Der NATO-Gipfel von Istanbul
Projektion von Stabilität als Herausforderung für das Bündnis
Am Vorabend des Gipfeltreffens der NATO in Istanbul beschreibt ihr seit einem halben Jahr amtierender Generalsekretär die Situation der Allianz. Für ihn besteht die Hauptaufgabe des Bündnisses in der „Projektion von Stabilität“. Durch den Aufbau von Sicherheitsbeziehungen mit immer mehr Partnerstaaten, durch militärische Operationen, wo auch immer sie notwendig sein sollten, und durch die Modernisierung der Verfahren zur Streitkräfteplanung werde die NATO Stabilität schaffen. Sie werde damit ihren Anspruch, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen, untermauern.
Projektion von Stabilität als Herausforderung für das Bündnis
In wenigen Tagen findet in Istanbul der NATO-Gipfel statt. Er wird am Ende eines Monats intensiver Spitzendiplomatie stehen, darunter das Treffen der G-8, der USA-EU Gipfel und die Gedenkfeiern zur Landung in der Normandie.
Die Projektion von Stabilität ist inzwischen zur Grundvoraussetzung transatlantischer Sicherheit geworden. Natürlich bleibt die kollektive Verteidigung unseres Bündnisterritoriums eine Kernaufgabe der NATO. Aber wir können unsere Sicherheit heutzutage nicht mehr gewährleisten, wenn wir uns nicht den Risiken und Bedrohungen widmen, die sich fern unserer Heimatländer abzeichnen. Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und „failed states“ sind Herausforderungen, denen mit einem rein „territorialen“ Verständnis von Sicherheit nicht beizukommen ist. Entweder gehen wir diese Probleme dort an, wo sie entstehen, oder diese Probleme kommen früher oder später zu uns.
Der Gipfel von Istanbul wird zeigen, wie die NATO Stabilität durch aktives Handeln schafft:
– durch den Aufbau von Sicherheitsbeziehungen mit immer mehr Partnerstaaten, vom Balkan über den Kaukasus bis nach Zentralasien, zum Mittelmeer und darüber hinaus zur arabischen Welt;
– durch militärische Operationen, wo auch immer sie notwendig sind, von Marinepatrouillen im Mittelmeer über friedenserhaltende Operationen auf dem Balkan zum Hindukusch;
– und durch die Modernisierung unserer Verfahren zur Streitkräfteplanung und zum Streitkräfteaufwuchs.
Meine erste Priorität – die erste Priorität der NATO – ist Afghanistan. Die Bedeutung Afghanistans für unsere Sicherheit ist klar. Das Land mag weit entfernt sein, doch sein Erfolg betrifft uns unmittelbar. Ein Scheitern des politischen Prozesses dort würde das Land wieder zurückwerfen auf den Status eines „failed state“, der einen Nährboden für Terrorismus und andere Gefahren bietet. Aus diesem Grund haben sich die Regierungen der NATO-Staaten der Stabilisierung Afghanistans verschrieben. Seit die NATO vor knapp einem Jahr den Oberbefehl über die Internationale Schutztruppe (ISAF) übernahm, hat sich die Lage dramatisch verbessert. Durch die Patrouillen der ISAF ist Kabul wesentlich sicherer geworden. Wir helfen bei der Sicherung schwerer Waffen. Die NATO hat inzwischen damit begonnen, die Präsenz der ISAF über die Hauptstadt hinaus auszuweiten. Sie hilft bei der Wiedereingliederung afghanischer Kämpfer ins Zivilleben. Kurzum, die Präsenz der NATO zeigt sichtbare Wirkung.
Aber wir müssen noch mehr tun. Gemeinsam mit den 26 Staats- und Regierungschefs der NATO möchte ich auf dem Istanbuler Gipfel erklären können, dass das Bündnis seine Präsenz in Afghanistan weiter ausbaut, nämlich durch die Erhöhung der Anzahl der so genannten Provincial Reconstruction Teams (PRTs). Deutschland hat hier mit dem PRT in Kundus einen wichtigen Schritt unternommen, dem andere Nationen folgen sollten. Ebenso möchte ich, dass die NATO eine Rolle bei der Unterstützung der Wahlen übernimmt, die die Vereinten Nationen im September organisieren. Der Gipfel sollte in der Lage sein, Präsident Hamid Karzai und dem afghanischen Volk zu sagen, dass die NATO ihnen beim Weg in eine bessere Zukunft hilft.
Die Fähigkeit der NATO, friedenserhaltende Operationen wie in Afghanistan oder maritime Antiterroroperationen wie im Mittelmeer durchführen zu können, macht die Allianz so einzigartig. Aber Operationen sind nur ein politisches Werkzeug. Ein anderes sind die Partnerschaftsbeziehungen der NATO. Diese Partnerschaften haben sich in den vergangenen Jahren zu einem strategischen Instrument ersten Ranges entwickelt. Unsere Partner entsenden Truppen für unsere friedenserhaltenden Operationen in Bosnien, in Kosovo und in Afghanistan. Dies zeigt, dass die Projektion von Stabilität immer mehr als euro-atlantische Gemeinschaftsaufgabe verstanden wird. Und sie legt nahe, das Instrument der Partnerschaften künftig noch besser zu nutzen.
Entsprechend dieser Logik wird der Istanbuler Gipfel unsere Partnerschaften noch weiter voranbringen. Wir werden uns noch stärker auf die Reform des Sicherheitssektors konzentrieren und so einige unserer Partner bei ihrer demokratischen Umgestaltung noch zielgerichteter unterstützen. Wir werden die Zusammenarbeit mit Partnern aus dem Kaukasus und Zentralasien verstärken – Regionen, die für unsere Sicherheit immer wichtiger werden. Und wir werden die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung weiter vertiefen – weil der Terrorismus als transnationales Phänomen nur durch die Kooperation möglichst vieler Staaten erfolgreich bekämpft werden kann.
Bei meinem Besuch in Russland im Frühjahr habe ich Präsident Wladimir Putin eingeladen, am Gipfel in Istanbul teilzunehmen. Denn die Beziehungen zwischen der NATO und Russland sind eine wichtige Brücke der Sicherheit in Europa. Aber auch unabhängig von der Frage, ob Präsident Putin nach Istanbul kommen kann, bleiben die NATO-Russland-Beziehungen eine Erfolgsgeschichte. Unsere Zusammenarbeit reicht inzwischen von der Terrorbekämpfung bis zur Raketenabwehr und von der Seenotrettung bis zur zivilen Notfallplanung. Diese neue Dynamik in unseren Beziehungen wird auf dem Istanbuler Gipfel seine Würdigung finden – mit dem klaren Bekenntnis, diesen Weg weiter zu gehen.
Die Ukraine ist ein weiterer Partner von großer geopolitischer Bedeutung. Die NATO unterstützt den Wunsch der Ukraine nach Integration in euro-atlantische Strukturen und bemüht sich, diese Integration nach Kräften zu fördern. So arbeitet die NATO beispielsweise im Bereich der Verteidigungsreform mit keinem anderen Land enger zusammen. Der Istanbuler Gipfel wird die Bereitschaft der Allianz, diese Beziehungen weiter auszubauen, unterstreichen.
Problemfall Nahost
Der Gipfel von Istanbul wird jedoch nicht nur die Beziehungen der NATO zu ihren traditionellen Partnern – von Schweden bis Finnland, und von Russland bis Turkmenistan – vertiefen. Auch zu den Staaten der Mittelmeer-Region und des so genannten „Greater Middle East“ wollen wir neue Beziehungen aufbauen. Niemand kann heute ernsthaft die Bedeutung dieser Regionen in Frage stellen. Demographie, Wirtschaft und transnationale Bedrohungen schaffen eine immer dichtere wechselseitige Abhängigkeit. Aus diesem Grund haben wir damit begonnen, Möglichkeiten neuer Formen der Zusammenarbeit auszuloten. Dabei messen wir der Sichtweise dieser Länder große Bedeutung bei. Denn wir wollen sicher gehen, dass die Kooperation zu beiderseitigem Vorteil gereicht. Wir möchten, dass die Länder aus diesen Regionen sich als gleichberechtigte Partner in einem gemeinsamen Projekt begreifen.
Wir wissen, dass dieses Vorhaben anspruchsvoll ist. Wir sind uns im Klaren darüber, dass einige Beobachter die Meinung vertreten, es sei angesichts der gegenwärtigen Situation im Nahen Osten ein ungünstiger Zeitpunkt für neue Ansätze. Ich bin dagegen der Auffassung, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. So sehen es auch die G-8 und die Europäische Union, die ebenfalls neue Initiativen entwickeln. Gelingt es uns, diese Initiativen so aufeinander abzustimmen, dass sie sich wechselseitig ergänzen, so hätten wir einen großen Schritt nach vorn gemacht. Ich bin der Auffassung, dass die Zeit gekommen ist, neue Brücken zu diesen Regionen zu schlagen. Und welche Stadt könnte für ein solches politisches Signal besser geeignet sein als Istanbul – eine Stadt, die ja selbst eine Brücke zwischen zwei Kontinenten darstellt?
An dieser Stelle ein Wort zu Irak. Der Istanbuler NATO-Gipfel wird nur zwei Tage vor der Machtübergabe an eine Interimsregierung in Bagdad stattfinden. Das heißt, dass Irak die internationale Aufmerksamkeit in seinen Bann ziehen wird. Es bedeutet zugleich, dass Irak unweigerlich auf der Istanbuler Tagesordnung stehen wird. Es macht gegenwärtig jedoch keinen Sinn, darüber zu spekulieren, wie sich die Verhältnisse Ende Juni darstellen werden. Dafür gibt es zu viele Variablen, so etwa die Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats, die Lage in Irak selbst, und natürlich die Natur der künftigen irakischen Übergangsregierung. Viele unserer NATO-Verbündeten haben Streitkräfte in Irak, und natürlich wird die NATO auch weiterhin die von Polen geführte multinationale Division dort unterstützen. Aber heute über irgendwelche weitergehenden Entscheidungen zu spekulieren, wäre unverantwortlich.
NATO und EU
Der Gipfel von Istanbul wird auch den strategischen Wert einer engen Partnerschaft zwischen der NATO und der Europäischen Union unterstreichen. Der Wandel der NATO einerseits und die Entwicklung der EU zu einem sicherheitspolitischen Akteur andererseits machen den Aufbau engerer Beziehungen zwischen unseren Institutionen zu einer Notwendigkeit. Es bestehen nicht die geringsten Zweifel an der strategischen Bedeutung solcher Beziehungen. Denn nur gemeinsam verfügen NATO und EU über das volle Spektrum der Mittel zur Sicherheitsgestaltung im 21. Jahrhundert. Und nur gemeinsam können NATO und EU das erreichen, was wir seit Jahrzehnten erreichen wollen: eine faire transatlantische Lastenteilung in der Sicherheitspolitik.
Ich gehe davon aus, dass wir in Istanbul beschließen werden, unsere Operation in Bosnien – SFOR – am Ende des Jahres erfolgreich abzuschließen. Die EU hat bereits ihre Bereitschaft erklärt, eine eigene Operation in Bosnien durchzuführen – in enger Abstimmung und mit voller Unterstützung der NATO auf der Basis des „Berlin-plus“‑Mechanismus. Diese Operation wird ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Partnerschaft sein, die von Pragmatismus, enger Konsultation und Transparenz gekennzeichnet ist. Und sie wird dazu beitragen, die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der EU auch in anderen wichtigen Bereichen voranzubringen, zum Beispiel bei der Terrorismusbekämpfung, der Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, und nicht zuletzt der Stärkung unserer militärischen Fähigkeiten.
Die bevorstehende Übernahme der Bosnien-Mission durch die Europäische Union hat manche Beobachter zu dem Schluss verleitet, die NATO sei dabei, Bosnien und Herzegowina im Stich zu lassen. Dieser Eindruck wäre falsch. Auch nach der Übertragung der sicherheitspolitischen Verantwortlichkeiten auf die EU wird es eine NATO-Präsenz in Bosnien geben. Zum Beispiel werden wir dem Land auch künftig bei seiner Verteidigungsreform helfen. Denn unser Ziel bleibt es, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien und Montenegro zu gegebener Zeit in das Programm der „Partnerschaft für den Frieden“ aufzunehmen.
Auch unsere Verpflichtung gegenüber Kosovo bleibt unerschütterlich. Das kurze Aufflammen von Gewalt im vergangenen März hat unsere Entschlossenheit, dieser Herausforderung zu begegnen, nicht vermindert – im Gegenteil. Wir waren in der Lage, durch rasche Verstärkungen die Unruhen schnell wieder zu beenden. Und wir sind mehr denn je in den politischen Prozess involviert.
Der Istanbuler Gipfel wird schließlich auch den Beweis erbringen, dass die militärische Transformation der NATO Ergebnisse gebracht hat. Die NATO Response Force hat die Phase vorläufiger Einsatzfähigkeit erreicht. Mehrere Initiativen, die auf dem Prager Gipfel vom November 2002 begonnen wurden, werden in Istanbul abgeschlossen werden, darunter solche zur Verbesserung der Fähigkeiten beim Luft- und Seetransport, bei der Raketenabwehr sowie ein Paket von Maßnahmen zur Terrorbekämpfung. Darüber hinaus werden wir die volle operative Einsatzbereitschaft unseres Bataillons zur chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Verteidigung erklären.
Die „Transformation“ des Atlantischen Bündnisses bedeutet jedoch weit mehr als neues militärisches Gerät. Sie bedeutet auch die Verbesserung der Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte. Die NATO ist in den vergangenen Jahren zur weltweit wirkungsvollsten Organisation zur Durchführung groß angelegter friedenserhaltender Operationen geworden. Der Ruf nach der NATO aus gefährdeten Regionen wird in den kommenden Jahren eher noch lauter werden. Diese an uns herangetragenen Wünsche können wir jedoch nur erfüllen, wenn wir über die geeigneten Streitkräfte verfügen, um unsere politischen Entscheidungen auch militärisch umzusetzen.
Konkret bedeutet dies neue Verfahren für Streitkräfteplanung und Streitkräfteaufwuchs, die den neuen Gegebenheiten angepasst sind. Denn die Projektion von Stabilität in weit entfernten Regionen wie etwa Afghanistan verlangt nun einmal nach anderen Ansätzen als die Territorialverteidigung zu Hause. In Istanbul werden wir deshalb mit einer umfassenden Reform dieser Verfahren beginnen – und dadurch sicherstellen, dass die politischen Anforderungen und unsere militärischen Mittel miteinander in Einklang bleiben.
Der Gipfel von Istanbul wird den Anspruch der NATO, den neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen, durch eine Vielzahl weit reichender Entscheidungen untermauern. Vor allem aber wird Istanbul in Erinnerung rufen, dass die neue NATO ein Bündnis ist, das handelt – vom Balkan bis zum Hindukusch. Denn nur durch aktives Handeln – die Projektion von Stabilität – lässt sich Sicherheit im 21. Jahrhundert gewährleisten.
Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 13-17
Artikel können Sie noch kostenlos lesen.
Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.