe. Die USA werden der neuen afghanischen Führung darüber hinaus etwa 220 Millionen Dollar aus eingefrorenen Vermögen der afghanischen Regierung übereignen. Die Prioritäten amerikanischer Förderung liegen auf landwirtschaftlichem Wiederaufbau, Erziehung und Gesundheitsvorsorge. Im Hinblick auf die Sicherheit erwägen die USA auch die Entsendung von Militärberatern in das Land, um dabei zu helfen, den Frieden zwischen den rivalisierenden afghanischen „Warlords“ zu erhalten. Amerikanische Hilfszusagen für Afghanistan werden künftig wahrscheinlich ansteigen, da die Bush-Regierung plant, die Entwicklungshilfe um zehn Milliarden Dollar in den nächsten Jahren zu erhöhen.
Japan sicherte eine Gesamtsumme von 500 Millionen Dollar für die nächsten zweieinhalb Jahre zu, wovon 250 Millionen Dollar in diesem Jahr überwiesen würden. Saudi-Arabien versprach 220 Millionen für drei Jahre, und als Nachbarstaaten Afghanistans sicherten Iran 600 Millionen Dollar und Pakistan 100 Millionen Dollar für die nächsten fünf Jahre zu. Die Weltbank ihrerseits bot Afghanistan 500 Millionen Dollar an langfristigen Krediten zu verbilligten Zinsen für die nächsten zweieinhalb Jahre und zusätzlich 70 Millionen Dollar als Darlehen an. Die USA und die EU erklärten, dass die Fortdauer der Hilfsleistungen von der Fähigkeit Afghanistans abhängig gemacht würde, den Drogenanbau zu stoppen, regionale „Warlords“ zu kontrollieren und die Rechte von Frauen zu gewährleisten.
Es gibt keine Garantie für eine Friedensdividende. Sie ist abhängig von der guten Koordination und Zusammenarbeit zwischen Afghanistan und den zahlreichen internationalen Gebern und Akteuren, um das Land wieder auf eine stabile sozioökonomische, politische und militärische Basis stellen zu können.
Anmerkungen
1 Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat ein neues Programm entwickelt, um die Rückkehr gut ausgebildeter Afghanen zu erleichtern, die in der Regierung, in internationalen Organisationen und in NGOs Aufgaben übernehmen sollen.
2 Abgedruckt in: Internationale Politik (IP), 3/2002, S. 90 ff.
3 Zur Afghanistan Support Group gehören: Australien, China, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Italien, Japan, Kanada, Korea, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Russland, Saudi-Arabien, die Schweiz, die Türkei und die USA sowie das Büro des Sonderbeauftragten für Afghanistan, UNDP, Welternährungsprogramm, UNHCR, EU, Organisation der Islamischen Konferenz, Weltbank, IWF und Asiatische Entwicklungsbank. Die Erklärung ist abgedruckt in: ebd., S. 98.
4 Vgl. „Donors meeting Faces Huge Task in Afghanistan Rebuilding“, Reuters, 17.1.2002.
5 Asiatische Entwicklungsbank, UNDP und Weltbank, Afghanistan: Preliminary Needs Assessment für Recovery and Reconstruction, Januar 2002.
6 Vgl. dazu IP, 3/2002, S. 107 ff., bes. S. 114 ff.
Internationale Politik 5, Mai 2002, S. 39 - 46.