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01. Sep 2015

Der Weg ist Teil des Zieles

Anmerkungen zur Entwicklung einer Globalstrategie für die EU

Wie soll sich die EU künftig in der Welt positionieren? Bis Sommer 2016 soll eine neue weltpolitische Strategie stehen. Der im Juni von Federica Mogherini vorgelegte Zwischenbericht lässt erste Konturen erkennen. Die Union muss sich mit einer immer komplexeren Welt auseinandersetzen – und dort Prioritäten setzen, wo sie auch etwas erreichen kann.

Im vergangenen Juni legte Federica Mogherini dem Europäischen Rat den Bericht „The EU in a changing global environment. A more connected, contested and complex world“ vor. Damit kam die EU-Außenbeauftragte einer Bitte des Rates vom Dezember 2013 nach, über aktuelle globale Herausforderungen und Chancen der EU Bericht zu erstatten. In Mogherinis Papier geht es aber nicht allein darum, dieses Mandat zu erfüllen. Vielmehr soll es die Grundlagen für eine EU-Globalstrategie legen.

Dass es höchste Zeit war, die „European Security Strategy“ (ESS) von 2003 hinter sich zu lassen, darüber sind sich alle Experten einig. Der Eröffnungssatz der ESS – „Europa war nie so wohlhabend, so sicher und so frei“ – sagt eigentlich schon alles. Die Griechenland-Krise nimmt kein Ende, Dschihadisten verbreiten entlang unserer Grenzen und auf unserem Kontinent Tod und Schrecken, und illiberale Vorstellungen greifen am rechten und linken Rand in Europa Raum – damit lässt sich der Satz von 2003 nicht mehr in Einklang bringen.

Soweit es darum ging, einer neuen Strategie den Weg zu bereiten, war der Bericht ein Erfolg. „Die Hohe Vertreterin wird den Prozess strategischer Reflexion fortsetzen mit dem Ziel, eine globale EU-Strategie in der Außen- und Sicherheitspolitik vorzubereiten, in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten“, verkündete der Europäische Rat. Die Strategie soll bis Juni 2016 vorliegen.

Vernetzt, umkämpft, komplex

Was sind die wesentlichen Punkte dieser strategischen Einschätzungen? Und welche Auswirkungen werden sie auf die Entwicklung der europäischen Globalstrategie haben?

Mogherinis Bericht beschreibt eine immer enger vernetzte, stärker umkämpfte und komplexere Welt. Die stärkere Verflochtenheit wird an höherer menschlicher Mobilität, der wachsenden Abhängigkeit der Märkte voneinander und den Folgen technologischen Fortschritts festgemacht. Die Finanzkrise hat Europa die Fragilität dieser Welt vor Augen geführt; und die Antwort kann nur ein Quantensprung in Sachen Integration sein.

Zugleich ist die Welt aber auch fragmentierter und stärker umkämpft. Die Zahl der Konflikte steigt – sei es aufgrund des Zusammenbruchs staatlicher Strukturen oder infolge von Identitätspolitik, demografischen Entwicklungen, Klimawandel oder Ressourcenknappheit. Dass diese Konflikte mitunter auf eine Art und Weise ausgetragen werden, die man noch nicht gekannt hat, mag damit zu tun haben, dass auch Konflikte mit den technischen Neuerungen Schritt halten.

Und schließlich ist die Welt komplexer geworden. Die Macht hält nicht mehr nur der Westen in den Händen, sondern sie zirkuliert zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, westlichen und nichtwestlichen Ländern, regionalen Organisationen und internationalen Gruppierungen. Während sich die Machtverteilung auf globaler Ebene neu konfiguriert, werden multinationale Institutionen schwächer. Neue weltweite Regelungsmechanismen zu etablieren, ist nicht ganz einfach, und so entsteht ein Vakuum beim Management globaler Verflechtungen, regionaler Spannungen und lokaler Konflikte.

Eine vernetztere, stärker umkämpfte und komplexere Welt stellt die EU vor gewaltige Herausforderungen und bietet ihr zugleich große Chancen, sei es in der unmittelbaren Nachbarschaft im Osten und Süden oder im weiteren Umfeld in Afrika, Amerika und Asien.

Im Prinzip verfügt Europa seit der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon über eine breite Palette an Instrumenten, um den künftigen Aufgaben gerecht zu werden, von der Handels- und der Entwicklungshilfe bis hin zur Migrations-, Energie-, Cyber- und Terrorbekämpfungspolitik – und natürlich nicht zu vergessen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die dazugehörige Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In der Praxis aber schwächen Probleme der politischen Führung sowie Mangel an Flexibilität, Koordinierung und schlicht Fähigkeiten diese Instrumente. Am schwersten wiegt wohl, dass die EU häufig nicht in der Lage ist, ihre Instrumente vereint zur Verfolgung gemeinsamer außenpolitischer Ziele einzusetzen. Dies zu beheben, ist Kernzweck der europäischen Globalstrategie.

Konturen einer neuen Strategie

Was bedeutet all das für die zukünftige EU-Strategie? Eine vernetztere Welt verlangt nach einer aktiven, engagierten europäischen Globalstrategie. Manche Politiker, insbesondere solche, die vor allem auf ihre heimischen Wähler Rücksicht nehmen, könnten der Verführung einer Abschottung erliegen. Sie mögen die Hoffnung hegen, dass sich Terroristen, Migranten und aggressive Nachbarn von Mauern abhalten lassen. Doch die Interdependenzen unserer Zeit führen dazu, dass sich Bedrohungen nicht durch Abkapselung wegwünschen lassen; zugleich lassen sich die beispiellosen Chancen, die eine vernetztere Welt mit sich bringt, nur durch aktives Engagement jenseits unserer eigenen Grenzen nutzen.

Die Welt, wie sie ist

Eine stärker umkämpfte Welt bedeutet, dass die EU-Globalstrategie von Verantwortungsgefühl geleitet sein muss. Die Zeiten, in denen der Westen Friedensabkommen – wie zum Beispiel das Dayton-Abkommen für Bosnien – diktieren konnte, sind wohl vorbei. Die Zahl der Konflikte an den Rändern Europas ist nicht nur gestiegen, sie sind auch komplexer geworden: Innerstaatlicher Verfall führt zu regionalen Stellvertreterkriegen, die häufig von der sich abzeichnenden globalen Konfrontation zwischen etablierten und aufsteigenden Mächten überlagert werden.

Diese fragile internationale Umgebung erfordert eine Strategie, die sich bemüht, keine Schäden anzurichten, und dabei einen dezentralisierten Ansatz verfolgt, mit dem Ziel, die zarte Pflanze Frieden auf lokaler und regionaler Ebene wachsen und gedeihen zu lassen. Gefragt ist außerdem Durchhaltevermögen bei vertracktem Krisenmanagement, Flexibilität und Pragmatismus. Und: Die Strategie muss die Welt zum Ausgangspunkt nehmen, wie sie ist – nicht, wie wir sie uns wünschen. Es geht um langfristiges Denken, lokales Handeln und regionales Vermitteln.

Die heutige Welt, in der alte und neue Mächte um Einfluss ringen, macht eine EU-Globalstrategie notwendig, die auf soliden Partnerschaften fußt – auch auf Partnerschaften innerhalb der EU, in der die einzelnen Stimmen des europäischen Chors ein harmonisches Ganzes bilden. Zu einer Zeit, in der die Herausforderungen größer und die Zahl der Mittel, ihnen zu begegnen, geringer werden, ist innere Kohäsion zentrales europäisches Interesse und Voraussetzung für eine effektive Außenpolitik.

Dies bedeutet nicht, auf Teufel komm raus eine einzige EU-Außenpolitik zu verfolgen, sondern verschiedene Stimmen und Kräfte quer durch die Union in Synergie und auf Grundlage gemeinsam vereinbarter Prioritäten zusammenarbeiten zu lassen. Zugleich bedeutet der relative Abstieg der EU in einer komplexeren Welt, dass es darauf ankommt, starke Partnerschaften auf bilateraler, regionaler und internationaler Ebene aufzubauen. Die Möglichkeiten der EU, ihre Ziele zu erreichen, hängen von der Stärke ihrer Partnerschaften vor Ort ab, sei es in ihrer Nachbarschaft, in Afrika oder anderswo.

Aufgaben, die uns keiner abnimmt

Während die EU die zweite Phase ihrer strategischen Reflexion beginnt, um bis Juni 2016 eine Globalstrategie zu erarbeiten, müssen einige Fragen ziemlich schnell beantwortet werden. Erstens: Welchen Zeithorizont soll die EU-Globalstrategie haben? Geht es um eine übergreifende Vision für die kommenden acht bis zehn Jahre, oder ist die Strategie eher als operatives, handlungsleitendes Dokument gedacht, das Politikziele benennt und Wege aufzeigt, wie diese zu erreichen sind? Die extreme Volatilität unserer Zeit spricht gegen große Visionen mit langer Geltungsdauer und gemahnt zu Vorsicht. Allerdings muss die Strategie eine klare Richtung vorgeben, um die EU durch die stürmischen Gewässer der nächsten vier bis fünf Jahre zu steuern.

Zweitens: Wenngleich es um eine Globalstrategie gehen soll, wie soll die richtige Balance zwischen geografisch naheliegenden und globalen Prioritäten gefunden werden? Fraglos wird die EU-Nachbarschaft in der Strategie eine bedeutende Rolle spielen; die Herausforderungen, die der unmittelbaren Umgebung der EU entspringen, sind einfach zu drängend, als dass man sie ignorieren könnte. Hinzu kommt, dass sich ihrer wahrscheinlich sonst niemand annehmen würde. Aber bedeutet das, dass die Strategie eine globale Vision meiden sollte? Wahrscheinlich nicht, aber Ziele und Mittel müssen vorsichtig abgestimmt und globale Prioritäten dort gesetzt werden, wo wir auch etwas ausrichten können.

Drittens: Welche Kriterien sollten bei der Auswahl von EU-Außenpolitikzielen zugrundegelegt werden? Präzises Nachdenken über solche Kriterien ist entscheidend, um am Ende nicht mit einem Dokument dazustehen, das sich wie ein Potpourri nationaler Interessen liest, sondern wie eine EU-Strategie, die diesen Namen auch verdient. Man darf davon aus­gehen, dass eine außenpolitische Priorität der EU von allen Mitgliedstaaten auch als solche angesehen wird, wenngleich in unterschiedlich starkem Maße. Es ist eine Strategie, die einzelne Mitglieder nicht allein verfolgen können. Und schließlich handelt es sich um Anliegen, die niemand sonst für uns angehen wird.

Ausgewählte Partnerschaften

Schon ein flüchtiger Blick auf die Weltkarte legt nahe, dass viele strategische Ziele der EU in der östlichen und südlichen Nachbarschaft liegen – mit weiterem Blick also auf dem eurasischen Kontinent und in Afrika. Aber es wird sicher auch spezifische Ziele geben, die weiter entfernt liegen und zu deren Erreichung die EU beitragen kann, etwa in Ostasien und auf dem amerikanischen Kontinent. Das Wissen um die Bedeutung bilateraler, regionaler und internationaler Partnerschaften bedeutet, dass das Investieren in ein paar ausgewählte Partnerschaften sehr wohl ein Ziel an und für sich sein kann.

Ein wichtiger Schritt in Sachen strategischer Reflexion der EU ist getan. Doch einer EU-Globalstrategie stehen noch einige hohe Hürden entgegen. Vor allem müssen wir einen internen Konsens finden und uns darauf einigen, was wir gern erreichen wollen und auch, wie wir es erreichen wollen.

Dr. Nathalie Tocci ist stellvertretende Direktorin des Istituto Affari Internazionali in Rom und Beraterin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2015, S. 80-83

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