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01. Juni 2004

Der NATO-Gipfel von Istanbul

Projektion von Stabilität als Herausforderung für das Bündnis

Am Vorabend des Gipfeltreffens der NATO in Istanbul beschreibt ihr seit einem halben Jahr amtierender Generalsekretär die Situation der Allianz. Für ihn besteht die Hauptaufgabe des Bündnisses in der „Projektion von Stabilität“. Durch den Aufbau von Sicherheitsbeziehungen mit immer mehr Partnerstaaten, durch militärische Operationen, wo auch immer sie notwendig sein sollten, und durch die Modernisierung der Verfahren zur Streitkräfteplanung werde die NATO Stabilität schaffen. Sie werde damit ihren Anspruch, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen, untermauern.

Projektion von Stabilität als Herausforderung für das
Bündnis

In wenigen Tagen findet in Istanbul der NATO-Gipfel statt. Er wird am
Ende eines Monats intensiver Spitzendiplomatie stehen, darunter das Treffen der
G-8, der USA-EU Gipfel und die Gedenkfeiern zur Landung in der Normandie. Die
Erfolge unseres Gipfels werden dadurch nicht geschmälert, doch sie werden Teil

eines größeren Ganen. Und das ist gut so. Denn im heutigen Sicherheitsumfeld
handelt die NATO nun einmal gemeinsam mit Partnerstaaten und anderen
internationalen Organisationen. Nur gemeinsam lässt sich die Aufgabe
bewältigen, der sich alle großen Institutionen verschrieben haben – die
Projektion von Stabilität.

Die
Projektion von Stabilität ist inzwischen zur Grundvoraussetzung
transatlantischer Sicherheit geworden. Natürlich bleibt die kollektive
Verteidigung unseres Bündnisterritoriums eine Kernaufgabe der NATO. Aber wir können
unsere Sicherheit heutzutage nicht mehr gewährleisten, wenn wir uns nicht den
Risiken und Bedrohungen widmen, die sich fern unserer Heimatländer abzeichnen.
Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und „failed states“
sind Herausforderungen, denen mit einem rein „territorialen“ Verständnis von
Sicherheit nicht beizukommen ist. Entweder gehen wir diese Probleme dort an, wo
sie entstehen, oder diese Probleme kommen früher oder später zu uns.

Der
Gipfel von Istanbul wird zeigen, wie die NATO Stabilität durch aktives Handeln
schafft:

– durch den Aufbau von
Sicherheitsbeziehungen mit immer mehr Partnerstaaten, vom Balkan über den
Kaukasus bis nach Zentralasien, zum Mittelmeer und darüber hinaus zur
arabischen Welt;

– durch militärische Operationen,
wo auch immer sie notwendig sind, von Marinepatrouillen im Mittelmeer über
friedenserhaltende Operationen auf dem Balkan zum Hindukusch;

– und durch die Modernisierung
unserer Verfahren zur Streitkräfteplanung und zum Streitkräfteaufwuchs.

Meine
erste Priorität – die erste Priorität der NATO – ist Afghanistan. Die Bedeutung
Afghanistans für unsere Sicherheit ist klar. Das Land mag weit entfernt sein,
doch sein Erfolg betrifft uns unmittelbar. Ein Scheitern des politischen
Prozesses dort würde das Land wieder zurückwerfen auf den Status eines „failed
state“, der einen Nährboden für Terrorismus und andere Gefahren bietet. Aus
diesem Grund haben sich die Regierungen der NATO-Staaten der Stabilisierung Afghanistans
verschrieben. Seit die NATO vor knapp einem Jahr den Oberbefehl über die
Internationale Schutztruppe (ISAF) übernahm, hat sich die Lage dramatisch
verbessert. Durch die Patrouillen der ISAF ist Kabul wesentlich sicherer
geworden. Wir helfen bei der Sicherung schwerer Waffen. Die NATO hat inzwischen
damit begonnen, die Präsenz der ISAF über die Hauptstadt hinaus auszuweiten.
Sie hilft bei der Wiedereingliederung afghanischer Kämpfer ins Zivilleben.
Kurzum, die Präsenz der NATO zeigt sichtbare Wirkung.

Aber
wir müssen noch mehr tun. Gemeinsam mit den 26 Staats- und Regierungschefs der
NATO möchte ich auf dem Istanbuler Gipfel erklären können, dass das Bündnis
seine Präsenz in Afghanistan weiter ausbaut, nämlich durch die Erhöhung der
Anzahl der so genannten Provincial Reconstruction Teams (PRTs). Deutschland hat
hier mit dem PRT in Kundus einen wichtigen Schritt unternommen, dem andere
Nationen folgen sollten. Ebenso möchte ich, dass die NATO eine Rolle bei der
Unterstützung der Wahlen übernimmt, die die Vereinten Nationen im September
organisieren. Der Gipfel sollte in der Lage sein, Präsident Hamid Karzai
und dem
afghanischen Volk zu sagen, dass die NATO ihnen beim Weg in eine bessere
Zukunft hilft.

Die
Fähigkeit der NATO, friedenserhaltende Operationen wie in Afghanistan oder
maritime Antiterroroperationen wie im Mittelmeer durchführen zu können, macht
die Allianz so einzigartig. Aber Operationen sind nur ein politisches Werkzeug.
Ein anderes sind die Partnerschaftsbeziehungen der NATO. Diese Partnerschaften
haben sich in den vergangenen Jahren zu einem strategischen Instrument ersten
Ranges entwickelt. Unsere Partner entsenden Truppen für unsere
friedenserhaltenden Operationen in Bosnien, in Kosovo und in Afghanistan. Dies
zeigt, dass die Projektion von Stabilität immer mehr als euro-atlantische
Gemeinschaftsaufgabe verstanden wird. Und sie legt nahe, das Instrument der
Partnerschaften künftig noch besser zu nutzen.

Entsprechend
dieser Logik wird der Istanbuler Gipfel unsere Partnerschaften noch weiter
voranbringen. Wir werden uns noch stärker auf die Reform des Sicherheitssektors
konzentrieren und so einige unserer Partner bei ihrer demokratischen
Umgestaltung noch zielgerichteter unterstützen. Wir werden die Zusammenarbeit
mit Partnern aus dem Kaukasus und Zentralasien verstärken – Regionen, die für
unsere Sicherheit immer wichtiger werden. Und wir werden die Zusammenarbeit bei
der Terrorismusbekämpfung weiter vertiefen – weil der Terrorismus als
transnationales Phänomen nur durch die Kooperation möglichst vieler Staaten
erfolgreich bekämpft werden kann.

Bei
meinem Besuch in Russland im Frühjahr habe ich Präsident Wladimir Putin eingeladen, am Gipfel in
Istanbul teilzunehmen. Denn die Beziehungen zwischen der NATO und Russland sind
eine wichtige Brücke der Sicherheit in Europa. Aber auch unabhängig von der
Frage, ob Präsident Putin nach Istanbul kommen kann, bleiben die
NATO-Russland-Beziehungen eine Erfolgsgeschichte. Unsere Zusammenarbeit reicht
inzwischen von der Terrorbekämpfung bis zur Raketenabwehr und von der
Seenotrettung bis zur zivilen Notfallplanung. Diese neue Dynamik in unseren
Beziehungen wird auf dem Istanbuler Gipfel seine Würdigung finden – mit dem
klaren Bekenntnis, diesen Weg weiter zu gehen.

Die
Ukraine ist ein weiterer Partner von großer geopolitischer Bedeutung. Die NATO
unterstützt den Wunsch der Ukraine nach Integration in euro-atlantische
Strukturen und bemüht sich, diese Integration nach Kräften zu fördern. So
arbeitet die NATO beispielsweise im Bereich der Verteidigungsreform mit keinem
anderen Land enger zusammen. Der Istanbuler Gipfel wird die Bereitschaft der
Allianz, diese Beziehungen weiter auszubauen, unterstreichen.

Problemfall Nahost

Der Gipfel von Istanbul wird jedoch nicht nur die Beziehungen der NATO
zu ihren traditionellen Partnern – von Schweden bis Finnland, und von Russland
bis Turkmenistan – vertiefen. Auch zu den Staaten der Mittelmeer-Region und des
so genannten „Greater Middle East“ wollen wir neue Beziehungen aufbauen.
Niemand kann heute ernsthaft die Bedeutung dieser Regionen in Frage stellen.
Demographie, Wirtschaft und transnationale Bedrohungen schaffen eine immer
dichtere wechselseitige Abhängigkeit. Aus diesem Grund haben wir damit begonnen,
Möglichkeiten neuer Formen der Zusammenarbeit auszuloten. Dabei messen wir der
Sichtweise dieser Länder große Bedeutung bei. Denn wir wollen sicher gehen,
dass die Kooperation zu beiderseitigem Vorteil gereicht. Wir möchten, dass die
Länder aus diesen Regionen sich als gleichberechtigte Partner in einem
gemeinsamen Projekt begreifen.

Wir
wissen, dass dieses Vorhaben anspruchsvoll ist. Wir sind uns im Klaren darüber,
dass einige Beobachter die Meinung vertreten, es sei angesichts der
gegenwärtigen Situation im Nahen Osten ein ungünstiger Zeitpunkt für neue
Ansätze. Ich bin dagegen der Auffassung, dass wir keine Zeit verlieren dürfen.
So sehen es auch die G-8 und die Europäische Union, die ebenfalls neue
Initiativen entwickeln. Gelingt es uns, diese Initiativen so aufeinander
abzustimmen, dass sie sich wechselseitig ergänzen, so hätten wir einen großen
Schritt nach vorn gemacht. Ich bin der Auffassung, dass die Zeit gekommen ist,
neue Brücken zu diesen Regionen zu schlagen. Und welche Stadt könnte für ein
solches politisches Signal besser geeignet sein als Istanbul – eine Stadt, die
ja selbst eine Brücke zwischen zwei Kontinenten darstellt?

An
dieser Stelle ein Wort zu Irak. Der Istanbuler NATO-Gipfel wird nur zwei Tage
vor der Machtübergabe an eine Interimsregierung in Bagdad stattfinden. Das
heißt, dass Irak die internationale Aufmerksamkeit in seinen Bann ziehen wird.
Es bedeutet zugleich, dass Irak unweigerlich auf der Istanbuler Tagesordnung
stehen wird. Es macht gegenwärtig jedoch keinen Sinn, darüber zu spekulieren,
wie sich die Verhältnisse Ende Juni darstellen werden. Dafür gibt es zu viele
Variablen, so etwa die Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats, die Lage in Irak
selbst, und natürlich die Natur der künftigen irakischen Übergangsregierung.
Viele unserer NATO-Verbündeten haben Streitkräfte in Irak, und natürlich wird
die NATO auch weiterhin die von Polen geführte multinationale Division dort unterstützen.
Aber heute über irgendwelche weitergehenden Entscheidungen zu spekulieren, wäre
unverantwortlich.

NATO und EU

Der Gipfel von Istanbul wird auch den strategischen Wert einer engen
Partnerschaft zwischen der NATO und der Europäischen Union unterstreichen. Der
Wandel der NATO einerseits und die Entwicklung der EU zu einem sicherheitspolitischen
Akteur andererseits machen den Aufbau engerer Beziehungen zwischen unseren Institutionen
zu einer Notwendigkeit. Es bestehen nicht die geringsten Zweifel an der
strategischen Bedeutung solcher Beziehungen. Denn nur gemeinsam verfügen NATO
und EU über das volle Spektrum der Mittel zur Sicherheitsgestaltung im 21.
Jahrhundert. Und nur gemeinsam können NATO und EU das erreichen, was wir seit
Jahrzehnten erreichen wollen: eine faire transatlantische Lastenteilung in der
Sicherheitspolitik.

Ich
gehe davon aus, dass wir in Istanbul beschließen werden, unsere Operation in
Bosnien – SFOR – am Ende des Jahres erfolgreich abzuschließen. Die EU hat
bereits ihre Bereitschaft erklärt, eine eigene Operation in Bosnien
durchzuführen – in enger Abstimmung und mit voller Unterstützung der NATO auf
der Basis des „Berlin-plus“‑Mechanismus. Diese Operation wird ein
weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Partnerschaft sein, die von Pragmatismus,
enger Konsultation und Transparenz gekennzeichnet ist. Und sie wird dazu
beitragen, die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der EU auch in anderen
wichtigen Bereichen voranzubringen, zum Beispiel bei der Terrorismusbekämpfung,
der Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, und nicht
zuletzt der Stärkung unserer militärischen Fähigkeiten.

Die
bevorstehende Übernahme der Bosnien-Mission durch die Europäische Union hat
manche Beobachter zu dem Schluss verleitet, die NATO sei dabei, Bosnien und
Herzegowina im Stich zu lassen. Dieser Eindruck wäre falsch. Auch nach der
Übertragung der sicherheitspolitischen Verantwortlichkeiten auf die EU wird es
eine NATO-Präsenz in Bosnien geben. Zum Beispiel werden wir dem Land auch
künftig bei seiner Verteidigungsreform helfen. Denn unser Ziel bleibt es,
Bosnien und Herzegowina sowie Serbien und Montenegro zu gegebener Zeit in das
Programm der „Partnerschaft für den Frieden“ aufzunehmen.

Auch
unsere Verpflichtung gegenüber Kosovo bleibt unerschütterlich. Das kurze
Aufflammen von Gewalt im vergangenen März hat unsere Entschlossenheit, dieser
Herausforderung zu begegnen, nicht vermindert – im Gegenteil. Wir waren in der Lage,
durch rasche Verstärkungen die Unruhen schnell wieder zu beenden. Und wir sind
mehr denn je in den politischen Prozess involviert.

Der
Istanbuler Gipfel wird schließlich auch den Beweis erbringen, dass die
militärische Transformation der NATO Ergebnisse gebracht hat. Die NATO Response
Force hat die Phase vorläufiger Einsatzfähigkeit erreicht. Mehrere Initiativen,
die auf dem Prager Gipfel vom November 2002 begonnen wurden, werden in Istanbul
abgeschlossen werden, darunter solche zur Verbesserung der Fähigkeiten beim
Luft- und Seetransport, bei der Raketenabwehr sowie ein Paket von Maßnahmen zur
Terrorbekämpfung. Darüber hinaus werden wir die volle operative
Einsatzbereitschaft unseres Bataillons zur chemischen, biologischen,
radiologischen und nuklearen Verteidigung erklären.

Die
„Transformation“ des Atlantischen Bündnisses bedeutet jedoch weit mehr als
neues militärisches Gerät. Sie bedeutet auch die Verbesserung der
Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte. Die NATO ist in den vergangenen Jahren
zur weltweit wirkungsvollsten Organisation zur Durchführung groß angelegter
friedenserhaltender Operationen geworden. Der Ruf nach der NATO aus gefährdeten
Regionen wird in den kommenden Jahren eher noch lauter werden. Diese an uns
herangetragenen Wünsche können wir jedoch nur erfüllen, wenn wir über die geeigneten
Streitkräfte verfügen, um unsere politischen Entscheidungen auch militärisch
umzusetzen.

Konkret
bedeutet dies neue Verfahren für Streitkräfteplanung und Streitkräfteaufwuchs,
die den neuen Gegebenheiten angepasst sind. Denn die Projektion von Stabilität
in weit entfernten Regionen wie etwa Afghanistan verlangt nun einmal nach
anderen Ansätzen als die Territorialverteidigung zu Hause. In Istanbul werden
wir deshalb mit einer umfassenden Reform dieser Verfahren beginnen – und
dadurch sicherstellen, dass die politischen Anforderungen und unsere
militärischen Mittel miteinander in Einklang bleiben.

Der
Gipfel von Istanbul wird den Anspruch der NATO, den neuen Herausforderungen des
21. Jahrhunderts zu begegnen, durch eine Vielzahl weit reichender
Entscheidungen untermauern. Vor allem aber wird Istanbul in Erinnerung rufen,
dass die neue NATO ein Bündnis ist, das handelt – vom Balkan bis zum
Hindukusch. Denn nur durch aktives Handeln – die Projektion von Stabilität –
lässt sich Sicherheit im 21. Jahrhundert gewährleisten.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 13-17

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