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01. Aug. 2004

Der Sitz im Sicherheitsrat

Ein richtiges Ziel deutscher Außenpolitik

Die Reform des UN-Sicherheitsrats kommt, und nie war der Zeitpunkt besser für Deutschland,
darin aufgenommen zu werden. Das Land ist einer der größten Beitragszahler
und Truppensteller, und es hat durch sein Auftreten im Vorfeld des Irak-Krieges viele Sympathien
gewonnen. Ein europäischer Sitz liegt in weiter Ferne, also sollte sich Deutschland seiner weltpolitischen Verantwortung stellen und als „Garantiemacht des
Weltfriedens“ stärker finanziell und militärisch engagieren.

Die deutsche und internationale Debatte hat sich erneut der Frage eines ständigen deutschen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zugewandt. Auslöser sind vor allem zwei Ereignisse: Einmal haben die zum letzten Irak-Krieg führenden Entwicklungen und ihre Folgen das Verlangen nach einer Stärkung der Vereinten Nationen und damit einer Reform ihrer Rolle und Institutionen neu belebt. Zum anderen hat Generalsekretär Kofi Annan eine Kommission von internationalen Persönlichkeiten mit der Aufgabe betraut, die Sicherheitsbedrohungen in der heutigen Welt zu untersuchen, die Rolle der Vereinten Nationen bei ihrer Bewältigung zu analysieren und Empfehlungen für die hierfür notwendigen Reformen der Organe und Verfahrensweisen der UN auszuarbeiten. Deren Arbeitsergebnisse werden nach den amerikanischen Wahlen in hohem Maße die internationale Agenda beherrschen.

Bundeskanzler Gerhard Schröder war deshalb gut beraten, in dieser Situation am 19. März 20041 den Wunsch nach einem ständigen deutschen Sitz im Sicherheitsrat vorzutragen und seitdem auch international zu vertreten. Trotz einiger kritischer Stimmen in der deutschen öffentlichen Diskussion hat sich zu dieser Frage in der Zwischenzeit unter maßgeblichen Sprechern der Oppositionsparteien weitgehend Konsens mit der Regierung hergestellt.2 Dieser knüpft an die schon von Bundesaußenminister Klaus Kinkel begonnene Politik an, in die seit 1992 in den UN laufende Reformdebatte den Wunsch nach einem ständigen deutschen Sitz einzubringen.3 Die seitdem stattgefundenen internationalen Entwicklungen haben die Gründe, die für einen ständigen deutschen Sitz sprechen, nachhaltig gestärkt und die dagegen angeführten Argumente geschwächt.4

Die moderne Welt ist ungeachtet der Fortschritte auf dem Gebiet der Armutsbekämpfung und Entwicklung durch ein hohes Maß an Instabilität gekennzeichnet. Tagtäglich manifestiert sich ein eklatanter Widerspruch: Mit der erwünschten und betriebenen Globalisierung, der Vernetzung der Gesellschaften, der Öffnung der Grenzen und der Mobilität der Menschen wachsen auch die Verletzbarkeit von Gesellschaften und die globale Ausbreitungswirkung von Störungen, Bedrohungen und Krisen. Die für die heutige internationale Politik kennzeichnenden negativen Entwicklungen in Form massiver Menschenrechtsverletzungen, Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen, anarchischer Zustände in zerfallenden Staaten, Seuchen oder Terrorismus tragen deshalb immer den Keim einer rapiden Ausbreitung zu regionalen oder globalen Bedrohungen in sich.

Die derzeitigen Herausforderungen und die Struktur der heutigen internationalen Politik erfordern mehr denn je eine Stärkung der ordnungspolitischen Rolle der Vereinten Nationen. Erstens ist angesichts der gewachsenen Konflikte und ihrer potenziellen Schadenswirkungen der Bedarf an multilateraler Regelung gewachsen, um mit Hilfe eines breiten Instrumentariums von Ansätzen Konflikte möglichst präventiv und frühzeitig zu beenden oder ihre Schadenswirkung zu begrenzen. Der Ausgang des Irak-Krieges belegt erneut, dass selbst die Vereinigten Staaten als stärkste Macht der Welt die anstehenden Probleme, wenn überhaupt, nur mit Hilfe multilateraler Ansätze in den Griff bekommen können.

Zweitens steigt die Zahl der Fälle, in denen präventive Maßnahmen eine Eskalation der Gewalt nicht verhindern können und eine Intervention der internationalen Gemeinschaft auf der Grundlage eines Mandats der Vereinten Nationen notwendig wird. Deren Rolle ändert sich auch damit, dass sie zunehmend in die durch das Interventionsverbot geschützte Souveränität von Staaten eingreifen muss. Ein bemerkenswerter Bericht einer internationalen Kommission zu Fragen von Intervention und Staatssouveränität hat angesichts der zunehmenden Schadenswirkungen von Krisen neben einem Recht der Völkergemeinschaft eine Pflicht zum Schutz von Menschen postuliert.5 Es sind die Vereinten Nationen, die diese Verantwortung legitim ausüben können. Die mögliche Verbindung von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen mit ihrer potenziell katastrophalen Schadenswirkung gibt dieser Verantwortung immer mehr Gewicht.

Drittens wächst mit der zunehmenden Bedeutung von anarchischen Zuständen und zerfallenden Staaten mit ihren potenziell gravierenden Folgen für die internationale Sicherheit die Rolle der UN als Ordnung stiftende Macht, die ihre neutrale Rolle aufgeben und als Quasiregierung Politik gestalten muss. Auch in dieser Hinsicht zeigt der Ausgang der Kriege in Afghanistan und in Irak, dass die Weltmacht USA die Vereinten Nationen als Ordnung stiftende Kraft benötigen.Wenngleich zwischen den Vorstellungen über eine wünschenswerte Rolle der Vereinten Nationen und der Realität eine erhebliche Lücke klafft und auch in Zukunft klaffen dürfte, deuten dennoch die weltpolitischen Entwicklungen auf eine Stärkung der ordnungspolitischen Rolle der UN hin.

Deutschland wird als offenes Land und drittgrößte Volkswirtschaft der Welt von den Entwicklungen der internationalen Politik, insbesondere ihren Krisen, in besonderem Maß betroffen. Der deutschen Politik bietet sich in dieser Situation die Chance, über eine Mitgliedschaft im Sicherheitsrat ihre ausgeprägte Bindung an multilaterale Traditionen und ihre Verpflichtung auf eine starke Weltorganisation in diesen Prozess einzubringen und ihn in diesem Sinne mitzugestalten.

Reform der UN

Über die Schwierigkeiten einer Reform der Vereinten Nationen ist viel geschrieben und geklagt worden. Dass hierbei ein mit Deutschland traditionell befreundetes Land wie Italien gegen einen deutschen Sitz Obstruktionspolitik betrieb, ist oft kommentiert worden.6 Aber dass die Reform kommen wird und damit die Neugestaltung des Sicherheitsrats, ist ziemlich sicher, selbst wenn es bis zur Umsetzung noch einiger Jahre bedarf. Der zunehmende Druck der Völkergemeinschaft auf eine stärkere Rolle der UN bei der Lösung der Weltprobleme und nicht zuletzt das Drängen des hoch angesehenen Generalsekretärs tragen dazu bei.

Damit ist auch die inhärente Überzeugungskraft der für einen ständigen deutschen Sitz sprechenden Argumente gewachsen, denn die Leistungskraft einer reformierten Weltorganisation setzt eine erhöhte Legitimität des Sicherheitsrats als dem für Frieden und Sicherheit zentralen Organ voraus. Diese Legitimität ist ohne die Ablösung der die Mächtekonstellation von 1945 reflektierenden Zusammensetzung nicht erreichbar, erfordert also die Aufnahme der heute gewichtigen regionalen Akteure: neben Indien die Vertreter Afrikas und Lateinamerikas sowie der großen Ressourcengeber Deutschland und Japan.

Wie überholt die überkommene Ordnung ist, zeigt die Tatsache, dass Deutschland als drittgrößter Beitragszahler mit 8,7% Anteil am Gesamtbudget mehr zum Funktionieren der Vereinten Nationen als vier der fünf derzeitigen ständigen Mitglieder beiträgt: China mit 2,1%, Frankreich mit 6%, Russland mit 1,1% und Großbritannien mit 6,1%. Die Vereinigten Staaten (mit 22%) sowie die beiden nicht ständigen Mitglieder Japan (mit 19,5%) und Deutschland bestreiten derzeit zusammen die Hälfte des gesamten UN-Budgets! Zu den Sonderausgaben wie die Finanzierung von Einsätzen in Kosovo oder in Ost-Timor trägt Deutschland regelmäßig und oft mehr als einige der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats bei.

Dass die überwältigende Mehrheit der 191 UN-Mitglieder die jetzige Zusammensetzung des Sicherheitsrats als überholtes Relikt der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs abschaffen möchte, wird für die politische Unterstützung des deutschen Wunsches von entscheidender Bedeutung sein. Aber gleichermaßen wichtig ist aus deutscher Sicht, dass die Verweigerung einer Mitbestimmung bei politisch wichtigen Maßnahmen, insbesondere friedensrelevanten Aktivitäten, und die im Grunde diskriminierende Behandlung im Vergleich zu weniger leistenden Staaten aufgehoben wird.

Deutschland als einem der größten Truppensteller bei mandatierten UN-Einsätzen ist eine Mitbestimmung an der entscheidenden Stelle versagt, die weniger beitragende Staaten regelmäßig in Anspruch nehmen können. Die Mitwirkung Deutschlands als nicht ständiges Sicherheitsratsmitglied im Zeitraum 2003/2004 bei den teilweise dramatischen internationalen Entwicklungen hat erneut gezeigt, wie wichtig dieses Gremium für die Wahrnehmung deutscher und europäischer Interessen ist.

Gegen den deutschen Sitz ist das Argument angeführt worden, die Aufnahme großer Nationalstaaten sei eine „unmoderne Idee“, da sie lediglich das Mächtetableau der Staaten von 1945 weiterführe und Weltpolitik als Spielball von Nationalinteressen verstehe.7 Dieser Einwand übersieht allerdings, dass die Betrauung einer kleinen und damit relativ handlungsfähigen Gruppe von größeren Staaten – und nur Staaten können UN-Mitglieder sein – mit besonderer Verantwortung für Frieden und Sicherheit nun einmal zu den zentralen Strukturmerkmalen der  Vereinten Nationen gehört. Dass hierbei 1945 die europäische Idee des Konzerts der Großmächte Pate gestanden hat, ist ebenso offenkundig wie die damalige Einsicht, dass die UN-Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit – heute 191 – unter den bei Krisen üblichen Bedingungen kaum ein zu durchgreifendem und schnellem Handeln fähiges Gremium bilden.

Als die Vereinten Nationen gegründet und die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats festgelegt wurden, spielte deren nuklearer Status keine Rolle. Im Verlauf der Zeit wurden jedoch diese Fünf zu Kernwaffenstaaten. Mit der weiteren Ausnahme von Indien, Israel und Pakistan sind 183 der 191 Mitglieder kernwaffenfrei geblieben (auch wenn im Falle Nordkoreas Zweifel angebracht sind). Es würde die Legitimität des Sicherheitsrats in Fragen von Frieden und Sicherheit erhöhen, wenn sich auch Nichtkernwaffenstaaten unter den ständigen Mitgliedern vertreten sähen. Deshalb würde die Mitgliedschaft Deutschlands (sowie Japans und der Vertreter Afrikas und Lateinamerikas) nicht nur die Legitimität des Sicherheitsrats stärken, sondern auch durch die Entkoppelung von Kernwaffenstatus und international anerkanntem Einfluss das Prinzip der Nichtverbreitung von Kernwaffen fördern.

Die Gartenzwergoption

Unter den Einwänden gegen einen ständigen deutschen Sitz ist das hier als Gartenzwergoption benannte Syndrom der wichtigere. Wenngleich auch gelegentlich explizit dargelegt,8 wirkt dieses Syndrom vor allem verdeckt als Motivation und Prägung in vielen Köpfen der politischen und intellektuellen Klasse. Vereinfacht ausgedrückt besagt es, dass Deutschland sich auf seinen eigenen Garten beschränken sollte, dass dessen Bestellung so kräftezehrend ist, dass jede selbständige Tätigkeit außerhalb ausgeschlossen ist, die darüber hinaus von den Außenstehenden als verwerfliche Anmaßung verstanden würde; diese würden sich im Übrigen schon darum kümmern, Schaden vom eigenen Garten fern zu halten.

Gegen einen deutschen Sitz, so wird argumentiert, spräche das „zentrale Problem der deutschen Gegenwart: die Strukturkrise unseres sozio-ökonomischen Systems“, die eine erfolgreiche Außenpolitik unterminiere, denn sie beschränke die Ressourcen und absorbiere die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger. Dass dieses Argument nicht überzeugt, zeigen die Beispiele Chinas, Frankreichs, Großbritanniens und Russlands, die alle ähnliche oder noch schwierigere Probleme zu bewältigen haben, ohne dass dies ihre Fähigkeit eingeschränkt hätte, über den Sicherheitsrat eine gewichtige Rolle zu spielen. Wenn sozio-ökonomische Probleme einen ständigen Sitz verhindern sollen, wie lässt sich dann die wünschenswerte Mitgliedschaft Indiens oder eines Landes Afrikas oder Lateinamerikas begründen?

Im Übrigen haben die zweifellos sehr ernsten inneren Strukturprobleme beispielweise Frankreichs und Deutschlands – als ständiges und derzeitig nicht ständiges Mitglied des Sicherheitsrats – beide nicht daran gehindert, im Sicherheitsrat eine Politik gegenüber Irak zu verfolgen, die von 80% der UN-Mitglieder als effektiv und sogar richtig angesehen wurde, auch wenn diese Politik von den restlichen Regierungen und Teilen der deutschen Innenpolitik kritisiert worden ist. Deshalb wird auch das Argument, innere Reformpolitik und eine Rolle im Sicherheitsrat schlössen einander aus, durch die Realität, nämlich die Politik der Sicherheitsratsmitglieder, widerlegt. Dies gilt auch für Deutschland, dessen sozioökonomische Struktur trotz vieler noch zu lösender Probleme dank der Agenda 2010 und wachsender Einsicht der gesellschaftlichen Akteure sich zu ändern beginnt.

Die in Deutschland angeblich wachsende Diskrepanz zwischen Ressourcen und Zielen führe zu „unkooperativem Verhalten“, schaffe gar die „Versuchung rücksichtsloser Durchsetzungsstrategien“, die durch eine Rolle im Sicherheitsrat nur verstärkt würden. Als Belege für diese These werden u.a. die deutsche Politik zur EU-Osterweiterung und zur türkischen Mitgliedschaft in der EU angeführt. Genau diese Fälle würden jedoch von der Mehrheit der Beobachter als Beweis des Gegenteils gesehen, nämlich als Manifestation einer kooperativen Politik gegenüber diesen Staaten im Interesse einer langfristigen Strategie zugunsten Europas und des Westens.

Der Rat, Berlin solle „in guter Bonner Tradition eher im Hintergrund bleiben“ und sich „weniger mit eigenen Konzeptionen exponieren“ statt zu vermitteln, offenbart eine völlige Verkennung der gewandelten Lage der heutigen Weltpolitik. Deutschland als der Welt zweites Exportland, drittgrößte Volkswirtschaft und offene Demokratie kann es sich nicht erlauben, die Mitgestaltung der internationalen Umwelt, deren Krisen Deutschland besonders treffen würden, anderen zu überlassen. Einer solchen Politik würde im Hinblick auf die deutschen Beiträge zu den Vereinten Nationen innerhalb Deutschlands längerfristig die demokratische Legitimation fehlen. Auch würde dies von der überwiegenden Mehrheit der UN-Mitglieder angesichts der deutschen Ressourcen zugunsten der Vereinten Nationen und Entwicklungshilfe sowie ihrer eigenen Erfahrungen mit der deutschen Außenpolitik mittlerweile als Ausweichen vor der dem Lande zugewachsenen Verantwortung gesehen.

Zwar bleibt es ein richtiges und den Traditionen deutscher Außenpolitik entsprechendes Ziel, eine Diplomatie der Vermittlung zu betreiben, aber diese lässt sich ungleich besser innerhalb als außerhalb des Sicherheitsrats ausüben.

Ein europäischer Sitz?

Die Einheit Europas und eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik sind bis heute erklärtes Ziel aller deutschen Regierungen geblieben. Es entsprach der Logik dieser Position, einen europäischen ständigen Sitz als Endziel zu postulieren, als der Wunsch nach einem nationalen Sitz zum ersten Mal vom deutschen Außenminister Klaus Kinkel zum Ausdruck gebracht wurde. Dabei ist es bis zur Koalitionsvereinbarung der rot-grünen Regierung geblieben.

Kritiker des deutschen Wunsches nach einem ständigen Sitz haben die Unvereinbarkeit eines nationalen Anspruchs mit dem Ziel eines europäischen Sitzes ins Feld geführt. Die internationalen Entwicklungen der letzten Zeit haben allerdings die ohnehin nicht sonderlich starke Überzeugungskraft dieses Gegenarguments weiter geschwächt.

Hier wäre erstens auf das Grundsatzproblem zu verweisen, dass die Charta der Vereinten Nationen nur Staaten und keine Staatenverbünde als Mitglieder kennt. Die natürlich theoretisch mögliche Änderung der Charta würde wahrscheinlich daran scheitern, dass angesichts der Vielzahl der in der Welt bestehenden, teilweise sehr unterschiedlichen Staatenverbünde die Mitglieder diese Schleuse zur Mitgliedschaft und zu Mehrfachmitgliedschaften nicht öffnen wollen.

Wichtiger ist jedoch, dass ungeachtet der Lösung dieser formalen Frage ein europäischer Sitz eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik voraussetzt, mit der die Union als Ganzes auftritt und sich mit allen Konsequenzen wie ein Nationalstaat engagiert. Eine solche Außen- und Sicherheitspolitik gibt es trotz der in den letzten Verträgen und im Verfassungsentwurf erreichten Ansätze jedoch noch nicht. Bei der derzeitigen Lage würde ein EU-Vertreter im Sicherheitsrat bei vielen zentralen Fragen keine Weisungen bekommen und wäre handlungsunfähig.

Damit verbunden ist der in den letzten Jahren eher stärker gewordene Wille Frankreichs und Großbritanniens, nicht auf einen nationalen Sitz und dieses Instrument weltpolitischer Mitgestaltung zu verzichten. Im Übrigen würde ein europäischer Sitz im Sicherheitsrat die Aufgabe der nationalen Mitgliedschaften Frankreichs und Großbritanniens erfordern, da sie sonst zwei Mal vertreten wären.

Vor einigen Jahren machte das Argument eines europäischen Sitzes unter Verweis auf die mit großen Hoffnungen verbundene Erarbeitung einer europäischen Verfassung einen gewissen Sinn. Mit den nach schwierigen Verhandlungen über den Verfassungsentwurf erreichten Ergebnissen sind diese Hoffnungen jedoch enttäuscht worden. Trotz der im Titel V des Entwurfs erreichten Fortschritte wird die vor allem von Großbritannien durchgesetzte Einstimmigkeit nur gelegentlich und meist bei weniger wichtigen Fragen eine gemeinsame Außenpolitik möglich machen. Darüber hinaus könnten wegen der Schwierigkeiten einer Ratifikation durch alle 25 Staaten selbst die bescheidenen Fortschritte durch eine Ablehnung zunichte gemacht werden.

Forderungen an die deutsche Politik

Es macht deshalb Sinn, am Fernziel eines europäischen Sitzes festzuhalten, jedoch im Hinblick auf die derzeitige Lage die Einrichtung eines deutschen Sitzes zu betreiben. Es entspräche auch den Interessen der EU, wenn als Resultat der Reform der Vereinten Nationen die Union durch drei Mitglieder im Sicherheitsrat vertreten wäre. Daran knüpft sich allerdings ein Erfordernis deutscher Politik, nämlich dem deutschen Sitz durch enge Abstimmung mit den EU-Partnern eine europäische Ausrichtung zu geben und Briten und Franzosen, die in der Vergangenheit ihren Sitz eher als eine nationale „chasse gardée“ handhabten, dazu zu bewegen, diesem Beispiel zu folgen.

Eine europäische Ausrichtung des deutschen ständigen Sitzes würde die Unterstützung anderer EU-Mitglieder erleichtern und entspräche im Übrigen den Forderungen des Vertrags von Nizza und des Verfassungsentwurfs. Deutschland kann hierbei an die Praxis der Information und Konsultation der EU-Mitglieder während seiner Sicherheitsratsmitgliedschaft von 1995/96 und seiner derzeitigen Mitgliedschaft anknüpfen.

Die internationale Gesamtsituation ist erneut für einen positiven Ausgang deutscher Bemühungen um einen ständigen Sitz günstig. Es ist nicht nur der schon erwähnte internationale Druck auf eine Reform und die vom Generalsekretär eingesetzte Kommission, die hierfür sprechen, sondern 2005 werden sich die UN-Mitgliedsregierungen treffen, um die Umsetzung der anlässlich des Millenniumgipfels formulierten Ziele für die Weltorganisation zu überprüfen. Alles spricht dafür, dass in diesem Kontext auch die Reform der Vereinten Nationen behandelt werden muss.

Ebenfalls haben sich die innenpolitischen Voraussetzungen und die deutsche Politik zum Positiven gewendet. Im Gegensatz zur Regierung von Helmut Kohl, als der damalige Bundeskanzler die Bemühungen des Außenministers und seiner Diplomaten um einen deutschen Sitz konterkarierte und sogar öffentlich desavouierte, ziehen die jetzigen Regierungsmitglieder am gleichen Strang und werden hierbei, wie es bei einer nationalen Frage von so grundlegender Bedeutung geboten ist, von der Opposition unterstützt.

Die jetzige Regierung teilt nicht die Auffassung des damaligen Bundeskanzlers, dass der ständige Sitz Deutschland gleichsam in den Schoß fallen werde und man nur zu warten brauche, bis man gefragt würde. Die jetzige Regierung geht zu Recht davon aus, dass nur eine aktive deutsche Politik diese Generationen bindende Entscheidung zugunsten Deutschlands und Europas zuwege bringen kann. Deshalb setzt sie sich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln dafür ein und schließt Ersatzlösungen9 aus.

Ein ständiger deutscher Sitz wird mittlerweile von einer sehr großen Mehrheit der UN-Mitglieder unterstützt. Die Nachkriegsaußenpolitik der Bundesrepublik, ihre Politik des Ausgleichs und der Versöhnung mit ehemaligen Gegnern, ihre Politik zur europäischen Integration und zur Ost-West-Détente, ihre Tradition des Multilateralismus, ihr verantwortlicher Umgang mit der zugewachsenen Macht, ihre herausragenden Beiträge zur Entwicklungshilfe sowie ihre materiellen und politischen Beiträge zu den Aktivitäten der Vereinten Nationen haben Deutschland so sehr zu einem „natürlichen“ Kandidaten für einen ständigen Sitz gemacht, dass ein Verzicht auf völliges Unverständnis stoßen und als Verweigerung der auf Deutschland zugekommenen Verantwortung gesehen würde.

Auch die jetzigen ständigen Mitglieder, deren Zustimmung unentbehrlich ist, unterstützen einen deutschen Sitz. Allerdings bleibt die Frage offen, ob die neuen Mitglieder ebenfalls ein uneingeschränktes Vetorecht erhalten (was die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrats vermindern würde), ob sie nicht mit dem Vetorecht ausgestattet würden oder ob das Vetorecht der jetzigen Mitglieder durch das Erfordernis eines doppelten Vetos eingeschränkt würde. In dieser Hinsicht ist Flexibilität und Pragmatismus geboten. Ein ständiger deutscher Sitz sollte nicht an der Forderung nach einem uneingeschränkten Veto scheitern. In jedem Fall verdient jedoch der anlässlich der 54. Generalversammlung von Außenminister Joschka Fischer unterbreitete Vorschlag eine eingehende Prüfung, für ständige Mitglieder, die von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, eine Pflicht zur Begründung vor der Generalversammlung einzuführen.

Eine deutsche Mitgliedschaft in der Institution des Sicherheitsrats allein genügt nicht. Sie bedarf vielmehr der Umsetzung durch Gesellschaft und Politik Deutschlands. Mit der Übernahme eines ständigen Sitzes würde die Bundesrepublik im Verbund mit anderen Staaten zu einer der Garantiemächte für die Gewährleistung des Weltfriedens und die Durchsetzung des Völkerrechts einschließlich der Menschenrechte werden. Aus dieser Rolle entstehen Verantwortung und Folgekosten, zu deren Übernahme das Gemeinwesen bereit sein muss. Dazu gehören nicht nur die höheren finanziellen Aufwendungen eines ständigen Sitzes, sondern vor allem die Mitgestaltung von umstrittenen Entwicklungen, das Mittragen unpopulärer Entscheidungen und möglicherweise negativer Reaktionen gegen den deutschen Staat und seine Bürger. Zu den Folgen gehört auch die Notwendigkeit zum Denken in weltpolitischen Kategorien, da Krisen an jedem Ort zu globalen (und gegen Deutschland und seine Partner gerichtete) Bedrohungen werden können, sowie die Bereitschaft zum Einsatz von materiellen Ressourcen und militärischen Streitkräften, um die Beschlüsse des Sicherheitsrats umzusetzen.

Auf die Bundesregierung und die Oppositionsparteien kommt in dieser Generationenfrage eine große Verantwortung zu. Anwartschaft und Ausübung eines ständigen deutschen Sitzes im UN-Sicherheitsrat sollten insofern das außenpolitische Gegenstück zur Agenda 2010 werden, als sie wie diese Innovationskräfte und gesellschaftliche Ressourcen für ein großes Ziel freisetzen sollen: als hoch entwickelte, wohlhabende und dem Multilateralismus verpflichtete Demokratie innerhalb des Sicherheitsrats ihre Fähigkeiten dafür einzusetzen, dass die Vereinten Nationen in einer instabilen Welt zum erfolgreichen Instrument globaler Ordnungspolitik werden.

Anmerkungen

1  Vgl. die Rede vor der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Berlin, in: Bulletin (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin), Nr. 25-3, <http://www.bundesregierung.de/Anlage629818/Nr.+25-3.pdf&gt;
2  Vgl. Angela Merkel in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.5.2004 und Wolfgang Gerhardt in Welt am Sonntag, 23.5.2004.
3  Diese Entwicklung ist umfassend dargestellt bei Lisette Andreae, Reform in der Warteschleife. Ein deutscher Sitz im UN-Sicherheitsrat?, Schriften des Forschungsinstituts der DGAP, München 2002, und aus der Sicht eines beteiligten Diplomaten bei Gunter Pleuger, Die Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, in: Sabine von Schorlemer (Hrsg)., Praxishandbuch UNO, Heidelberg 2003, S.683–694.
4  Das Europa-Archiv (EA) organisierte 1993 die erste öffentliche Diskussion über das Für und Wider eines ständigen deutschen Sitzes: Karl Kaiser, Die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat. Ein berechtigtes Ziel der neuen deutschen Außenpolitik, und Wolfgang Wagner, Der ständige Sitz im Sicherheitsrat: Wer braucht wen: die Deutschen diesen Sitz? Der Sicherheitsrat die Deutschen? in: EA, 19/1993, S. 533–552.
5  The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa 2001.
6  Vgl. Michael Inacker, Italiens verdeckte Eifersucht. Blockade gegen den deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat, in: Internationale Politik (IP), 2/1997, S. 59–60.
7  Vgl. Stefan Kornelius, Deutschlands Platz, in: Süddeutsche Zeitung, 25.5.2004.
8  So Reinhard Wolf und Gunter Hellmann, Neuer Spielplan auf der Weltbühne. Der Auftritt muss abgesagt werden,  S. 71–78. Auf diesen Beitrag wird im Folgenden Bezug genommen.
9  Beispielsweise der von Volker Rittberger gemachte Vorschlag, die fortdauernde Wiederwahl nicht ständiger Mitglieder durch eine Charta-Änderung zu ermöglichen und damit für Deutschland (und andere) quasi-ständige Sitze zu schaffen. Ein solcher Ansatz würde jedoch keine Kontinuität und verlässlichen Strukturen schaffen, da alle zwei Jahre der Streit um die Wiederwahl unvermeidlich wäre und je nach politischer Konstellation unvorhersehbare Ergebnisse zeitigen würde. Vgl. Rittberger, A New Role for Germany on the UN Security Council, American Institute for Contemporary German Studies, <http://www.aicgs.org/c/rittberger.shtml&gt;.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekts.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2004, S. 61‑69

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